Klampfen, Krach und Koryphäen

Hannes Fricke gibt in „Mythos Gitarre“ einen kurzweiligen Überblick über die Entwicklungsgeschichte des Instruments

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gitarre – das ist: Concierto de Aranjuez, Apache, Sultans of Swing, Hey Joe, Highway to Hell. Spontan fallen Ihnen gewiss noch ein paar mehr Werke – in genau dieser Bandbreite: Klassik, Pop, Rock – ein, die von einer Gitarre geprägt werden. Bringt man nun noch den Begriff des Mythos mit ins Spiel, sind die Bilder, die vor dem geistigen Auge entstehen, sicherlich von der moderneren Rock- und Popgeschichte geprägt. Jimi Hendrix kommt hier in den Sinn, wie er seine Gitarre beim sagenumwobenen Konzert in Monterey erst mit den Zähnen wie in Trance malträtiert und dann in Brand steckt, oder ebenso The Who, die Ende der 1960er-Jahre Ihre Instrumente und Verstärker regelmäßig mit destruktiver Inbrunst zu Kleinholz verarbeiten. Teil des Mythos ist in jedem Fall Aggressivität, Rebellion, Krach, gemäß dem französischen Kulturphilosophen Jacques Attali. Genau dafür steht die Gitarre wie kaum ein anderes Instrument in der Rock- und Popmusik, dessen Nonkonformität sich auch darin ausdrückt, dass für die modernen Spieltechniken eigens Notationszeichen zur Darstellung gefunden werden mussten. Auf der anderen Seite ist der Übergang zum Klischee fließend: Langhaarige, sonnenbebrillte Gitarristen, die breitbeinig und entrückt ihre immergleichen pentatonischen Läufe, vorzugsweise in atemberaubender Geschwindigkeit, herunterspielen – laut natürlich. Sein Lautstärkeregler gehe bis 11, sagt Nigel Tufnel im legendären Rocksatire-Film „Spinal Tap“ ebenso bezeichnend wie skurril. Aber auch die Klischees sind letztlich Teil des Mythos.

In diesen Bezugspunkten bewegt sich Hannes Fricke mit seinem Buch „Mythos Gitarre“. Er gibt einen profunden Überblick über die wechselvolle Geschichte des Intruments, vom Rock sich musikhistorisch gesehen rückwärts arbeitend über Folk, Blues bis in die Klassik des 16. Jahrhunderts, in welchem man die Entstehung der Gitarre verorten kann. Als Kenner der Materie, Fricke ist selbst Gitarrist, führt er durch die Welt der wichtigsten Gitarren-Koryphäen, erläutert Instrumente und  Spieltechniken und analysiert Gitarrenstücke, wobei ein lebendiger und umfassender Eindruck von der Entwicklungsgeschichte des Saiteninstruments entsteht, das die Musikgeschichte der letzten gut 400 Jahre mit begleitet hat. Dazu trägt auch bei, dass die sauber recherchierten Fakten immer wieder mit teils kuriosen Anekdoten durchzogen sind. Ike Turner beispielsweise, ehemaliger Ehemann und musikalischer Partner der Pop-Ikone Tina Turner, habe, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, Autoreifen abgebrannt, um vom übrig bleibenden Drahtgeflecht Saiten für seine Gitarre anzufertigen. Der Wahrheitsgehalt solcher Anekdoten mag fraglich sein, allerdings kann man die Begebenheit in diesem Fall als Chiffre lesen für die Besessenheit, die ein Gitarrist seinem Instrument entgegenbringt. Und auch das ist wieder Teil des Mythos.

Es ist nicht selbstverständlich, dass ein passionierter Gitarrist zugleich ein bewanderter Schreiber ist. Auf Fricke trifft dies zu. Sein Buch ist gut lesbar, faktenreich, sinnvoll strukturiert und besitzt eine stilistische Eingängigkeit, die von Anspruchslosigkeit weit entfernt ist. Büchern dieser Art ist die Gefahr immanent, dass sich ihr Autor nicht so recht entscheiden mag, ob er sich an eine kenntnisreiche Fachgemeinde oder an eine Leserschaft aus interessierten Nichtmusikern wenden soll. Diese Klippe umschifft Fricke elegant, indem er Fachsprachliches immer erklärt und bei musikalischen Analysen stets verständlich bleibt, während er den Gitarre spielenden Experten so viele Fakten bietet, dass sie immer wieder Neues, Unbekanntes für sich entdecken können. Letztere dürfen getrost über kleinere Ungereimtheiten hinweglesen, etwa wenn Fricke das vom Gitarristen der Band U2 gespielte Gitarrenmodell als Fender Explorer identifiziert (es ist eine Gibson Explorer).

Es liegt in der Natur des kompendienhaften Überblicks, dass manche Punkte nur gestreift, aber nicht vertieft werden können. Warum beispielsweise ist die Geschichte der Gitarre stark patriarchalisch geprägt und hat von der Klassik bis in die jüngste Rockgeschichte nur wenig relevante Gitarristinnen hervorgebracht? Immerhin ist diesem Thema ein ganzes Kapitel gewidmet, eine tiefer gehende Darstellung kann an dieser Stelle natürlich nicht geleistet werden. Oder an anderer Stelle lässt Fricke den Flamenco-Gitarristen Paco des Lucia einen interessanten Hinweis geben, der meint, das Tempo der Gitarrenläufe sei nicht musikalisch motiviert, sondern „man entwickelt es als Waffe im Kampf gegen Unsicherheit und Angst“. Inwieweit Minderwertigkeitsgefühle, soziale Ausgrenzung oder Generationskonflikte musikalisches Virtuosentum befördern, ist ein Themenkomplex, den man unter musikgeschichtlichen und psychologischen Fragestellungen andernorts weiterverfolgen könnte. Die Parallele zum Stellenwert des Fussballspielens in den ärmlichen Favelas Brasiliens wäre hier nicht weit.

Frickes Buch wird durch Hinweise auf weiterführende Lektüre und auf CD-Einspielungen epochemachender Werke abgerundet. Zudem hat er selbst Hörbeispiele bekannter Gitarrenriffs und klassischer Gitarrenstücke eingespielt, die zum Anhören auf der Webseite des Reclam-Verlags hinterlegt sind. „Mythos Gitarre“ ist nicht nur für Gitarrenfans, sondern auch für Musikliebhaber und kulturgeschichtlich Interessierte gleichermaßen aufschlussreich. 

Titelbild

Hannes Fricke: Mythos Gitarre. Geschichte, Interpreten, Sternstunden.
Reclam Verlag, Ditzingen 2013.
240 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783150202791

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