Was macht die moderne Literatur aus?

Mario Andreottis „Struktur der modernen Literatur“ erscheint in fünfter Auflage

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die moderne Literatur spielt mit dem Leser. Sie enttäuscht bewusst seine Erwartungen, liefert ihm widersprüchliche Informationen, stört kontinuierlich seine Identifikation mit den Figuren und befriedigt oft nicht mehr das konservative Bedürfnis nach Ausgleich und Harmonie. Diese neuartigen künstlerischen Gestaltungsweisen lassen den Interpreten manchmal ratlos, da sie als mit der traditionellen Hermeneutik nicht mehr greifbar erscheinen.

Aus diesen Gründen schlägt der Schweizer Germanist Mario Andreotti, wie schon in früheren Auflagen seines Sachbuches, eine von Strukturalismus und Formalismus inspirierte Interpretationsmethode vor, die darin besteht, die Tiefenstruktur des Werkes zu untersuchen: „Es gilt, den herkömmlichen Inhalt/Form-Gegensatz zu überwinden. An seine Stelle soll eine ganzheitliche Betrachtungsweise treten, die den literarischen Text als Verknüpfung inhaltlicher und formaler Elemente begreift, und zwar so, […] dass sich in der Form stets der Inhalt selbst ausdrückt.“ Dieses Gebilde bezeichnet er als „Struktur“, deren zwei zentrale Elemente Figuren- und Wirklichkeitsgestaltung darstellen. Mit der „strukturalen Textanalyse“ liefert er „ein Interpretationsverfahren, das nicht mehr von einzelnen Aussagen der Figuren, von festen Inhalten, ausgeht, sondern den Blick auf das Gegen- und Miteinander der Figuren, auf das Problem ihrer Gestaltung und auf die Thematik ihrer Struktur lenkt.“ Hierfür bedient er sich der Unterscheidung zwischen der Oberfläche (den konkreten Äußerungen) und der Tiefenstruktur (den elementaren semantischen und syntaktischen Beziehungen der Wörter untereinander). Da letztere über eine außerordentliche Stabilität verfügt, definiert der Autor die moderne Literatur nicht literaturgeschichtlich, sondern legt eine veränderte Tiefenstruktur als ihr einziges gemeinsames Merkmal fest. Dennoch seien literarische Erzeugnisse der Gegenwart nicht genuin „modern“, sondern trotz ihrer sprachlichen Modernität manchmal durchaus der traditionellen Literatur zuzurechnen, sofern ihre Tiefenstruktur auf traditionellen Mustern beruht.

Andreottis Sachbuch zur Literaturtheorie ist in zwölf Kapitel unterteilt und behandelt nach einem einführenden Teil sowohl die moderne Prosa als auch Lyrik. Dabei greift er neben den Klassikern auf zahlreiche Beispiele aus der jüngsten Gegenwartsliteratur zurück. Er bettet seine Erkenntnisse in die Gattungs- und Literaturgeschichte ein, sodass der Leser die allmähliche Entwicklung der Phänomene der modernen Literatur nachverfolgen kann. Sein Buch runden Arbeitsvorschläge zu den jeweiligen Themen, ein ausführliches Glossar der verwendeten Grundbegriffe sowie ein Namenregister ab. Hervorzuheben ist auch das letzte Kapitel, das zehn Merkmale einer „guten“ modernen Literatur zusammenfasst.

