Tragödie, das ist, wenn es tragisch ist

Wozu begriffliche Ungenauigkeit führt, zeigt der Band „Tragedy and the Tragic in German Literature, Art and Thought“

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Tragödie, sagt Aristoteles, „ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe“. Er führt das noch weiter aus, darum müssen wir uns jetzt aber nicht kümmern. Wichtig ist nur, dass in den mehr als zweitausend Jahren, die seitdem vergangen sind, viele Menschen viele Dinge über die Tragödie gesagt haben. Um das zu überblicken, könnte man vereinfachend von drei Phasen sprechen: Einer poetologischen, die auf die Wirkung der Tragödie als literarischer Gattung konzentriert ist (von Aristoteles bis Lessing), einer philosophischen, in der das Tragische an sich ins Zentrum rückt, mithin das Wesen der Tragödie beleuchtet wird und nicht mehr ihre konkrete Gestalt (Schiller/Schelling bis Nietzsche/Benjamin) und schließlich eine vom zwanzigsten Jahrhundert bis heute andauernde dritte Phase, die primär von der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit einem Gegenstand geprägt ist, der kulturell enorm an Bedeutung verloren hat (Szondi, Greiner).

Vertieft man sich nun in diese lange Begriffsgeschichte, erkennt man rasch, dass ,Tragödie‘ und ,Tragisches‘ sich einer einheitlichen Definition ebenso widersetzen wie etwa die Termini des Wortfelds ,Lyrik‘. Auf der anderen Seite kann man mit Blick auf die reiche Tradition zumindest so viel sagen: Die umgangssprachliche Verwendung des Worts ,Tragödie‘ für alle kleineren und größeren Unglücksfälle des Lebens oder die großen, menschheitsgeschichtlichen Katastrophen verbietet sich im fachlich präzisierten Diskurs. Was dabei herauskommt, wenn man es dennoch tut, kann man aktuell in dem von Stephen D. Dowden und Thomas P. Quinn herausgegebenen Tagungsband „Tragedy and the Tragic in German Literature, Art and Thought“ bestaunen. 

Natürlich kann man tragischen Elementen in anderen Kunstformen nachspüren. Sinnvoll wäre dies etwa, um den oft behaupteten Tod der Tragödie auf den Prüfstand zu stellen: Haben sich womöglich Spuren des Tragischen in anderen, zeitgemäßeren Kunstformen als der ursprünglichen erhalten?  „Vestiges of the Tragic“ sammelt denn auch Mark W. Roches Beitrag, der als Auftakt zur Sammlung getaugt hätte, stattdessen aber sein Dasein nahe des Endes fristen muss. Roche wischt weite Teile der Begriffsgeschichte vom Tisch, um zu einer ebenso basalen wie wenig nützlichen Typologisierung der Tragödie zu schreiten. Der zufolge gibt es drei Arten des Tragischen: „self-sacrifice“, „stubbornness“ und „collision“. Der erste Typ, für den Hochhuths „Stellvertreter“ (seinerseits Nachklang des schillerschen Dramas) als Exemplum angeführt wird, ist in dieser Aufzählung die einfachste und melodramatischste Form. Hier schon zeigt sich die fatale Beschränktheit von Roches Zugang: Anstatt Varianten des Tragischen aufzuzeigen (sofern das überhaupt möglich ist – diese Frage stellt sich ihm gar nicht), präsentiert er Formen der Tragödie, die er normativ reiht. Wenn er dem Selbstopfer melodramatische Züge zuspricht, verkennt er den philosophischen Gehalt des Tragischen, der dem Melodrama in dieser Form fehlt. Hätte er seinem Kollegen James McFarland und dessen Ausführungen zu „Walter Benjamin‘s Interruption of Nietzsche‘s Theory of Tragedy“ aufmerksam gelauscht, hätte er sich daran erinnern können, dass dem (Selbst-)Opfer in der Tragödie eine zentrale, gleichermaßen metaphysische wie geschichtsphilosophische Bedeutung zukommt, die es von der viel jüngeren, viel boulevardeskeren Form des Melodramas unterscheidet. Und nicht anders bilden ,Starrköpfigkeit‘ und ,Kollision‘ nur Varianten des Dramas beziehungsweise des Handlungsaufbaus, nicht aber der Tragödie bzw. des Tragischen.

