Die Zukunft einer Illusion

Endlich gibt es eine ungekürzte Ausgabe der Briefe, die der „gottlose Jude“ Sigmund Freud mit dem „lieben Gottesmann“ Oskar Pfister wechselte

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein gottloser Jude – unter diesem Titel erschien 1987 eine Studie, in der Peter Gay, renommierter Historiker der Yale University, überzeugend darlegte, dass Sigmund Freuds Atheismus und die Entwicklung der Psychoanalyse aus dem Geiste der europäischen Aufklärung zwei Seiten einer Medaille sind. Freud bekannte sich als Jude – doch die jüdische Religion lehnte er ebenso entschieden ab wie jede andere. Weil die Behörden der k. u. k. Monarchie die standesamtliche Ehe, die er am 15. September 1886 im Wandsbeker Rathaus mit Martha Bernays schloss, nicht anerkannten, musste er anderntags dann doch noch einmal nach jüdischem Ritus heiraten, das war aber das letzte Mal, dass er sich einer religiösen Zeremonie unterwarf. Seine Söhne ließ er nicht beschneiden, in seinem Haus durften am Sabbat keine Kerzen angesteckt werden und die Regeln für koscheres Essen galten hier auch nicht.

Den Titel seines Buches hatte Peter Gay einem Brief Freuds vom 9. Oktober 1918 entnommen, der an den Schweizer Pfarrer Oskar Pfister gerichtet war. Darin hatte Freud diese rhetorische Frage gestellt: „Ganz nebenbei, warum hat keiner von all den Frommen die ΨA [Psychoanalyse] geschaffen, warum musste man da auf einen ganz gottlosen Juden warten?“ Drei Wochen später erhielt Freud folgende Antwort: „Ei nun, weil Frömmigkeit noch nicht Entdeckergenie ist.“ Und dann taufte der wackere Pfarrer Freud, wobei er ganz nebenbei auch noch dessen vermeintliches Selbstmissverständnis aufklärte: „Übrigens sind Sie erstens kein Jude [Pfister meinte das im religiösen Sinne – B. N.], was mir bei meiner masslosen Bewunderung für Amos, Jesaja, Jeremia, den Dichter des Hiob und des Predigers sehr leid tut, und zweitens sind Sie nicht gottlos, denn wer für die Wahrheit lebt, lebt in Gott, und wer für die Befreiung der Liebe streitet, bleibt nach Johannes 4.16 in Gott. … [S]o möchte … ich sagen: ‚Ein besserer Christ war nie.‘“

Freud nahm dem Schweizer Diener des Herrn diesen Bekehrungsversuch nicht übel, denn er mochte ihn und verstand es, sich durch milden Spott dessen christlichen Umarmungsversuchen zu entziehen. Oskar Pfister war auf Freud durch Carl Gustav Jung – „dessen Anregung und Rat ich meine ganze psychoanalytische Tätigkeit verdanke“, wie er in seiner 1909 erschienenen Schrift Psychoanalytische Seelsorge und experimentelle Moralpädagogik bekannte – aufmerksam geworden. 1909 kam er dann erstmals zu Besuch nach Wien. Anna Freud schreibt im Vorwort zur Erstausgabe des Briefwechsels, zwischen ihrem Vater und dem „lieben Gottesmann“, wie Freud ihn in einem seiner Briefe nannte, habe eine von Gegensätzen getragene Harmonie bestanden: „In dem von allem religiösen Leben abgewendeten Haushalt Freuds war Pfister, im geistlichen Habit und mit der Miene und dem Gehaben eines Pfarrers, eine Erscheinung aus einer fremden Welt.“

