Ein kaum bekannter Völkermord

Warum die April-Ausgabe von literaturkritik.de über den Genozid an den Armeniern berichtet, der vor 100 Jahren in der Türkei begangen wurde

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

„Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“, spottete Adolf Hitler am 22. August 1939 auf dem Obersalzberg. Damit wollte er sagen, dass auch die Ermordung der europäischen Juden, die mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wenige Tage später definitiv einsetzen sollte, nach ihrer Vollendung niemanden in der Welt mehr sonderlich interessieren werde. Dass im April 1915 bis zu 1,7 Millionen Armenier in der Türkei abgeschlachtet worden waren, ohne dass dies über zwanzig Jahre danach noch irgendjemanden kümmerte, nahm Hitler seinerzeit zum Anlass, seine eigenen Vernichtungspläne gelassen in Angriff zu nehmen.

Auch Machthaber, die selbst einen Genozid durchführen wollen, lernen aus der Geschichte. Man muss ihnen dabei endlich einen Strich durch die Rechnung machen. Man muss an ihre Massenmorde wieder und wieder erinnern, damit sich Verbrechen, die den Diktatoren dieser Welt als Präzendenzfälle der Straflosigkeit von Völkermorden galten oder nach wie vor gelten können, in Zukunft nicht mehr wiederholen werden. Keine dieser Taten darf weiter vergessen, bagatellisiert oder geleugnet werden. 

Andernfalls kann sich der Einsatz von Giftgas in Syrien oder anderswo umso leichter wiederholen, terroristische Organisationen wie Boko Haram in Nigeria oder der „Islamische Staat“ (IS) im Nahen Osten vermögen umso erfolgreicher um gewaltbereite Nachwuchs-Massenmörder in aller Welt zu werben, und irgendwann könnte irgendwer vielleicht doch noch auf die Idee kommen, ganz entspannt auf einen Knopf drücken, um die erste Atombombe seit 1945 auf ihren Weg zu schicken – zum Beispiel im Iran. Oder in Pakistan. Oder Nordkorea.

Deutschland spielt in der Erinnerung an vergangene Genozide allerdings nach wie vor eine klägliche Rolle, und zwar aus naheliegenden Gründen. Kann doch ein solches Gedenken für Nationen, die selbst zu viel auf dem Kerbholz haben, um es jemals wiedergutmachen zu können, teuer werden. Der Staat, der im 20. Jahrhundert das größte Unheil anrichtete, zahlte bislang nicht einmal diejenigen Schulden ab, die ihm aus dem Ersten Welkrieg erwuchsen. Die Erstattung dieser Summen wurde 1932 gestoppt. Sie wurden zudem durch neue Schulden in den Schatten gestellt, die nach 1945 fällig wurden. Anders als hierzulande immer behauptet wird, haben die Siegermächte auf diese nach dem Zweiten Weltkrieg eingeforderten Reparationszahlungen nie definitiv verzichtet. Ihre Begleichung wurde 1953 nur auf Eis gelegt und 1990 von Deutschland mit Verweis auf die seither vergangene Zeit abgelehnt. In den jeweiligen Verträgen steht allerdings keineswegs, dass diese Zahlungsverweigerung dauerhaft akzeptiert werden müsse. Die Frage wurde vorerst nur ausgeklammert.

Nehmen wir, bevor wir auf die spezifische deutsche Rolle im Völkermord an den Armeniern zurückkommen, nur einmal das ebenso aktuelle Beispiel Griechenlands, wie es Rolf Surmann in der März- und in der April-Ausgabe der Zeitschrift „konkret“ skizziert: Von 7 Millionen Griechen überlebten 500.000 die deutsche Besatzung im Nationalsozialismus nicht, das gesamte Land wurde ausgeplündert und systematisch verwüstet. Auf der Pariser Reparationskonferenz von 1945/46 kam man auf 7,181 Milliarden Dollar, die Deutschland allein an Griechenland zu zahlen gehabt hätte. Erstattet wurden davon bis 1961 maximal 25 Millionen Dollar und 115 Millionen D-Mark – Peanuts.

Neuesten Berechnungen nach beträgt die deutsche Reparationsschuld gegenüber Griechenland nämlich sage und schreibe 278 Milliarden Euro. Dass man in Deutschland bis dato dennoch glaubte, sich derartigen finanziellen Forderungen einfach entziehen zu können, war unter anderem den überheblichen Reaktionen der Regierung Angela Merkels zu entnehmen. Der Aufforderung der Syriza-Administration unter Alexis Tsipras, zumindest die milliardenschweren Schulden jener „Zwangsanleihe“ zurückzuzahlen, mit der Deutschland die griechischen Staatskassen zur Zeit der nationalsozialistischen Besatzung ausplünderte, stieß hierzulande auf breites Unverständnis. Dabei handelt es sich bei dieser Summe, die Griechenland aktuell auf 10,3 Milliarden Euro beziffert, nicht einmal um irgendwelche „Reparationszahlungen“, die seit dem sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 längst ad acta gelegt worden sind, wie von deutschen Politikern immer wieder mit mauligem Unterton behauptet wird. Vielmehr geht es um einen zinslosen „Kredit“, der genauso erstattet werden müsste wie aktuelle Schulden Griechenlands an Europa. Schulden übrigens, die sich gegenüber denen, die Deutschland aufgrund seiner Kriegsverbrechen insgesamt angehäuft hat, wie eine Bagatelle ausnehmen.

