Fremde nahe Tradition

Martin Buber bringt uns den Chassidismus und seine Erzähltradition näher

Von Sebastian MuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Musch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rabbi Mordechai sprach: Das Fahren zu den Zaddikim hat viele Gesichter.

Wer könnte uns diese Gesichter besser beschreiben als Martin Buber?

Martin Buber war ein wahrer Tausendsassa, ein, wie man im Englischen sagt, renaissance man. Er  drückte unterschiedlichsten wissenschaftlichen Debatten seinen Stempel auf, mäanderte zwischen den Disziplinen und mit seinen Veröffentlichungen sprengte er alle Fachgrenzen. Dabei immer von der Neugier getrieben, ohne Angst, das Fremde, das Unbekannte, kennenzulernen. Und doch muss, besonders wieder heutzutage, die Frage gestellt werden, wie man sich dem Fremden nähern kann, ohne es vorschnell zu beurteilen, es zu kategorisieren und nicht nur vorgefasste Meinungen bestätigt zu sehen. Wie findet man in fremden Kulturen das, was uns im Innersten berührt? Es scheint, als hätte sich der junge Martin Buber mit diesen Fragen vor mehr als 100 Jahren auf das Studium verschiedenster Weltkulturen gestürzt. Innerhalb weniger Jahre veröffentlichte er seine ersten Zusammenstellungen chassidischer Erzählungen, aber auch Sammlungen chinesischer Geschichten, das finnische Epos Kalevala und mystische Texte aus aller Herren Länder. So konnte er Berührungspunkte aufzeigen, gerade wo man sie nicht vermutet hätte. Doch wie können wir nun das Fremde kennenlernen, ohne uns von Vorurteilen leiten zu lassen? Martin Bubers „Erzählungen der Chassidim“ gibt uns implizit eine Antwort: Durch eine langsame, tastende Lektüre einer uns scheinbar fremden Schreibkultur, durch ein hermeneutisches Lesen.

Als Buber im Jahre 1906 zum ersten Mal Texte der chassidischen Traditionen veröffentlichte, nämlich „Die Geschichten des Rabbi Nachman“, sah er in der chassidischen Orthodoxie ein Instrument der spirituellen Erneuerung des Judentums, welches ihm in seiner westeuropäischen, oftmals säkularen Form blutleer erschien. Doch Buber hatte noch mehr im Sinn: Er wollte nämlich die deutschsprachigen Juden mit dem Chassidismus, dieser im 18. Jahrhundert in Osteuropa von Rabbi Baal Shem Tov begründeten populär-mystischen Bewegung, vertraut machen, und so einer oftmals verdrängten Tradition zu Respekt verhelfen. 

Die deutschen Juden der damaligen Zeit waren oftmals nicht gut auf ihre ostjüdischen Brüder zu sprechen. Diese sogenannten Ostjuden vertraten in ihren Augen ein Judentum, welches man  meinte, hinter sich lassen zu können. Man war verbürgerlicht, vielmals säkularisiert, und stolz, Deutscher zu sein. In diesem Bild störten die orthodoxen Juden aus dem Osten nur, die mit ihrer jiddischen Sprache und ihrer traditionellen Kleidung wie aus der Zeit gefallen schienen. Doch Martin Buber setzte dem ein positives Bild des osteuropäischen Judentums entgegen. Ein Bild, in dem besonders der chassidischen Bewegung eine entscheidende Rolle zukam, und in dem nicht die wirtschaftliche Verarmung und der grassierende Aberglaube betont wurde, sondern eine bunte Erzähltradition, eine Kultur, die auch den deutschen Juden etwas zu bieten hat, nämlich eine lebensbejahende Frömmigkeit.

Buber schien prädestiniert dafür, das deutsche und das osteuropäische Judentum einander näher zu bringen, schließlich kannte er beide Welten. 1878 in Wien in eine aufgeklärte jüdische Familie geboren und bei den Großeltern in Galizien aufgewachsen, kam Buber hier, wenn auch zunächst nur oberflächlich, zum ersten Mal in Kontakt mit der chassidischen Welt. Nachdem Buber während des Studiums in das Deutsche Reich umgesiedelt war, wurde er Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinen Veröffentlichungen chassidischer Erzählungen, seinen zionistischen Debattenbeiträgen und philosophischen Stellungnahmen rasch zu einer herausragenden Persönlichkeit innerhalb des deutschsprachigen Judentums.

Doch bald sollte sich Buber von seinen ersten Versuchen, die Geschichten des Chassidismus einem breiteren Publikum bekannt zu machen, distanzieren. Zu schwülstig, zu neuromantisch die Wortwahl, befanden die Kritiker, und später auch er selber. In den 1920er-Jahren wagte sich Buber erneut an den Stoff und brachte weitere Bände heraus, die er letztendlich im Jahre 1949, nun Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem im neugegründeten Staate Israel, zum mächtigen Band „Die Erzählungen der Chassidim“ zusammenfasste. Diesen immerhin über 800 Seiten starken Band gibt nun der Manesse Verlag in einer schön gestalteten Jubiläumsausgabe, ergänzt um ein gelehrtes Nachwort von Michael Brocke, zum fünfzigsten Todestag Bubers heraus.

