Geist(er)reich

Der Sammelband „Gespenster“ wirft spannende, wenn auch etwas wahllos anmutende Schlaglichter auf einen kulturell-künstlerischen Topos

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geisterstunde! Das klingt nach purer Atmosphäre, nach Grusel, Grauen – und Genuss. Offenbar zählt es zur conditio humana, Spuk als phantastisch in beiderlei Bedeutungen des Wortes wahrzunehmen, nämlich als übernatürlich und gleichzeitig faszinierend. Wer dabei wen definiert, ob der Mensch das Phänomen oder das rational Unerklärliche die metaphysische Ausdeutung, lässt sich kaum trennen. Tatsache bleibt hingegen, dass das (scheinbar) Supranaturale schon immer ein Teil des Volksglaubens war. Selbst noch heute, auch wenn Mythen und Legenden längst in aufklärerische Bahnen gelenkt sind, ist für das Übersinnliche allemal Platz.

Jenem wendet sich der von Thomas Koebner herausgegebene Sammelband „Gespenster“ zu, wobei das extrem weite Feld auf noch menschenähnliche, dem Jenseits entstammende Gestalten eingegrenzt wird. Vampire, Werwölfe und ähnliches bleiben außen vor, Zombies erhalten ein winziges Schlupfloch. Weil das Buch zudem in der Reihe „Projektionen. Studien zu Natur, Kultur und Film“, ein pfiffig vage formulierter Titel, erscheint, bleibt sogar Raum für Anmerkungen zum Okkultismus im weiteren Sinne. 

So befasst sich der erste Artikel mit dem deutschen Mediziner, Schriftsteller und ’Geisterseher’ Justinus Kerner (1786-1862), dessen Gesamtwerk eine Art Synthese aus Kunst, Wissenschaft und Metaphysik darstellt. Silke Arnold-de Simine betont: „Im Versuch, das Unbewusste und Übernatürliche in und für Kunst und Wissenschaft zu erschließen, kann er als Vorreiter von Sigmund Freud, aber auch von Avantgarde-Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts gedeutet werden.“ Das ist eine aufschlussreiche Bemerkung, wird Okkultismus traditionell als Gegenbewegung zur Moderne verstanden und erst in neueren Interpretationen als deren Teilaspekt angesehen. Freilich macht der Aufsatz von Hans Richard Brittnacher über Séancen, speziell jene bei dem Münchner Arzt und Parapsychologen Albert Freiherr von Schrenck-Notzing (1862-1929) deutlich, dass der moderne Gespensterglaube um 1900 sich nur äußerlich der ’Entzauberung der Welt’ (Max Weber) angepasst hat. Vom Wesen her nährt er sich von Sensationslust, spiritueller Leere oder politischer Enttäuschung durch die gescheiterten Revolutionen. Spiritismus soll wie eine exakte Wissenschaft betrieben werden und eröffnet doch nur die Gelegenheit für teils geschickten Betrug.

Dazu zählt unter anderem die Geisterfotografie. Sie passt nahezu perfekt in eine Zeit technologischer Neuerungen wie Telegrafie oder Phonograph, die an sich bereits ’grenzüberschreitend’ wirken. Was dort an Physischem gebannt wird, nämlich eine weitere Dimension von Wirklichkeit, ist in den ’spirit photographs’ auf metaphysische Phänomene übertragen. Während die Geisterfotografie ihren letzten Höhepunkt zu Beginn des Ersten Weltkrieges erlebt, ist ihre Methode der Doppelbelichtung längst im frühen Kino angekommen. Der prägnante Artikel von Roman Mauer lässt die Zeit der Filmpioniere aufscheinen und akzentuiert gleichzeitig, dass Gespenster von Anfang an auf der Leinwand heimisch waren. Kein Wunder, bietet die Literatur hierfür doch einen überreichen Fundus an Motiven, wie in „Doppelgänger und Spiegelbilder in Literatur und Film“ anhand prominenter Beispiele erläutert wird. Ein entzückender Druckfehler hat sich übrigens in diesen Text geschlichen. Sigmund Freud ist hier einmal versehentlich als ’Freund’ buchstabiert. Obwohl… angesichts der Ungeheuerlichkeit einer Doppelung des eigenen Ichs kann Psychoanalyse durchaus als freundschaftliche Rettung betrachtet werden… 

Das Cover von „Gespenster“ hat mit Abbildungen aus Akira Kurosawas „Dreams“ und Stanley Kubricks „The Shining“ ein cineastisches Versprechen gegeben, das erst mit dem vierten Essay eingelöst wird. Dann freilich spektakulär, denn nur wenige können über Film schreiben wie Thomas Koebner. Der kleine Aufriss zum Haunted-House-Movie ist der große Entwurf eines ’klugen Geistes’, der Bilder zu Worten und Schrift zur Leinwand macht. Ohne dass Koebner sich in Wertungen ergeht, lässt sich aus seinen Analysen ablesen, welches Werk der siebten Kunst zu höherer Ehre gereicht und welches (nur?) köstliches Entertainment bietet. Wie auch immer, nach diesem intellektuellen Lesegenuss will man spontan sämtliche der erwähnten Filme sehen bzw. wiedersehen.