Deutschland müsste die „Zwangsanleihe“ bei Griechenland zumindest dann zurückzahlen, wenn man denn die angeblich alternativlose Austeritätspolitik der neuen Hegemonialmacht in Europa einmal ernst nehmen wollte. Offensichtlich misst das Land, das 1939-1945 die halbe Welt ausraubte und obendrein die Zivilbevölkerung der besetzten Staaten massakrierte, in diesem Fall jedoch mit zweierlei Maß. Peter Nowak spitzte diesen Befund zuletzt in der „Jungle World“ im Blick auf aktuelle juristische Argumentationen gegenüber Griechenland mit der treffenden Formulierung zu: „Weil die Zwangsanleihe ein besonders großes Unrecht war, hält die Bundesregierung die Rückzahlung für unnötig.

Dieses dreiste Vorgehen zeigt einmal mehr, wie wenig sich derjenige Staat, der sich selbst für den ‚Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung‘ hält, bislang mit der eigenen Schuld auseinandersetzt hat. Gezahlt wird nur, wenn der Druck und die weltweite schlechte Publicity die Verantwortlichen zum Handeln zwingen, weil der wirtschaftliche Schaden zu groß zu werden droht. Ob es sich um die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter oder die sogenannten „Ghettorenten“ handelte, also um zumindest symbolische Zuwendungen an die Überlebenden Opfer der Shoah, Deutschland taktierte stets bis zuletzt und zögerte zynische bürokratische Verfahren so lange hinaus, bis möglichst viele Antragsteller verstorben waren.

Ähnlich verhält es sich mit finanziellen Ansprüchen, die aus anderen deutschen Genoziden folgen müssten. Damit niemand auf diese Idee kommt, vermeiden es führende Politiker, deutsche Völkermorde oder auch solche, in die das eigene Land verstrickt war, öffentlich als solche zu bezeichnen. Ungebetene Erinnerungen an derartige Verbrechen versucht man unter anderem dadurch unter den Tisch fallen zu lassen, dass man eine offizielle Bitte um Verzeihung möglichst lange vermeidet. Könnte doch ein solches Eingeständnis juristisch ganz neue Entschädigungsforderungen nach sich ziehen. So verhielt es sich etwa auch mit dem Genozid an ca. 100.000 Herero und Nama in der Kolonie „Deutsch-Südwest“ (1904-1908), dem heutigen Namibia. Es ist immer wieder das gleiche: Stets wird in Deutschland gegenüber derartigen Forderungen gemauert, es wird geleugnet und ausgewichen, solange es nur geht.

Womit wir endlich wieder beim Schwerpunktthema der April-Ausgabe von literaturkritik.de angekommen wären. Wenn man am 24. April 2015 in der armenischen Hauptstadt Jerewan mit einer internationalen Veranstaltung des 100. Jahrestags des türkischen Völkermordes an den Armeniern gedenkt, wird die Bundesregierung nicht vertreten sein. Kein Wunder, hatte Deutschland doch auch in diesem Fall seine Finger wieder mit im Spiel: 1915 wurden in der Türkei unter den Augen des damals militärisch eng mit der jungtürkischen Regierung paktierenden Deutschen Reichs alle aufgreifbaren Armenierinnen und Armenier ausgeraubt, vergewaltigt, deportiert, auf grausamste Weise massakriert oder nach erzwungenen Gewaltmärschen in der syrischen Wüste dem qualvollen Verdurstungstod überlassen.

Dass die Erinnerung an dieses in Deutschland immer noch wenig bekannte und in den hiesigen Schulbüchern großzügig übergangene Verbrechen vor allem auch in der Türkei lange strafrechtlich verfolgt wurde, ist ein Skandal. Der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wurde 2011 aufgrund des Paragraphen 301 („Beleidigung der türkischen Nation“) zu einer Schadensersatzzahlung an sechs Kläger verurteilt, nur weil er einige deutliche Worte über den Genozid verloren hatte, und der Journalist Hrant Dink 2007 wurde aufgrund seiner kritischen Artikel zum Thema sogar von Nationalisten ermordet. In den letzten Jahren mag sich die Situation in der Türkei etwas entspannt haben, aber die rechtliche Situation derjenigen, die sich in dem Land für die Erinnerung an den Genozid engagieren, bleibt auf bedrohliche Weise ambivalent.

Attentate wie das auf Hrant Dink, die nach wie vor mögliche staatliche Zensur in der Türkei und das beschämende deutsche erinnerungspolitische Taktieren könnten den Eindruck erwecken, dass Adolf Hitler auch 2015, 100 Jahre nach dem großen Verbrechen, mit seiner eingangs zitierten Sottise weiter Recht behält. Unsere Zeitschrift möchte in ihrer aktuellen Ausgabe ein Zeichen gegen dieses institutionalisierte Vergessen setzen. Deshalb bringen wir neben einer neuerlichen Rubrik mit Essays und Rezensionen zum Ersten Weltkrieg, in dessen Rahmen die Ereignisse in der Türkei von 1915 möglich wurden, eine Reihe von Artikeln, die neben historiografischen Neuerscheinungen zum Thema des vergessenen Genozids auch erstmals übersetzte armenische Literatur über den Völkermord vorstellen.

Mit den besten Grüßen aus Marburg, für diesmal vor allem auch nach Jerewan,
Ihr
Jan Süselbeck

P.S. als Nachtrag zum Tod von Günter Grass am 13. April 2015: Anstatt eines Nachrufs haben wir nun noch einen ausführlichen zweiten Themenschwerpunkt anlässlich des Ablebens des Literaturnobelpreisträgers für Sie zusammengestellt. In unserem Dossier findet sich Biografisches und Anekdotisches von Uwe Wittstock neben einer Rezension von Marcel Reich-Ranicki sowie Hinweisen zu Artikeln über Grass aus dem Archiv unserer Zeitschrift. Hinzu kommen eine bislang unveröffentlicht gebliebene Rede von Heinrich Detering und ein Vortrag von Jutta Osinski.