Das war die eine Seite Pfisters, der er immer wieder metaphernreich Ausdruck verlieh – so etwa im Brief vom 30. Dezember 1923, in dem er sich mit diesen Worten bei Freud meldete: „Das schachmattgewordene Jahr sitzt vor dem Mausloch der Unendlichkeit und will ins Dunkel hinunterschlüpften. Da möchte ich mir erlauben, Ihnen noch schnell einen herzlichen Glückwunsch zu entbieten. Zwar wurden Ihnen Schüler geboren wie Tau aus der Morgenröte […] Aber vielleicht wird sie der Gruss eines Ihrer älteren Anhänger doch auch ein wenig freuen.“ Die andere Seite des Pfarrers, das waren „seine menschliche Wärme und Begeisterung, seine Fähigkeit zur lebendigen Anteilnahme auch an kleinen täglichen Vorgängen“, die ihn „zu einem jederzeit gern gesehenen Gast“ machten. Und weiter schreibt Anna Freud in ihrem Vorwort, die Kinder hätten den Pfarrer sehr geliebt.

Als Gastgeschenk überreicht Pfister Freud bei seinem Antrittsbesuch ein Silbermodell des Matterhorns im Maßstab 1: 50.000. Freud kommentiert das phallische Symbol im Brief vom 10. Mai 1909 so: Der Maßstab „mag ungefähr der sein, in dem das Schicksal unsere Wünsche erfüllt und wir selbst unsere Vorsätze durchführen“. Pfister, siebzehn Jahre jünger als Freud, war aber nicht nur ein Mann großer Worte. Er vollbrachte auch große Taten. 1928, er ist jetzt 55 Jahre alt, berichtet er stolz nach Wien, er habe das Matterhorn bestiegen. Freud beglückwünscht ihn zu „dieser Kraftprobe“ – und fügt lakonisch hinzu, auch er habe „vor einigen Tagen“ einen Berg erklommen: die „Rax (2004 m) […] aber mit Hilfe der Seilbahn“.

Oskar Pfister (1873-1956) gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Zürcher Ortsgruppe der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, die sich 1914, nach dem Zerwürfnis zwischen Freud und Jung, wieder auflöste. Nach dem Ende des Krieges, 1919, gründete er dann gemeinsam mit Emil und Mira Oberholzer die Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse. Pfister gilt zudem als Initiator der Pastoralpsychologie, einer Disziplin, in der sich weltliche Kenntnisse aus Psychologie und Soziologie mit kirchlicher Seelsorge verbinden. Und er war einer der Pioniere der psychoanalytischen Pädagogik (siehe Bernd Nitzschke: Oskar Pfister, August Aichhorn, Hans Zulliger, Anna Freud – Psychoanalyse und Pädagogik. Enzyklopädie Die Großen der Weltgeschichte, Band X. Kindler 1978). Mit Schriften wie Analytische Seelsorge. Einführung in die praktische Psychoanalyse für Pfarrer und Laien (1927) oder Wie ich in die analytische Pädagogik hineinwuchs. Meine pädagogischen Grundanschauungen (so überschrieb er den ersten Teil seiner 1927 erschienenen „Selbstdarstellung“) hat sich Pfister um die Pastoralpsychologie genauso verdient gemacht wie um die psychoanalytische Pädagogik. Und er verfasste als erster ein Lehrbuch über Die psychoanalytische Methode (1913).

Darüber hinaus kümmerte er sich auch noch um das allgemeine Seelenheil – so in der Schrift Vom Wirtshaus zum Volksheim – ein Stück Gegenwartsarbeit und eine Zukunftsaufgabe der Schweizerfrauen (1918) oder in der Abhandlung Der seelische Aufbau des klassischen Kapitalismus und des Geldgeistes (1923). Ganz geheuer war es Freud aber nicht, als sich dieser eifrige Prediger erstmals bei ihm meldete. Zwar bedankte er sich artig bei Pfister für die Zusendung des Aufsatzes Wahnvorstellung und Schülerselbstmord (1909) und dafür, „daß unsere psychiatrischen Forschungen bei einem Seelsorger Aufnahme gefunden haben“, doch einen Tag zuvor, am 17. Januar 1909, hatte er an C. G. Jung geschrieben, es sei für ihn „befremdend“, die Psychoanalyse durch einen Pfarrer „in den Dienst der Bekämpfung der ‚Sünde‘ gespannt zu sehen“.

