Weltweites Fischernetz von Erzählungen

László Krasznahorkai umrundet die Erde in 22 Skizzen

Von Bernd SchneidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Schneid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den 1954 in Ungarn geborenen Schriftsteller László Krasznahorkai kennt man unter anderem durch die Verfilmung seines Romans „Satanstango“von Béla Tarr. Die siebeneinhalbstündige Kinoreise soll der durchschnittlichen Lesezeit des Buches entsprechen und führt in ein kafkaeskes Dorf, das der Zeit entrückt ist. Mit „Die Welt voran“ liegt nun die hervorragende deutsche Übersetzung von László Krasznahorkais 2013 in Ungarn erschienenem Buch „Megy a világ“ vor. Vom Aufbau gliedert sich dieses in die drei Teile „Redet“, „Erzählt“ und „Verabschiedet sich“, denen zu Beginn das Pronomen „Er“ als mögliche Erzählinstanz vorangestellt wird. Ob dieses „Er“ auf einen zuverlässigen Erzähler oder einen Protagonisten verweist, ist schwer zu entscheiden. Überhaupt ist das Buch kaum zu kategorisieren, da ihm kein Titel wie „Roman“, „Stories“ oder „Erzählungen“ vorangestellt wird. Insgesamt sollte man „Die Welt voran“ aber als Roman betrachten, auch wenn er keine „Handlung“ im herkömmlichen Sinne bietet. Denn László Krasznahorkais Prosa, die im englischsprachigen Raum eine erfreuliche akademische Zuwendung erfährt, muss in einer Linie mit Georg Lukács Feststellung für die Gattung des Romans der Moderne betrachtet werden, als Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit des fragmentierten Subjekts in einer nicht geschlossenen Welt.

So geht László Krasznahorkai auch hier seinen eigenen Weg mit Zirkussen, die verrottende Wale in kleine Dörfer bringen und die keinen Kapitän Ahab mit Harpune mehr haben, sondern längst zerstört und untergegangen sind. Verweise zu Krasznahorkais anderen Büchern sind hier spannend nachzuverfolgen und machen den Reiz seiner ineinandergreifenden Fiktion aus. In „Die Welt voran“ wird denn auch die Zukunft einer globalen (nicht globalisierten) Welt entworfen, in der es ebenfalls um das „Nichts“ in der Unendlichkeit eines Beckett’schen Landstreichertums geht, wie um die unumgehbaren Machtmechanismen bei Kafka. Als beider Sohn kann man Krasznahorkai sicher bezeichnen. Krasznahorkais Prosa erweitert sich allerdings um ein weltweit umspanntes Nomadentum des Menschen in der Gegenwart, ob in Los Angeles, Kyoto, Budapest oder Schaffhausen. So gehen die Figuren von der Landstraße ins dichte Netz der Metropolen und wieder zurück. Der Standpunkt ist relativ, wie auch die Unschärfe des technisierten Weltbildes. Wichtig ist stets die Erfahrung, die Beobachtung und das Gefühl, das durch die fragmentierten und doch immer verbundenen Szenen eingefangen wird: „und dass es keine Geschichte gebe, nur die gibt es, Milliarden von Geschichten und tausend Milliarden und tausendmal tausend Milliarden, ich breche hier ab, und dass es keine Geschichten gebe, wir bestehen doch nur aus Geschichten, es ist eine andere Frage, dass wir die MITTE dieser Geschichten einfach nicht finden“.

Man mag László Krasznahorkai eine hermetische Erzählwelt vorwerfen. Weit führt diese Feststellung allerdings nicht. Oft ist es mühsam, manchen Passagen zu folgen und einen Halt in dieser Prosa zu finden. Das liegt in der Natur dieser Art von Prosa. Als Leser muss man sich aber klar machen, dass es in diesen Erzählungen keinen einfachen und eindeutig feststellbaren Sinn geben kann, keine einheitliche Handlung mit Exposition, Hauptteil und Schluss. Nein, László Krasznahorkai reflektiert mit seinem tiefgehenden „Reden“ und „Erzählen“ die Mannigfaltigkeit der Gegenwart und deutet auf eine mögliche Zukunft hin. Diese versinkt nicht in der Depression des Vergangenen, sondern schreitet voran. Die letzte Skizze „Ich brauche nichts von hier“ beendet das mit einem utopischen Moment. Es ist die Welt, die mit Krasznahorkais Figuren voran geht. Sie geht weiter. So oder so.

Inhaltlich kann man diese unumgängliche Melancholie mit den beiden im Roman zentralen Motiven vom Turiner Pferd und Juri Gagarins frühem Tod zusammenbringen. Die verbreitete Anekdote, die über Friedrich Nietzsches geistigen Zusammenbruch 1889 in Turin kursiert, wird von Krasznahorkai in „Spätestens in Turin“ aufgenommen und dient ebenfalls in Bela Tárrs letztem Film „Das Turiner Pferd“ als Titelgeber und Eingangstext. László Krasznahorkai lässt seinen Erzähler hier die Frage stellen, warum nur über Nietzsches Zusammenbruch philosophiert wird, niemand aber über das Schicksal des misshandelten Pferdes Fragen stellt. Das erinnert nicht von ungefähr an Bertolt Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“. Denn Mitgefühl mit dem Ungesehenen ist das zentrale Motiv, das um Krasznahorkais Prosaskizzen kreist. Es ist ein Mitgefühl, das letztlich nur die Melancholie um die transzendentale Obdachlosigkeit in der Welt verdeutlicht. Beispielhaft stellt Krasznahorkai den Sturz des als Volkshelden verehrten Kosmonauten Juri Gagarin heraus. Dessen vermutete Alkoholsucht wird zu einer spannenden Spurensuche, die der Erzähler mit der Trauer um die einstige Sowjetunion verknüpft.

Zusammenfassend kann man sagen, dass László Krasznahorkai in „Die Welt voran“ Erzählbrücken von unnachahmlichem Reiz aufbaut, die den Globus wie ein weltweites Fischernetz umspannen. Es ist das, was die transzendentale Obdachlosigkeit auf einer im All verlorenen Erde sein kann: ein delirierendes Meer an Möglichkeiten. Das ist dann vielleicht doch wieder die Jagd Kapitän Ahabs nach dem weißen Wal, in der Tradition der American Renaissance stehend. Nur dass dieser Wal in „Die Welt voran“ zum „Schwan von Istanbul“ wird, dessen weiße Federn zur schönsten Metapher für das leere Buchblatt selbst werden. In diesem Sinne muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden: László Krasznahorkais neues Werk kann für eine zeitgenössische Literatur jenseits einheitlicher Plotstrukturen und Trick Stories gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Titelbild

Laszlo Krasznahorkai: Die Welt voran.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Heike Flemming.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
416 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783100422217

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