Der Geist der Wahrheit

Stefan Andres taucht in seinem Roman „Die Versuchung des Synesios“ tief in die Glaubensströmungen des frühen 5. Jahrhunderts in Nordafrika ein

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neben der rührigen Stefan Andres-Gesellschaft und dem Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, der in seiner „Moselreise“ unter anderem auf den Roman „Der Knabe im Brunnen“ (1953) von Andres (1906-1970) Bezug nimmt, ist es in erster Linie der Göttinger Wallstein Verlag, der sich seit ein paar Jahren mit der Neuausgabe einiger Werke des früheren Bestsellerautors verdient macht. Mit Novellen wie „El Greco malt den Großinquisitor“ (1936) und „Wir sind Utopia“ (1943), der Roman-Trilogie „Die Sintflut“ (1949-1959) oder eben mit „Der Knabe im Brunnen“ erreichte Stefan Andres in den 1950er- und 1960er-Jahren des letzten Jahrhunderts eine breite Leserschaft.

Nun legt der Verlag den 1971 posthum erschienenen Text „Die Versuchung des Synesios“ vor, einen historischen Roman, mit dem der Autor tief in die Glaubensströmungen des frühen 5. Jahrhunderts in Nordafrika eintaucht. Prisca, die Witwe des ehemaligen Bischofs von Ptolemais Synesios, macht sich um 415 im Hause ihres Schwagers, des Stadtpräfekten Gellios, in Alexandria daran, das Leben ihres Mannes aufzuschreiben: „In den Augen der Menschen ist mein Leben zuende: ich habe einen Mann gehabt, Kinder, und alle sind mir vorausgegangen; mein Leben hat sich, wenn auch vorzeitig, erfüllt. Aber ich habe noch eine Aufgabe: das Leben meines Mannes der Nachwelt richtig zu überliefern, und die Lügen und Verleumdungen, mit denen der jetzige Metropolit von Ptolemais die Fußstapfen des Synesios auszufüllen versucht, als Lügen und Verleumdungen zu entlarven. Darum schrieb ich, darum schreibe ich Tag und Nacht.“

Prisca schreibt jedoch nicht nur gegen die Verleumdungen des Archidiakon Laokoon an, sondern auch um eine Glorifizierung wie die des Bischofs Martin durch Sulpicius Severus zu verhindern, da der Biograf den Bischof „mit seinen sechstausend Wundern aus unserer Welt allzusehr heraushob. Diese Art, über Menschen nach ihrem Tode zu verfügen, ist schlecht.“

Insofern stilisiert Prisca ihren Gatten in der Tat nicht als Heiligen, sondern stellt ihn als einen unabhängigen und kritischen Geist vor, der sich in den Wirren seiner Zeit zunächst zu behaupten vermag, dem aber die Intrigen um ihn herum auch stark zusetzen: „Ich hatte ihn zwar neben mir gehabt, hatte mit ihm zusammengesessen bei Tisch, aber es war ein anderer Synesios als früher, einer, der nicht mehr lachte, der die Stirn zusammenzog, Erinnerungen hegte, der an mir vorüberblickend schwieg, ein Mann, den das Leben beraubt hatte, der aber mit niemand darüber sprechen konnte, auch nicht mit seiner Frau – und ich konnte ihn verstehen, was wäre da auch zu besprechen gewesen“.

Am Ende unterliegt Synesios seinen Feinden – allen voran der General Andronikos – doch. Denn er lässt sich mittels eines fingierten Briefes in die Wüste locken, aus der er nicht wieder zurückkehrt. Und als schließlich nach kurzer Zeit Synesios‘ Gegenspieler Laokoon Metropolit von Ptolemais wird, begibt sich Prisca am Ende des Romans nach Alexandria. Dort wird sie schließlich nach einiger Zeit mit den Aufzeichnungen über Synesios beginnen, mit denen der Roman einsetzt.