Freuds Sohn Ernst und der Psychoanalytiker Heinrich Meng hatten 1963 die Erstausgabe des Briefwechsels besorgt. Die jetzt – ein halbes Jahrhundert später – erschienene Neuausgabe, in der 38 Schriftstücke von Freud und 48 von Pfister hinzugekommen und zahlreiche in der Erstausgabe vorgenommene Kürzungen aufgehoben worden sind (davon betroffen waren sowohl Briefe Freuds wie Briefe Pfisters – in seinem Fall waren es 27 von 30 Briefen), hat Isabelle Noth besorgt, Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik, unterstützt von Christoph Morgenthaler, emeritierter Professor für Seelsorge und Pastoralpsychologie, beide an der Universität Bern. Dem mit großer Sorgfalt editierten Briefband ist ein sachkundiger Essay vorangestellt, mit dessen Hilfe man einen ersten Überblick der Beiträge Pfisters zur Psychoanalyse, zur Religionspsychologie und analytischen Seelsorge sowie zu dessen Kulturtheorie und Weltanschauung gewinnen kann.

Die Einleitung steht unter der Überschrift Oskar Pfister und Sigmund Freud – ein Dialog auf Augenhöhe? Das Fragezeichen erlaubt es jedem Leser, sich nach der Lektüre der Briefe ein eigenes Urteil zu bilden. Die Antwort des Rezensenten ist eindeutig: Nein, das war kein Dialog auf Augenhöhe. Pfister saß Freud zu Füßen, den er wie einen Vater verehrte – und der ihn wie einen Sohn behandelte, eben so, wie C. G. Jung nicht behandelt werden wollte, der sich gegen diese Art der Zuwendung wehrte, was entscheidend zu seinem Bruch mit Freud beitrug. Pfister war Freud für diese väterliche Zuneigung hingegen dankbar. Die genauere Einschätzung der Beziehung zwischen Freud und Pfister ist ja gerade deshalb möglich geworden, weil auch die Kürzungen der Erstausgabe aufgehobenen wurden, die Pfisters Auskünfte über sich selbst betrafen. Damit liegt nun ein vollständigeres Psychogramm des Pfarrers vor.

Pfister, der 1911 bei Franz Riklin, einem Verwanden Jungs, in Analyse war, benutzte die zunehmende Vertrautheit mit Freud für eine Art schriftliche Nach-Therapie, in deren Verlauf er mehr und mehr von seinen Seelennöten offenbarte. So schrieb er etwa: „Ich alter Knabe leide noch immer darunter, dass ich den Vater mit drei Jahren verlor, und von einer weichen pietistischen Mutter erzogen wurde.“ Die Mutter hatte nach dem Tod ihres Mannes, der ebenfalls reformierter Pfarrer war, in der Herrnhuter Brüdergemeinde Königsfeld (Schwarzwald) Zuflucht gesucht, wo Oskar, der jüngste von vier Brüdern, bis zu seiner Einschulung blieb. Auch in das Unglück seiner (ersten) Ehe mit Erika Wunderly (sie starb 1929) fügte er sich so, als sei er Hiob: „In meiner Ehe habe ich nur Entbehrungen und Leiden zu tragen. Die Hysterie meiner Frau nimmt überhand, und und ich habe keine gesetzlichen Mittel zu Scheidung.“ Einmal muss der Pfarrer besonders stark gelitten und dementsprechend offenherzig an Freud geschrieben haben. Fünfzehn Jahre später bereut er es und bittet Freud darum, diese Zeugnisse seines Elends aus dem Jahr 1912 zu vernichten. Freud antwortet, er habe die Briefe vernichtet, „in denen von Ihrer Libido und Ehenot ein Wörtchen stand“. „Ich habe Ihrem Wunsch entsprochen, obwol es in meiner Absicht liegt, durch bestimmten Ausdruck meines Willens eine literarische Verwertung meiner Korrespondenz zu verhindern.“ Das ist ein Hinweis darauf, dass Freud seine Korrespondenzen nie veröffentlicht sehen wollte.