Ganz so dürfte es nicht jedem nach Daniel Illgers „Träume für die Toten – Mario Bava und die Gespenster des italienischen Horrorfilms“ ergehen. Dafür ist die vorgestellte Gattungsvariante zu speziell. Tatsächlich besitzt das Gothic-Horrorkino in Italien der 1960er Jahre einen exploitativen Ruch, setzt auf Sex, Gewalt, Voyerismus und schillert dennoch dank raffinierten Einsatzes von Technik und Dramaturgie: „(…) so unwiderstehlich ist der Sog hinein ins Jenseitige, den es als ästhetische Erfahrung erzeugt.“ Derart leidenschaftlich, wie der Autor über Regisseur Mario Bava und dessen Œuvre schreibt, geht schnell vergessen, dass es sich hierbei eigentlich um Genrekost handelt. Filmwissenschaft, das bleibt als Erkenntnis bestehen, wertet selbst längst etablierten Kult erneut auf.

Ähnliches ließe sich über Marcus Stigleggers Beitrag „Japans Gespenster – Die mythologischen Wurzeln des japanischen Geisterfilms“ sagen. Auch wenn viele Aspekte nur angedeutet bleiben müssen, eignet sich dieser Artikel gleichwohl als hellsichtige Einführung in einen fremden gespenstigen Kosmos. Buddhismus, Shintōismus und Animismus bilden die Quellen für eine (Populär-)Kultur, deren kinematographische Ausformungen auch im Westen als J-Horror gerne goutiert werden. Die analysierten Werke sind im Übrigen allesamt düstere Geschichten. Wandelt der Gespensterfilm hingegen auf komödiantischen Pfaden, lässt sich der westliche Zuschauer offenbar lieber von der ihm vertrauten Lebensart zum Lachen bringen. Jedenfalls basieren die von René Ruppert präsentierten „Gespenster in der Filmkomödie“ vielfach auf wohlbekannter Literatur, etwa Oscar Wildes „The Canterville Ghost“ und Charles Dickens` „A Christmas Carol“, oder sie entspringen dem christlichen Engelsglauben. Und manchmal sind sie einfach nur Bettlaken!

Letzteres lassen sich Tim Burtons Geister natürlich nicht nachsagen. Andreas Rauscher bemüht sich redlich, ihnen Leben einzuhauchen, kommt jedoch eher ihrem schauerromantischen Erbe auf die Spur denn ihrem herrlich grotesken Zauber. Auch die wie jeden Artikel illustrierenden Schwarzweißphotos können nur eine Ahnung von Burtons subversivem Genie vermitteln. Vorweihnachtliche Alpträume oder Leichenhochzeiten müssen wohl einmal persönlich ’besichtigt’ werden, um endgültig ihren mal anarchischen, mal berührenden Nimbus zu beglaubigen. Anders sieht es wiederum bei Zombies aus, die ganz zuletzt auflaufen, besser: sich umherschleppen. Als Symbol wie Verkörperung der menschlichen Sterblichkeit haftet den modernen, von George A. Romero archetypisch formulierten Untoten etwas apokalyptisch Aussichtsloses an. Die brisante Frage, ob sie deshalb weiterhin hingebungsvoll im Splatterkino gemetzelt werden dürfen oder doch Mitleid verdienen, stellt Sascha Koebner zu Recht. Und lässt sie passenderweise unbeantwortet. Auch das Horrorkino hat noch seine ethischen Untiefen. 

Es mag der Vielgestaltigkeit des Phänomens geschuldet sein, es mag aber auch an der Auswahl der Texte liegen: „Gespenster“ geistert auf hohem Niveau, jedoch etwas ziellos durch sein Sujet. Die Einblicke in Historie und Wissenschaft, in Literatur und Film, in Kunst und Kult sind für sich genommen meist ebenso fesselnd wie gedankenreich, geben in ihrer Gesamtheit freilich ein recht beliebiges Bild vom Gespenstertreiben. Mangels engerer motivischer Eingrenzung wirkt der Sammelband zwar bunt und aufregend, indes tendenziell uneinheitlich und sprunghaft – gewissermaßen wie ein wilder Spuk. Bei diesem Thema könnte das allerdings fast als Kompliment durchgehen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Thomas Koebner (Hg.): Gespenster.
Projektionen. Studien zu Natur, Kultur und Film.
edition text & kritik, München 2014.
248 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783869162355

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