Mit diesem, im besten Sinne, Wälzer, gilt es jetzt, die in Deutschland vergessene Welt des Chassidismus neu zu entdecken, das Fremde kennenzulernen und in eine große literarische Tradition einzutauchen. Denn natürlich spielte im Jahre 1949, als Martin Buber zum letzten Mal Hand an seine „Erzählungen der Chassidim“ legte, auch ein anderes Ereignis eine Rolle: Die Vernichtung des europäischen Judentums innerhalb nur weniger Jahre. Durch das Massenmorden in Osteuropa schien der Chassidismus der Vergangenheit anzugehören. Bubers erneute Beschäftigung mit dem Chassidismus ist nicht nur der Aufgabe geschuldet, das Fremde nahezubringen, sondern es ging dabei auch um die konkrete Aufgabe, ein möglicherweise verlorenes Erbe zu bewahren.

Während es kurz nach dem Holocaust so aussah, als ob der Chassidismus für immer ausgelöscht sein könnte, ist heute wieder eine extrem vielgestaltige und schnell wachsende chassidische Gemeinde entstanden. Zumindest in Übersee, weit weg von Deutschland. Während die Renaissance jüdischen Lebens in Europa und besonders in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg, trotz des immer noch grassierenden Antisemitismus, eine Erfolgsgeschichte bleibt, so sind chassidische Gemeinden auf kleine Enklaven in London, Antwerpen und Zürich beschränkt. Ganz anders in den USA und Israel: Hier ist der Chassidismus eine kulturelle Macht, die vielerorts das jüdische Leben entscheidend prägt und mit seiner lebensbejahenden Haltung und seinen fröhlichen, oftmals von Musik untermalten Feiern auch für viele säkulare Juden das freundliche Gesicht der Orthodoxie darstellt. Martin Buber hat vor über 100 Jahren dieser Tradition zu Popularität unter deutschsprachigen, aufgeklärten sogenannten Westjuden verholfen, später diese Tradition und ihre Erzählweise vor dem Untergang gerettet, und heute kommt nun noch, 50 Jahre nach Bubers Tod, die Aufgabe hinzu, dem Leser hierzulande ein beinahe unbekanntes Judentum vertraut zu machen. Nötig ist dies allemal, denn wer außer Israeltouristen und Judaisten ist heute mit dem Chassidismus vertraut, den der Nationalsozialismus in Europa vernichtet hat, und der nun fernab seines Geburtsortes floriert?

Zentral für den Chassidismus sind die Zaddikim, charismatische Rabbiner, um die sich Gemeinden bildeten, welche sich im Laufe der Generationen zu Dynastien entwickelt haben. Diese Zaddikim, ihre Abenteuer (und manche von ihnen erleben wahrlich abenteuerliches!), ihre Weissagungen, ihre Sinnsprüche stehen im Mittelpunkt der chassidischen Erzählungen. Wobei es sich hier nicht nur um Erzählungen im klassischen Sinne handelt, teilweise sind es Anekdoten, Legenden, ja Aphorismen, die die Welt der Chassidim lebendig werden lassen. Auch im scheinbar Banalen den Funken Gottes aufzuspüren, eine Alltagsfrömmigkeit zu leben, dafür sollen die Zaddikim ein Beispiel sein. In Bubers Bearbeitung dieser verschiedenen Gattungen wird daraus, dank der suggestiven Sprache, ein breiter Malstrom, der im Leser beinahe eine spirituelle Versunkenheit evoziert, wie sie auch für die Chassidim von entscheidender Bedeutung ist. Gerade hierin liegt die Kunstfertigkeit von Bubers Bearbeitung, nämlich auch dem Laien, dem Nicht-Chassid, einen flüchtigen Blick in eine hermetische Welt zu liefern.

So erfüllt der vorliegende Band dann auch zwei Funktionen. Er hält die Erinnerung an eine vernichtete europäische Kultur wach und er bereitet den Boden für die Zukunft. Ganz wie Buber Anfang des 20. Jahrhunderts hoffte, dass die deutschen Juden den osteuropäischen Chassidismus als Teil ihrer eigenen Tradition erkennen, so kann man für den heutigen Leser in Deutschland nur ähnliches erhoffen. Mit dieser Neuausgabe gilt es nun, den Chassidismus einem breiteren Publikum als vollwertiges Mitglied der europäischen religiösen Tradition bekannt zu machen, so dass er die Beachtung erfahre, die ihm Buber schon vor über 100 Jahren zugedacht hatte.

Titelbild

Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim.
Mit einem Nachwort von Michael Brocke.
Manesse Verlag, Zürich 2014.
781 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783717523680

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