Oskar Robert Pfister jun. (1899-1985), der bedauernswerte Sohn aus Pfisters erster Ehe (er wird später Psychiater und Analytiker), wird vom Vater in einem Brief an Freud mit diesen Worten vorgestellt: „Er hat’s tüchtig hinter den Ohren, aber er ist ein lieber Kerl … Ohne die Analyse könnte ich ihn nicht so lieb haben, wie es der Fall ist, denn er behandelt mich in mancher Hinsicht schlecht: Nie sagt er mir ein freundliches Wort.“ Der Sohn, der denselben Vor- und Mittelnamen wie der Vater zu tragen hat, wird zu Eduard Hitschmann in die Analyse geschickt, mit deren Ergebnissen der Vater dann aber ebenso unzufrieden ist wie er es mit der Mutter seines Sohnes war. Bei Freud beklagte er sich mit diesen bitteren Worten: „Hitschmann schreibt mir, die Analyse habe darunter gelitten, dass sein Klient infolge des nicht überwundenen Oedipuskomplexes gegen des Vaters Beruf ambivalent gewesen wäre. … Der Junge tut mir sehr leid. Er scheint seiner bedauernswerten Mutter nachschlagen zu wollen. Ich werde auch diesen Schlag tragen müssen und mich für die Einsamkeit im engsten Kreise durch die herzliche Gemeinschaft ausserhalb meines Hauses und angespannteste Arbeit entschädigen.“ Ja, das tat Pfister – und er verstand auch, welchem Zweck das rastlose Agieren diente: „Durch höchst intensive Arbeit und viele Befriedigung in Amt und Weltanschauung schütze ich mich vor allzu trüben Stimmungen“ – sprich: vor Depressionen. Diesem Zweck diente auch die Idealisierung der Psychoanalyse („wie groß und herrlich die Analyse ist“) und die ihres Schöpfers, den Pfister immer wieder lobpreist. So schreibt er an Freud etwa: „In der Loge neben Ihnen … fühlte ich mich wie in einer olympischen Götterkemenate […]“ – „[…] Ihr gastfreundliches Heim [ist] mein wissenschaftliches Bethlehem geworden.“ – „[…] [I]ch vermag unmöglich in Worte zu fassen, was für einen Segensstrom Ihr kühnes Forschen in mein pastoral vertrocknetes Dasein leitete“ – und so weiter und so fort. Seine Aggressionen ersetzte der Pfarrer durch Reaktionsbildungen, die der Liebenswürdigkeit Platz machten, die Freuds Kinder (anders als der eigene Sohn) an Pfister so sehr schätzten. Schließlich gingen die Illusionen, denen sich der Pfarrer hingab, Freud aber doch auf die Nerven. Im Februar 1928, da kennt er Pfister bereits seit zwei Jahrzehnten, fährt er aus der Haut: „Und endlich – lassen Sie mich einmal unhöflich werden – wie zum Teufel bringen Sie alles, was wir in der Welt erleben und zu erwarten haben, mit Ihrem Postulat einer sittlichen Weltordnung zusammen?“

Kurz zuvor, im Januar 1928, war die sittliche Weltordnung in der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse aus den Fugen geraten. Emil Oberholzer, der Präsident, hatte ein Memorandum verfasst und an Freud gesandt (es ist im Anhang des Briefbandes abgedruckt), in dem er ausführte, warum eine Neugründung notwendig wurde. Aufgrund des Namens des neuen Vereins – Schweizerische Ärztegesellschaft für Psychoanalyse – musste man annehmen, dass es dabei um eine organisatorische Trennung der Ärzte von den Nichtärzten (den so genannten „Laien“) gehen sollte. Das war ein Affront gegen Freud, der in der Schrift Die Frage der Laienanalyse (1926) ausgeführt hatte, solange sie in diesem Verfahren nicht ausgebildet seien, hätten Ärzte wie Nicht-Ärzte im Hinblick auf die Ausübung der Psychoanalyse als Laien zu gelten. Danach seien dann weder die einen noch die anderen „Laien“.