Zur Veranschaulichung seiner Thesen ist im Folgenden exemplarisch auf einige seiner Ausführungen einzugehen. Während die traditionelle Literatur eine kohärente Wirklichkeitsdarstellung anstrebe, in der alles Seiende in einem Sinnzusammenhang stehe (Mimesis), basiere die moderne Literatur auf der Erfahrung „einer auseinanderfallenden, sich in isolierte Sphären auflösenden ‚Wirklichkeit‘,“ was „im Grunde Ausdruck einer Auflösung des traditionellen Subjektbegriffs [ist], wie das schon Nietzsche, Freud und die Lebensphilosophie deutlich gemacht haben.“ Des Weiteren zeichnen sich traditionelle Werke durch einen festen Blickpunkt des Erzählers aus, „von dem aus sich die Einzelbilder zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenschliessen.“ In modernen Texten ist der Erzähler dagegen nicht nur häufig polyperspektivisch angelegt, sondern verschwindet oft ‚entpersönlicht’ hinter dem Text. Dieses Phänomen bezeichnet Andreotti als den „neutralen Erzähler“, der ohne zu deuten allein die Außensicht liefert, was die Identifikation des Lesers mit den Figuren erheblich erschwert. Dagegen wertet der „paradoxe Erzähler“ die Figuren oder das Geschehen im gleichen Maße „positiv“ wie „negativ“. „Aus struktureller Sicht handelt es sich [beim paradoxen Erzähler] um eine Sprengung der festen Erzählerposition und damit um einen Fall von Montage, so dass sich auch von einem montierten Erzähler sprechen lässt.“ Dies ist vor allem für den Leser folgenreich, denn es bedeutet, „dass er die gesicherte Perspektive im Text verliert, dass er sich nicht mehr mit einem ihm vom Erzähler zugespielten Standpunkt identifizieren kann.“ Die Figuren werden in traditionellen Texten vom Charakter aus konzipiert, wodurch sie eine naturgesetzliche, schicksalhafte Wirkung erhalten. In der modernen Literatur hingegen werden sie von ihren Handlungen aus im gesellschaftlichen Kontext definiert – und von Andreotti in Anlehnung an Bertolt Brecht als „gestische Figuren“ bezeichnet. Folglich ist unter einem „gestischen Text“ ein Werk zu verstehen, „in dem nicht mehr Figuren […], sondern ein Netz von Handlungen, die zu bestimmten Grundhaltungen oder Gestus verdichtet sind, die Sinnmitte bilden.“ So fordert Andreotti für die Interpretation moderner Texte „konsequent vom Text selbst, d.h. von der Organisation seiner Elemente, seiner Struktur, auszugehen“ und sie somit „nicht einfach als eine Summe von Einzelelementen […], sondern als ein Netz von Beziehungen, also paradigmatisch, zu lesen.“ Denn in modernen Texten sind die Figuren und Handlungen oft nur verstehbar, wenn sie als „Teile ganzer Figuren- und Handlungsreihen“ aufgefasst werden.

Trotz der Kohärenz der vorgeführten Interpretationen mag der verwendete Begriff der Montage dem Leser einige Verständnisprobleme bereiten. Bei seiner Herleitung des Terminus zeichnet Andreotti als Konsequenz aus Nietzsches Subjektkritik und Freuds Untersuchungen zur Triebnatur des Menschen die zunehmende Abwendung von der anthropozentrischen Weltsicht bis zur „Ichdissoziation“ oder „Ichauflösung“ und somit zum „Subjekt der Vielheit“ in der modernen Literatur nach. „In der These von der Vielheit des Subjekts, der Auflösung wurzelt denn letztlich auch der Montagestil der ‚grossen‘ modernen Romane […] und nicht so sehr in der Technik des Filmes, wie immer wieder behauptet wurde.“ Im Verlauf der Lektüre wird der Leser jedoch von Andreotti mit immer neuen Facetten des Begriffs konfrontiert, wodurch dieser zunehmend seine Schärfe verliert. So definiert der Autor beispielsweise auch die im Text vorzufindenden „Zitate“ als „Zitatmontage“: „Es handelt sich dabei um eine Form der Textmontage, nämlich um die Montage eines als Fremdtext erkennbaren Materials. Man verwendet dafür […] den Begriff der ‚Collage‘.“ Da der Begriff der Montage bereits konnotativ ‚vorbelastet’ ist, wäre es womöglich nachvollziehbarer, von einer „Konstruktion“ bzw. von einem „konstruierten“ Erzähler oder Roman zu sprechen.

Aus Platzgründen ist es nicht möglich, auf alle von Andreotti angeführten Charakteristika der modernen Literatur einzugehen. Diese Reduktion, die, nebenbei bemerkt, auch ein Merkmal der modernen Literatur darstellt, ist hier ein gewolltes Manöver und zielt darauf, den Leser zu einer eigenständigen Lektüre dieses Werkes zu bewegen. Ein Blick hinein lohnt sich allemal.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Mario Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techniken des Schreibens: Erzählprosa und Lyrik.
Mit einem Glossar zu literarischen, linguistischen und philosophischen Grundbegriffen. 5. Auflage.
UTB für Wissenschaft, Bern 2014.
488 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783825240776

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