Knochen im Herzen gesucht

Die Österreicherin Gertraud Klemm hält mit „Herzmilch“ eine Wutrede über die Geschlechterverhältnisse

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer hätte gedacht, dass sich der abgegriffensten aller Metaphern, dem Herzen, noch solche Intensität abgewinnen lässt? „Herzmilch“, so lautet der hochpoetische Titel des Debütromans von Gertraud Klemm. Das Bild von der Herzmilch steht für die sich auch unfreiwillig ergießende Liebe der Frauen, eine Liebe, die das weibliche Geschlecht in einer patriarchalischen Gesellschaft von Kindheit an wehrlos und manipulierbar macht.

Um diesem Schicksal zu entrinnen, müsste schon „etwas Biologisches passieren, damit wir uns auflehnen“, resümiert Klemms namenlose Ich-Erzählerin resigniert gegen Ende des Romans. Dabei entwickelt sie eine Vision, die feministische Anklage wie Utopie zugleich ist – von einem Knochen im Herzen, der es hart macht: „Das Herz darf nicht so weich sein, weil sonst die Männer und die Kinder das Herz in die Faust nehmen und es drücken. Heraus kommt die Liebe, die nie genug sein kann. Die Stunde, die wir uns aus dem Tag geraubt haben. Die Träume, die wir nicht haben durften. So tropft und tropft die Herzmilch in eine Schüssel, die dann weggetragen wird von uns. Ein Leben lang.“

Zu diesem Zeitpunkt ist die Ich-Erzählerin längst selbst das geworden, was sie nie hat werden wollen: ein „Muttertier“. Ein solches zeichnet sich für die Erzählerin dadurch aus, dass es anstelle einer coolen Lederjacke nur noch eine praktische Goretexsoftshelljacke trägt, auf der sich jedes Babygesabbere wegwischen lässt. Und dass es früher gleich zwei Tageszeitungen morgens gelesen hat, nun aber „Mutter Natur … ihre Denkorgane in Kindertröstorgane umgewandelt“ hat.

Diese Transformation fühlt die Ich-Erzählerin früh als Erwartung an sich herangetragen. Schon der Heranwachsenden fällt auf, dass Mädchen zwar Berufe erlernen sollen, aber möglichst einen, „der sich gut mit Familie verträgt“: „Kaum eine von uns träumt. Beim Träumen ist Vorsicht angebracht. Träumen hat etwas mit Raketen zu tun oder mit Bill Gates oder Beamen. Träumen ist inkompatibel mit Kinderkriegen.“ Mit ihrem proto-feministischen Blick erweist sich die Ich-Erzählerin für ihre vermeintliche gesellschaftliche Funktion als denkbar schlecht gerüstet – und das paradoxerweise, obwohl gerade sie sich der Natur nahe fühlt: Statt mit Puppen spielt sie in ihrer Kindheit lieber hinterm Haus am Fluss mit Wasserkäfern; später studiert sie – wie einst die Autorin – Biologie.

Das „traurige Mädchen mit coupierten Wünschen“ und voller Schamgefühle, das wie die 43-jährige Autorin in einer österreichischen Kleinstadt der Siebzigerjahre aufwächst, beobachtet in dem großen, kommunardenartigen Gründerzeithaus, wie Mutter und Tanten ihre Zeit mit Weiblichkeitsritualen vergeuden: mit der ausgiebigen morgendlichen Beschäftigung mit der Frisur oder dem verbissenen Ankämpfen gegen Hauterschlaffung und Hängebusen auf den Trimmdichgeräten im Keller.

Von da bis zum Blick aufs große Ganze ist es schon für das Mädchen nicht weit, begegnen ihm doch im Fernsehen ausschließlich Männer, die kochen – aber eben auch nur dort. Auf der Uni schlägt sie sich dann mit dem Machogehabe von Professoren und Assistenten herum, als jobbende Bedienung mit begehrlichen Männerblicken und unterwegs in der Stadt erstaunlich oft mit Exhibitionisten.

Wenn für Kant Aufklärung der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit war, so kann man Klemms Roman nur bedingt als aufklärerisch bezeichnen. Schließlich wird fortwährend entweder der Biologie („Alle Unterdrückten erheben sich irgendwann. Nur die Tiere und die Frauen nicht.“) oder der Gesellschaft angelastet, das Frauen sich unentgeltlich als Aufzucht-, Pflege- und Reinigungspersonal hergeben. Dass schon diese Analyse widersprüchlich ist, weil sich Biologismus und Soziologismus ausschließen, fällt zumindest der Ich-Erzählerin nicht auf. Und ebenso wenig, dass sie ihre Lebensgeschichte zwar bis in die Gegenwart erzählt, in dieser aber längst nicht mehr nur die Buben, sondern auch die Mädchen, mit Pink oder Lady Gaga im Ohr, ihren „Rotz in die Nase“ hochziehen dürfen. Oder sich, auch in Österreich, spätestens am „Girls‘ Day“ für Technik begeistern können.

Hinzu kommen erzähltechnische Ungereimtheiten: Die dem erzählten Kind von der Klagenfurter Publikumspreisträgerin von 2014 in den Anfangskapiteln im narrativen Präsens in den Mund gelegten Reflexionen sind eher dem erzählenden (erwachsenen) Ich zuzutrauen. Eine faszinierende Lektüre ist diese von Ingeborg Bachmann, Marlene Streeruwitz und nicht zuletzt Brigitte Schwaiger beeinflusste Wutrede gleichwohl, schon aufgrund der vielen zitierfähigen Sentenzen wie: „Kindsein heißt, auf der Zeit dahinzutreiben und immer wieder von den Eltern herausgefischt zu werden … Kindsein heißt, an wechselnden Orten das Leben auszuprobieren. Noch ist es wie eine Presswurst, ohne Leerstellen und Hohlräume, verdichtet bis zum Platzen.“

Titelbild

Gertraud Klemm: Herzmilch. Roman.
Literaturverlag Droschl, Graz 2014.
237 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783854208488

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