In Alexandria muss Prisca zu Beginn ihrer Niederschrift miterleben, wie Hypatia, die Philosophin und Lehrerin ihres Mannes, von Teilen des Klerus‘ gejagt und umgebracht wird: „Und da – aus dem offenstehenden Maul des Tores – ich vernahm es wohl – dies Keuchen und Gestöhn von Männerstimmen, dies Geschrei und rachenhafte Geschmatz, das wir an den Käfigen der großen Katzen vernehmen, wenn sie am Tier sind. […] Ich sah, wie die Männer durch ein zweites Tor den Raum verließen, einer um den anderen, die Augen niedergeschlagen, den Kopf gesenkt, als hätten sie sich bei einer dem Ort entsprechenden Verrichtung erschöpft und wären nun sehr müde. Sie blickten sich nicht mehr um, dorthin, wo die Leiche auf dem Terrazzoboden lag, fast in der Mitte des runden Raumes.“

Prisca erinnert sich an die Zeit, als sie Synesios in Alexandria kennen- und lieben lernte. Nach der Heirat zieht sie mit ihm auf den vom Großvaters Doros erbauten Hof. Nach einer Reise nach Konstantinopel, um Steuererleichterungen zu erwirken, kehrt Synesios für kurze Zeit auf den Doroshof zurück. Einige Zeit in Kyrene lebend, kehren sie, um dem Gegner Andronikos aus dem Weg zu gehen, nochmals auf den Doroshof zurück. Schließlich wird der ungetaufte ‚Freigeist‘ Synesios zum Bischof von Ptolemais gewählt, nachdem er eine Reihe von Bedingungen gestellt hatte. Neben der Weiterführung seiner Ehe wie bisher will Synesios sowohl wissenschaftliche als auch dogmatische Freiräume: „Es gibt aber da noch eine Sorge, gegen die meine übrigen Einwände nichtig erscheinen mögen. Es dürfte wohl niemals einem Menschen gelingen, von Überzeugungen zu lassen, die sich aufgrund wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis in uns gefestigt haben. […] Die weitverbreitete Ansicht über die Auferstehung des Fleisches halte ich für eine fromme Legende und werde dem niemals zustimmen. Der Geist verhält sich zur Wahrheit wie das Auge zum Licht. […] Wenn es nun mit den bischöflichen Rechten und Pflichten zu vereinbaren wäre – was mir aber unmöglich erscheint –, daß ich mich zu Hause wissenschaftlich betätige, außerhalb des Hauses aber Mythen erzähle, dann könnte ich diese Würde annehmen. Wenn ich schon nicht lehren darf, was ich denke, dann belasse man mir meine Überzeugung und verlange nicht, daß ich etwas widerrufe.“

Als der Roman 1971 ein Jahr nach dem Tod von Stefan Andres erschien, sprach der Rezensent des „Spiegel“ von einem ‚lexikalischen Helden‘. Man muss sich jedoch auch mehr als vier Jahrzehnte nach seiner ersten Publikation nicht detailliert in der frühen Kirchengeschichte auskennen, um „Die Versuchung des Synesios“ mit Gewinn und Belehrung zu lesen, zumal ein fundierter Kommentar samt Nachwort die historischen Hintergründe profund erhellen. Die Bedeutung dieses historischen Romans mag auch nicht nur darin zu sehen sein, dass die zeitgeschichtlichen Bezüge während seiner Entstehung – wie Zweites Vaticanum oder die davor liegenden Jahre der Nazidiktatur – indirekt mitreflektiert scheinen. Die gleichermaßen beeindruckenden wie beklemmenden Bezüge zur Gegenwart liegen vielmehr darin, dass der Roman die historischen Schauplätze in Erinnerung ruft, die uns in Zeiten von religiösen Verfolgungen im heutigen Libyen, in Ägypten und in Teilen des heutigen Syrien täglich erreichen. Auch insofern gewinnen die in „Die Versuchung des Synesios“ wie auch in seinen essayistischen Schriften thematisierten Stichworte wie Toleranz oder politische Vernunft weitere Bedeutung.

Titelbild

Stefan Andres: Die Versuchung des Synesios. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
424 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783835311886

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