Roches Aufsatz ist symptomatisch für die Sammlung. Der schwammig-unklare Gebrauch der Termini erlaubt Konstellationen wie „Nietzsche, Büchner, and the Blues“ (Dowden), die letztlich nur dadurch zusammenhalten, dass das Tragische das Traurige sei – was natürlich schon beim Blick auf die aischyleischen „Eumeniden“ unhaltbar wird, erst Recht aber mit der romantischen Philosophie des Tragischen (Schelling, Hegel), die dessen Ausgang in der Harmonie sieht. Tragödien sind in diesem Sinne nicht zwingend Trauerspiele und umgekehrt. Auch die Konstellation der goetheschen „Wahlverwandtschaften“ (Quinn) ist nur dann ,tragisch‘ zu nennen, wenn man damit ihren unglücklichen Charakter meint – was freilich so viel wie Nichts bedeutet. Besonders unsinnig scheint es schließlich, dass Karen Painter in ihrem Beitrag („Requiem for the Reich“) über musikalische Rundfunkprogramme und Aufführungen zwecks stiller (und heimlicher, da von den Nationalsozialisten verbotener) Trauer um die toten Soldaten von „Tragic Programming“ spricht, sind doch weder die Werke (überwiegend Requien) noch der Kontext ihrer Aufführung im strengen Sinne tragisch zu nennen. Überhaupt ist die insbesondere in Vor- und Nachwort vorgenommene Kontextualisierung von (deutscher) Tragik und Holocaust zwar richtig und wichtig, wenn man mit Adorno sprechend nach den Bedingungen der Möglichkeit der Tragödie nach dem Massenmord fragt, aber auch fruchtlos, wenn Tragik dann mehr oder weniger Alles und Nichts ist, was Kunst in Deutschland zuvor und seitdem hervorgebracht hat.

Die rühmliche Ausnahme bildet der bereits erwähnte Text von James McFarland. Er scheint seine Termini als einziger auf ein brauchbares Maß komprimiert zu haben, was nicht zuletzt seinem Gegenstand geschuldet sein dürfte. Klug verortet er Walter Benjamins verschiedene Tragödie/Trauerspiel-Schriften im geistesgeschichtlichen Kontext, setzt sie in Beziehung zu Nietzsche, Rang, Rosenzweig und Lukács und gewinnt daraus einen konzisen Blick auf die Bedeutung des Tods in der Tragödie, wie er von Benjamin erfasst wird, nämlich als kritische Affirmation und affirmative Kritik von Gesellschaft und Ritus.

Im Ganzen aber fallen die Aufsätze dieser Sammlung noch hinter die aristotelische Bestimmung zurück: Sie begreifen die Tragödie als das Traurige einer Handlung. Damit lässt sich wenig anfangen, ist die Diskussion dem doch um – wer hätte gedacht, dass man dies einmal würde sagen müssen – Jahrtausende voraus. Das ist umso ärgerlicher, als eine straffere Definition bei gleichzeitiger Anwendung auf die vielfältigen hier verhandelten Bereiche (erwähnt seien noch Anselm Kiefer, Freud und W. G. Sebald) womöglich wirklich neue Einsichten und Impulse hätte liefern können, die der Auseinandersetzung mit dem Tragischen sehr gut getan hätten.

Titelbild

Stephen D. Dowden / Thomas P. Quinn (Hg.): Tragedy and the Tragic in German Literature, Art and Thought.
Camden House, Rochester, New York 2014.
370 Seiten, 65,00 EUR.
ISBN-13: 9781571135858

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch