Neurofeminismus

Ein von Sigrid Schmitz und Grit Höppner herausgegebener Tagungsband bietet „Feminist and Queer Perspectives on Current Brain Discourses“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich wurde die Neue Frauenbewegung der 1970er-Jahren zwar nicht ausschließlich, aber doch ganz überwiegend von Studentinnen initiiert. Inzwischen sind sie längst zu Akademikerinnen heranreift, von denen wiederum einige den Wissenschaften treu geblieben sind und nunmehr selbst zu den Lehrenden zählen. In Zuge dieser Entwicklung entsprangen dem Schoße des Feminismus einige Jahrzehnte nach dem berühmten Tomatenwurf auf das Podium einer SDS-Delegiertenversammlung die Gender Studies. Das dies ein Reifungsprozess gewesen sei, sehen allerdings durchaus nicht alle heutigen FeministInnen so. Vielmehr wird mancherorts beklagt, dass damit dem theoretischen Standbein das praktische Spielbein abhandengekommen sei. Doch dies sei nur am Rande angemerkt.

Jedenfalls ist heute die ganz überwiegende Anzahl der feministischen und der Gender-Theoretikerinnen zwar in den Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften beheimatet, gerade so wie damals die studentischen Aktivistinnen der Frauenbewegung. Doch gibt es von jeher auch einige feministische Wissenschaftlerinnen, die sich auf dem Feld der Naturwissenschaften bewegen und ebendort nicht wenig bewegt haben. Es sei nur an Donna Haraway, Evelyn Fox Keller oder Anne Fausto-Sterling erinnert. Und auch dort, in den Naturwissenschaften, entwickelte sich die feministische Theorie zur Gender-Theorie.

Für eine ganz spezifische Disziplin, die Neurobiologie, genauer gesagt für die nicht eigentlich den reinen Naturwissenschaften sondern den genuin interdisziplinär arbeitenden Humanwissenschaften zuzurechnende Hirnforschung zeichnen Sigrid Schmitz und Grit Höppner in ihrem instruktiven Text „Catching the Brain Today“ die Entwicklung „from neurofeminism to gendered neurocultures“ nach.

Ihr Befund, dass die  Neurowissenschaft als eine der heute führenden wissenschaftlichen Disziplinen „a key area of research on the question of what constitutes the ‚human‘“ ist, wird wohl kaum auf Widerspruch stoßen. Kontroverser dürfte in der Mainstream-Forschung ihrer Disziplin hingegen ihre Kritik an eben dieser diskutiert werden. Dabei haben sie allerdings alle guten Argumente auf ihrer Seite. So etwa, wenn sie darlegen, die unreflektiert vorausgesetzte Präsumtion, dass es zwei Geschlechter gibt, schaffe eine „different-orientated“ Methode in der Hirnforschung, die unterstellt, jede der beiden Gruppen sei „inherently homogenous“. Tatsächlich aber sind die Unterschiede innerhalb der jeweiligen Geschlechtergruppen weit größer als der Durchschnittsunterschied zwischen ihnen.

Dem Malestream der Hirnforschung setzen Schmitz und Höppner dieTheorie und Methode des Neurofeminismus entgegen. Er zeichnet sich gegenüber jenem etwa durch das „plasticity concept“ aus. Dieses Konzept berücksichtigt nicht nur, dass die bildgebenden Verfahren der Hirnforschung keineswegs das abbilden, was im Gehirn geschieht, sondern dem jeweiligen Forschungsinteresse gemäß bearbeitet und konstruiert sind. Soweit sind sich dessen alle Hirnforschende sehr wohl bewusst, auch wenn es durch die populär-mediale Transformation in der Öffentlichkeit anders dargestellt wird. „Plasticity concepts“ gehen jedoch noch einen Schritt weiter und weisen darüber hinaus darauf hin, dass es sich bei diesen bearbeiteten Bildern zudem nur um Moment‚aufnahmen‘ handelt, die nichts darüber aussagen, wie die durch sie bezeugten geschlechtsspezifischen Unterschiede zustande gekommen sind. Denn „results of brain scans […] cannot provide information on the process that hat led to developments, neither in nature nor in culture“. Wie das Autorinnenduo zeigt, hält das „plasticity concept“ aber auch Herausforderungen für den Neurofeminismus selbst bereit. Denn „the network of brain and sex/gender is constituted through an ongoing dynamic process of biological, psychosocial, and sociocultural intra-actions“. Auch schützt es keineswegs vor essentialistischen Konzepten, die Ursache und Wirkung einfach umkehren.

Überzeugend ist auch die von den Autorinnen angeführte Begründung für den Neologismus „sex/gender“. Er trägt nicht nur dem Umstand Rechnung, dass „sex is not a pure bodily or material fact but is deeply interwoven with social and cultural constructions“, sondern er stellt die Grenze zwischen Sex und Gender überhaupt in Frage. Der Begriff „sex/gender“ wurde entwickelt, „to emphasize the inextricable entaglements in such a bio-cultural approach“.

Schmitz und Höppner leiten mit ihrem informativen Text in das von ihnen herausgegebene Buch „Gendered Neurocultures. Feminist and Queer Perspectives on Current Brain Discourses“ ein. Die Autorinnen des auf die im September 2013 an der Universität in Wien abgehaltene Tagung „NeuroCultures – NeuroGenderings II“ zurückgehenden Bandes stammen aus diversen europäischen Ländern, den USA, Kanada sowie aus Australien. Wie die Herausgeberinnen betonen, ist die Gruppe der Beitragenden „not homogeneous, neither in its disciplinary connection to this field nor in its perspective on neurosience and current neurocultures or concerning the theoretical assumptions and conclusions“.

Schmitz und Höppner haben die Beiträge zu vier Rubriken zusammengefasst. Deren erster Teil „aim to ‚improve neuroscience‘ by providing ‚neurofeminist empirical critique and approaches for a more gender-adequate research‘“. Die Aufsätze des zweiten Teils „discuss and question concepts in current brain research and their consequences for theorizing critical neurosiences“. Der dritte Teil diskutiert „the outcomes and implications“ gegenwärtiger Hirnforschung bezüglich „social issus“. In der vierten Rubrik werden „approaches to gender-sensitive neuro-pedagogies“ erörtert.

Die vier Rubriken lassen die Vielfalt der Themen und Zugangsweisen deutlich hervortreten. Anelis Kaiser etwa informiert über „the (im)possibility of a feminist and queer neuroexperiment“, während Hannah Fitsch „visual knowledge in fMRI and its implications for research practice“ problematisiert. Svenja Matusall macht die Alternative „gendering sociality or socialising gender“ auf. Caren O’Connell geht dem „gender of ‚aggressive behavior‘“ auf den Grund. Victoria Pitts-Taylor eröffnet „feminist and neurocognitive perspectives on embodyment“. Die Herausgeberinnen selbst fokussieren in einem gemeinsam verfassten Beitrag über „neuroenhancement and success“ auf populär-mediale Darstellungen pharmazeutischer Modifizierungen und Optimierungen des menschlichen Hirns. Hierzu unterziehen sie 21 bei „Spiegel online“, „Zeit online“, „sueddeutsche.de“ und „stern.de“ veröffentlichte Artikel einem „gendered re-reading“.

Heidi Maibon und Roby Bluhm zeichnen hingegen nach, wie die Hirnforschung seit ihren Schädel und Hirn vermessenden Anfängen im 19. Jahrhundert ungeachtet aller bislang stets vergeblichen Versuche nach wie vor daran festhält, präsumierte Geschlechterunterschiede im Gehirn nachweisen zu wollen. Von den frühen Messungen des Schädel- und Hirnumfanges über Größenvergleiche weiblicher und männlicher Gehirne und der These einer für Logik zuständigen linken Hirnhälfte, die bei Männern dominiere sowie einer für Emotionen zuständigen rechten, die bei Frauen dominiere, die wiederum von der Annahme abgelöst wurde, dass beide Hirnhälften bei Frauen enger verbunden seien, mussten alle Versuche, geschlechtsspezifische Unterschiede im Gehirn nachzuweisen, verworfen werden. Dennoch wird „regardless of what their data actually show“ unverdrossen daran festgehalten, dass sich anhand von Hirnen ein Geschlechtsunterschied nachweisen lasse. Doch ganz abgesehen davon, ob geschlechtsspezifische „internalized behavioral tendencies“ nun tatsächlich kulturell oder biologisch bedingt sein mögen, so wirken sie sich doch in jedem Fall weitaus geringer auf das tatsächliche Verhalten einer Person aus als das „enviroment“, in dem sie sich gerade befindet. Bayborn und Bluhm konstatieren weiter, „that people are motivated to confirm the stereotype associated with their gender role“. Auf dieser Einsicht fußt ihre Erkenntnis, dass „even saying in a consent form that researchers are looking at (for?) these differences may be enough to induce stereotype threat, or to encourage participants to try to ‚live up to‘ positive stereotypes“. Darum fordern sie, nicht einfach nach Männern und Frauen zu unterscheiden, wenn untersucht wird, welche Faktoren beobachtbare Unterschiede von Hirnaktivitäten  hervorrufen, sondern auch zu schauen, „wether brain activity corralates with other variabilities“.

Daphne Joel wiederum legt in ihrem Beitrag „Sex, Gender, and Brain: Problem of Conceptualization“ die „assumptions that underlie our thinking about sex and sex differenzes, especially in the domains of brain and gender“, offen. Gender sei zwar nicht einfach „one of the traits people have“, sondern ein soziales Kategoriensystem, das zahlreiche Aspekte des individuellen Lebens tangiert, dennoch benutze sie den Ausdruck in dem vorliegenden Text meist um sich auf Verhaltensweisen, persönliche Charakteristika, kognitive und emotionale Fertigkeiten und Vorlieben zu beziehen. Den Ausdruck Sex versteht sie hingegen als Attribut des Organismus, wobei sie sich in ihrem Artikel auf den von ihr so genannten „3G-sex“, also genetische, gonadale und genitale Geschlechtsmerkmale, bezieht. Diese unter 3G-sex zusammengefassten Geschlechtsmerkmale gewährleisten zwar insofern eine hoch dimorphe Unterscheidung, als bei 99% der Menschen alle drei Kriterien entweder weiblich oder aber männlich sind. Nur bei einem Prozent treten zwei Merkmale des einen Geschlechts gemeinsam mit einem des anderen auf. Daraus lasse sich allerdings keineswegs ableiten, dass andere menschliche Bereiche wie etwa das Gehirn ebenfalls in so hohem Grade zweigeschlechtlich organisiert seien und es weibliche und männliche Gehirne gäbe. Dazu spielten zu viele andere Faktoren eine Rolle. Gehirne, lautet ihr überzeugend hergeleitetes Fazit, sind zwar neben zahlreichen anderen biologischen, gesellschaftlichen und biographischen Faktoren auch vom Geschlecht beeinflusst, aber sie haben kein Geschlecht.

Zwar handelt es sich bei den Texten nicht ausnahmslos um Erstveröffentlichungen, Cordelia Fine hat ihren Aufsatz „The Potential Self-Fullfilling Effects of ‚Hardwired‘ Accounts of Sex Differences“ zuvor bereits andernorts publiziert, doch sind die insgesamt achtzehn Beiträge fast ausnahmslos gleichermaßen erhellend. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass die Darlegungen und Argumentationen der Autorinnen auch für Menschen, die nicht im Bereich der Hirnforschung tätig sind, ohne weiteres verständlich und nachvollziehbar sind.

Titelbild

Sigrid Schmitz / Grit Höppner (Hg.): Gendered Neurocultures. Feminist and Queer Perspectives on Current Brain Discourses.
Contemporary challenges of_within Gender Theory. Vol. 2.
Zaglossus, Wien 2014.
402 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783902902122

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