Der Schweizer Arzt Max Müller – ja, das war der Psychoanalytiker, der Friedrich Clauser in der Anstalt Münsingen behandelt hatte und als Dr. Ernst Laduner in Matto regiert auftritt – hat in seinen Erinnerungen (1982) darauf hingewiesen, dass der „Laie“, um den es bei dem Konflikt, der zur Gründung der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Psychoanalyse führte, maßgeblich ging, Pfarrer Pfister war. Diese Einschätzung wird durch die Lektüre des Memorandums in vollem Umfang bestätigt. Da heißt es: „Unsere Schwierigkeiten bezgl. des nichtärztlichen Teils der alten Gesellschaft knüpfen sich vornehmlich an die Person von Herrn Pfarrer Pfister“. Dessen „psychoanalytische Propagandatätigkeit […], die hinsichtlich Unermüdlichkeit und Hoffnungsfreudigkeit nicht zu überbieten“ sei, erwecke in der Öffentlichkeit „falsche Erwartungen und Hoffnungen“. Pfister preise die Psychoanalyse als eine in nur wenigen Stunden durchzuführende Wunderkur an. Sein Angebot bestehe unter anderem aus „suggestive(r) Beeinflussung offener oder verkappter Art“, umfasse „Beratung und Besprechung im Consultationszimmer oder auf Reisen und Spaziergängen“, und großzügig, wie er sei, erteile er auch noch „briefliche Traumanalysen“.

Das alles habe dazu geführt, dass von Pfister unzureichend analysierte Kandidaten als vollwertige Analytiker in die Gesellschaft aufgenommen worden seien, darunter „in- und ausländische Lehrer und Pädagogen, die vom Pfarrer innerhalb einiger Wochen oder in wenigen Stunden in die Psychoanalyse eingeführt wurden“. Das Fazit Oberholzers lautete: „Der Pfarrer ist ein typisches Beispiel für die mangelnde Selbstanalyse und die Unmöglichkeit – vielleicht Unfähigkeit – sich in der eigenen Erfahrung korrekt durchgeführter Analysen an den seelischen Kräften, die eine Neurose aufbauen, die entscheidenden Eindrücke zu holen.“ Aus diesem Grunde sehe man sich genötigt, eine neue Gesellschaft mit strengern Ausbildungsstandards zu gründen.

Als er das Memorandum gelesen hatte, befand sich Freud in einer Zwickmühle. Er verurteilte das Vorgehen Oberholzers, doch er kannte auch Pfister und dessen missionarischen Eifer, der sich der Psychoanalyse angenommen hatte. Im Brief vom 17. Februar 1928 spricht Freud dem Pfarrer ins Gewissen: Es habe ihm „sehr leid gethan zu erfahren, einen wie großen Anteil an seinem [Oberholzers] Ausbrechen die kritische Unzufriedenheit mit Ihren analytischen Praktiken und Ihrem therapeutischen Optimismus hat. Leid gethan darum, weil ich in diesen Punkten weitgehend auf seiner Seite bin und bei aller Sympathie für Ihre Person, aller Würdigung Ihrer Wirksamkeit Ihre enthusiastisch verkürzten Analysen und Ihre Leichtigkeit in der Annahme von neuen Mitgliedern und Anhängern auch nicht gutheißen kann.“

