Kein Kirschgarten

Über „Anton Tschechows Reise nach Sachalin“

Von Almut VierhufeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Vierhufe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sei eines der „merkwürdigsten Bücher der Weltliteratur“: Gemeint ist Anton Tschechows 1895 erschienener Reisebericht Die Insel Sachalin. Leider kann man sich selbst zurzeit kein eigenes Urteil über Tschechows sicher am wenigsten bekanntes Buch machen: Es ist vergriffen, selbst antiquarisch ist es kaum zu erwerben, und trotzdem: Es ist den bewährten, sorgfältig bearbeiteten, kommentierten und bibliographisch geradezu liebevoll gestalteten Heften des Deutschen Literaturarchivs Marbach (DLA) zu danken, dass man quasi von außen Einblick in Tschechows Buch erhält. Ferne Spuren I, Tschechows Reise nach Sachalin gewidmet, ist gleichzeitig der Auftakt zu einer neuen Reihe des DLA, die die Reihe Spuren – die überwiegend die Wirkungsstätten deutscher Dichter und Denker vorstellt – erweitert und ergänzt.

Das 47 Seiten umfassende Heft ist eigentlich ein kleiner Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, die von September 2014 bis Mitte Februar 2015 in Marbach und in Tschechows Sterbeort Badenweiler zu sehen war. Ferne Spuren I leistet jedoch mehr als bloße Ausstellungsbegleitung. Das Heft ist zweigeteilt: Der erste Teil zeichnet den Anlass, Verlauf und die Ergebnisse, also den schriftstellerischen Ertrag der Reise nach; im zweiten Teil sind insgesamt 50 Fotografien aus Tschechows Sachalin-Sammlung abgedruckt, die hier überhaupt zum ersten Mal zu sehen sind.

Den Anlass zu seiner „Weltreise“ (wie zeitgenössische Medien den Plan nennen) hält Tschechow selbst eher im Vagen: Er sei kein Humboldt oder Kennan, seine eigenen Ambitionen für die Reise entsprächen beileibe nicht dem eines empirisch arbeitenden Wissenschaftlers, eher wolle er seinem bisherigen, selbst als nutzlos empfundenen Leben entfliehen. Doch diese Selbsteinschätzung täuscht. Akribisch bereitet sich Tschechow auf die Reise vor („Im Kopf und auf dem Papier nichts anderes als Sachalin“), und das Interesse am zeitgenössischen russischen Strafvollzug, besonders an der „Katorga“, der (meist lebenslänglichen) Verbannung unter Aberkennung aller Bürgerrechte, teilt er mit weiteren gesellschaftspolitisch engagierten Intellektuellen seiner Zeit, wie etwa Dostojewski und Tolstoi. Sachalin, eine Insel im äußersten Osten Russlands, nördlich von Japan gelegen, diente der „Katorga“ besonders seit 1875; Sachalin ist eine Strafkolonie, wobei der Begriff „Kolonie“ ganz wörtlich zu nehmen ist: Die Sträflinge wurden nach Verbüßung ihrer Strafe, die neben Zwangsarbeit auch andere drakonische Maßnahmen einschloss, auf Sachalin „angesiedelt“. Gleich zwei Ziele erreichte das zaristische Russland damit: „Kriminelle und politisch Unerwünschte“ wurden aus der Gesellschaft „entfernt“ und somit „unsichtbar“, und das an Bodenschätzen reiche Gebiet konnte erschlossen und besiedelt werden.

Tschechows Route, die auf einem kleinen, dem Katalog beigelegten Faksimile einer aus den 20er-Jahren stammenden geographischen Karte nachgezeichnet ist, war der Zeit und den Umständen geschuldet, nicht nur ein Abenteuer, sondern eine an die Grenzen der körperlichen Belastbarkeit des bereits an Tuberkulose erkrankten Tschechow gehende Strapaze: Tschechow bricht am 21. April 1890 in Moskau auf und erreicht Sachalin am 11. Juli; sein Aufenthalt dort dauert drei Monate: Mit behördlichen Dokumenten ausgestattet, die ihm den Besuch, die Besichtigung und somit auch die Dokumentation der „Insel des Elends“, wie Tolstoi Sachalin nennt, erlauben, beginnt Tschechow eine Art Volkszählung – Kontakte zu und direkte Gespräche mit den Strafgefangenen sind ihm strengstens untersagt, ebenso die Nachfrage nach dem Grund der Verbannung: Politische Verfolgung im Zarenreich sollte nicht publik werden. Von diesen Ermahnungen lässt sich Tschechow nicht berirren. Bei seinem dreimonatigen Aufenthalt lernt er nicht nur die gesamte Insel kennen (Nord- und Südsachalin unterschieden sich im Grad des Elends, das er sieht, erheblich); er erkundet den Alltag sowohl der Sträflinge als auch der „Siedler“, besucht Gefängnisse und Siedlungen, und führt sehr wohl auch ausführliche Gespräche mit Gefangenen, die ihm, der ihnen gegenüber große Empathie zeigt, ungewöhnlich vertrauensvoll begegnen. Seine Rückreise führt ihn über Wladiwostok, Hongkong, Singapur und letztlich nach Ceylon – ein Kontrast, wie er größer nicht sein kann und von dem er selbst sagt, er sei wie „Hölle“ und „Paradies“ gewesen.

Seinen schriftlichen Ertrag der Sachalin-Reise verarbeitet Tschechow ab 1891 zunächst in kleineren Berichten, die sukzessive erscheinen und tatsächlich Wirkung zeitigen: Unter dem Druck der Veröffentlichung kommt es auf Intervention der Justizbehörden immerhin zu einigen Verbesserungen der Lebensbedingungen der Verbannten. Sein gesamtes spätes literarisches Werk sieht Tschechow von seiner Reise und von seinem Reisebericht Die Insel Sachalin, der 1895 in Buchform erscheint und viel mehr als eine Beschreibung der Sachalinschen Katorga ist, beeinflusst: Diese Erfahrungen bedeuteten für Tschechow, so der Begleittext des Heftes, eine „biografische Zäsur“ und hätten ihm eine „neue literarische Ethik“ gegeben, die Tschechow zu bewusster Wahrnehmung des gesellschaftspolitischen Lebens seiner Umwelt gemahnte.

Der ungarische Schriftsteller und Historiker György Dalos wiederholt im Jahre 2000 die Reise Tschechows nach Sachalin, die er 2001 ebenfalls schriftlich dokumentiert (Die Reise nach Sachalin. Auf den Spuren von Anton Tschechow). Dies reanimierte die Erinnerung an Tschechows „grobe[n] Häftlingskittel“, wie er selbst sein Buch über Sachalin nannte. Jedoch: Man wird des Buches, wie anfangs erwähnt, nicht mehr habhaft. Eine kommentierte und mit dem reichen zeitgenössischen fotografischen Material illustrierte Neuauflage ist dringend erwünscht.

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Thomas Schmidt (Hg.): Anton Tschechows Reise nach Sachalin. (Ferne Spuren I).
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2014.
47 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-13: 9783944469096

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