Die Situation war zudem verzwickt, weil Oberholzer einst bei Freud und später dann auch noch einmal bei Pfister in Analyse war. Darüber hat Pfister in seinen Briefen freizügig Auskunft gegeben. 1921 teilte er Freud über den Präsidenten der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse mit: „Dr. Oberholzer ist überglücklich über seine Fortschritte. Noch bei keiner Analyse drang ich so tief ein. Ich hoffe, ihn noch ganz zu heilen.“ Im April 1922 war Pfisters therapeutischer Optimismus immer noch ungetrübt: „Dr. Oberholzer hat nach mehr als halbjähriger Pause, in der es ihm sehr gut ging, die Analyse wieder aufgenommen. […] Die Fortschritte des Patienten sind sehr bedeutend und es wird zur völligen Heilung kommen.“ Im Juni 1922 heißt es dann etwas gedämpft: „Dr. Oberholzer geht es wieder gut. Seine Praxis läuft auf Kugellagern, und seine Ehe klappt leidlich. Schade, dass er die Analyse nicht zu Ende führte.“

Offensichtlich spielten auch in Oberholzers Analyse Eheprobleme eine wichtige Rolle. Freud hatte an Pfister geschrieben: „In der Sache Oberholzer ist schwer zu raten. Es kommt oft vor, daß prächtige und ernsthafte Menschen einander quälen müssen, weil sie ihre Liebe sonst nicht vollständig ausdrücken können.“ Dass man Zuneigung unter besonderen Umständen nur durch wechselseitiges Quälen zum Ausdruck bringen kann, mag auf Emil und Mira Oberholzer zugetroffen haben – doch vielleicht ließe sich das auch auf die Beziehung zwischen Emil Oberholzer und Oskar Pfister übertragen? Wie dem auch sei: Die Schweizerische Ärztegesellschaft für Psychoanalyse, die sich 1928 im Streit mit Pfister konstituiert hatte, löste sich 1938 nach der Übersiedlung des Ehepaars Oberholzer in die USA – dort wurden die beiden Mitglieder der New Yorker Psychoanalytikergruppe – wieder auf.

Für die Beziehung zwischen Freud und Pfister war das Jahr 1928 aber noch aus einem anderen Grund bedeutsam. Im Oktober 1927 hatte Freud Pfister mitgeteilt, dass demnächst „eine Broschüre von mir erscheinen [wird], die viel mit Ihnen zu thun hat“. Darin werde er seine „durchaus ablehnende Einstellung zur Religion – in jeder Form und Verdünnung“ – darstellen. Gemeint war Freuds Abhandlung Die Zukunft einer Illusion (1927), in der er die Argumente für und wider die Religion in Gestalt von Rede und Gegenrede dargestellt hat. Zu diesem Zweck erfand Freud einen fiktiven „Gegner“, der die Aufgabe hatte, Freuds Einwände gegen die Religion zu entkräften. Dass Freud dabei Pfisters Schriften vor Augen und dessen Worte im Ohr hatte, darf als gesichert gelten.

Im Zusammenhang mit dieser Publikation kam es zu einem lebhaften Disput zwischen Freud und Pfister, der teils in privaten Briefen, teils öffentlich ausgetragen wurde. 1928 erschien Pfisters Replik Die Illusion einer Zukunft in der psychoanalytischen Fachzeitschrift Imago. Freud hatte ihn dazu ermuntert. In einem Brief hatte Pfister Freud gegenüber geäußert: „Ihr Religionsersatz ist im Wesentlichen der Aufklärungsgedanke des 18 Jahrh. in stolzer moderner Auffrischung.“ Damit hatte Pfister sicher Recht. Und Freud zeigte auf seine Weise Verständnis für Pfisters Dilemma, als er schrieb: „Den jähen Abbruch […] des wissenschaftlichen Denkens, wenn es an Gott und Christus herankommt, nehme ich als eine der logisch unhaltbaren, psychologisch nur zu begreiflichen Inkonsequenzen des Lebens hin.“

Freud war der Auffassung, die Menschen seien viel zu schwach, um die Unerbittlichkeit des Schicksals anzuerkennen und zu ertragen. Schon der Verlust eines geliebten Menschen sei ohne Hilfe kaum zu bewältigen. Angesichts des Todes hätten die Menschen daher nach Trost gesucht – und sie hätten ihn gefunden: Sie erkannten den Körper als sterblich an – und trösteten sich mit dem Gedanken an eine unsterbliche Seele. Dieser Abwehrvorgang kann mit Freud als der Ausgangspunkt der Religion verstanden werden – er ist aber auch der Ausgangspunkt einer Ich-Spaltung, für deren Überbrückung dann immer mehr Glaubenssätze nötig wurden.

In einem Vortrag, den er im Februar 1915 vor den Mitgliedern des jüdischen Ordnens B’nai B’rith hielt, dem er seit 1897 angehörte, sagte Freud: „An der Leiche der geliebten Person“ begann der Mensch an „Geister“ zu glauben und in der „Erinnerung an den Verstorbenen schuf er sich die Vorstellung anderer Existenzformen, die Idee eines Fortlebens nach dem anscheinenden Tode.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte ringsherum das große Sterben längst begonnen. „Gott mit uns“ Derart ermutigt zogen die Soldaten aller Herren Länder in den Krieg – und in den Tod.

Freuds zentrale These ließe sich so zusammenfassen: Religionen stellen die Erfüllung von Wünschen in Aussicht, die überhaupt nicht zu erfüllen sind – es sei denn mit Hilfe von Illusionen. Also muss der Glaube, solche Wünsche seien entgegen aller vernünftigen Einsicht zu erfüllen, genauso stark sein wie der Wunsch, der mit Hilfe solcher Illusionen erfüllt werden soll. In Freuds Arbeit Die Zukunft einer Illusion heißt es dazu: „Für die Illusion bleibt charakteristisch die Ableitung aus menschlichen Wünschen, sie nähert sich in dieser Hinsicht der […] Wahnidee […] “ Konnte schon jemals ein Mensch aufgrund rationaler Argumente von einer Wahnidee befreit werden? Man muss aber gar nicht an die Extreme denken. Denn, laut Freud, gilt das für alle Menschen: „Rein vernünftige Motive richten […] wenig gegen leidenschaftliche Antriebe aus […].“ Woher sollte die Vernunft die Kraft hernehmen, die nötig wäre, die Kraft der Wünsche und des Glaubens, der sich aus der Kraft der Wünsche speist, zu überwinden?

Das ist die Schwachstelle in Freuds Plädoyer für eine auf rationaler Einsicht beruhende Kultur, die den Verzicht auf die illusionäre Erfüllung triebhafter Wünsche durchsetzen und unter dieser Voraussetzung ein menschenwürdiges Zusammenleben auf Erden ermöglichen könnte. Genau an dieser Stelle setzt Pfisters Kritik an. In der Schrift Die Illusion einer Zukunft stellt er fest: „Hier versteigt sich Freuds strahlender Intellekt zum Intellektualismus, der, von seinen Erfolgen berauscht, seine Grenzen vergißt.“ Und er fragt, „ob nicht hinter Freuds Glauben an den Endsieg des Intellekts der Wunsch steckt und seine Weissagung vom Ende einer Illusion den Aufmarsch einer neuen, nämlich wissenschaftlichen Illusion einschließt?“ Der Trost, den Freud zu spenden weiß, ist denn auch sehr schwach: „[…] die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch.“ Nun ja, Freuds Wunsch, die Menschen mögen sich in Zukunft von der Vernunft leiten lassen, ist verständlich – doch seine Erfüllung ist eine Illusion.

Titelbild

Sigmund Freud / Oskar Pfister: Briefwechsel 1909-1939.
Herausgegeben von Isabelle Noth und Christoph Morgenthaler.
TVZ Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2014.
300 Seiten, 36,90 EUR.
ISBN-13: 9783290176150

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