So jung kommen wir nicht mehr zusammen

Arno Geigers neuer Roman „Selbstporträt mit Flusspferd“ über einen Sommer mit Tierpflege und die Mühen des Erwachsenseins

Von Christof BultmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christof Bultmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was die seltsam prekäre Phase „Jugend“ ausmacht, und warum man an ihr so herrlich leiden kann, hat wohl kaum ein Schriftsteller so hellsichtig unter die Lupe genommen wie Robert Musil in seinem Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Es ist nicht zuletzt das Gefühl des Erborgten, des Uneigentlichen, des Uneigentlichen, der bloßen Behauptung von Charakter und Tiefe, an dem Törleß leidet – ein Gefühl, von dem er zugleich weiß, dass es mit Abstand betrachtet lächerlich ist. Wer in Jugendjahren empfindsame Gedichte geschrieben hat, weiß, wovon die Rede ist.

Ein später Nachfahre des Törleß ist auch Julian, der Protagonist in Arno Geigers neuem Roman Selbstporträt mit Flusspferd. Julian ist zwar bereits zweiundzwanzig, das Erwachsensein aber, das ist noch immer mehr Form als Inhalt: „Ich weiß in Wahrheit überhaupt nicht, was ich will, einmal in diese Richtung, dann in die andere, einmal alles, einmal nichts. Und immer fühlt es sich absolut richtig an.“ So viel ausgestellte Unentschlossenheit stößt nicht auf Gegenliebe. Zumindest bei Julians Freundin Judith nicht, die hinter seiner Empfindsamkeit nur eine bloße Pose vermutet und sich von ihm trennt. Wäre Julian nun tatsächlich ein Törleß, so könnte er sich immerhin der rigiden Disziplinierungsmaschinerie einer kaiserlichen Militärerziehungsanstalt aussetzen. Doch Julian ist Student der Veterinärmedizin im Wien des Jahres 2004, und zur Verarbeitung der Trennung von Judith bleibt ihm nur die Ödnis eines langen vorlesungsfreien Sommers.

Glücklicherweise ist da noch das Flusspferd. Es grast im Garten von Professor Beham und soll von Julian gepflegt und gefüttert werden – ein Studentenjob der eher ungewöhnlichen Sorte. Im Flusspferd, einem „schwarzgrünen Geisterwesen“, findet Julian sogleich einen Seelenverwandten. Mit seiner sumpfigen Gemächlichkeit, den mächtigen Backenzähnen und leeren Knopfaugen ist es mehr Fabeltier als reales Gegenüber. Ein wesenloses Tümpelwesen, dessen Virtualität für Julian vor allem eines bietet: einen Wiedererkennungseffekt.

Eher virtuell bleiben denn auch Julians sonstige Sozialkontakte. Ob es die ebenfalls antriebsarme Mitbewohnerin Nicki ist, der in Frauendingen so viel hemdsärmeligere Kommilitone Tibor oder überhaupt die in der Erprobung von Beziehungskatastrophen verstrickten Altersgenossen – Julian hält Sicherheitsabstand. Nur Aiko, die exotische – weil französischsprachige – Tochter des Professors vermag es, sein Begehren zu wecken. Doch hier ist sie es, die ein schwer durchschaubares Spiel aus Nähe und Distanz spielt, weshalb die Beziehung über Sex und nächtliche Spaziergänge nicht recht hinauskommt.

Arno Geiger hat ein Faible für Figuren mit Ich-Schwäche, diese „Möglichkeitsmenschen“ im Musilschen Sinne. Geigers Erfahrungsbericht Der alte König in seinem Exil widmete sich der Alzheimer-Erkrankung seines Vaters, doch nicht nur als Drama der Depersonalisierung, sondern auch als kulturkritischer Essay: die Krankheit als Schutzraum gegenüber einer Gesellschaft, die Leistungsprinzip und permanente Ich-Stärkung einfordert. In diesem Raum begegnen sich der Kranke und der Schriftsteller Geiger, Vater und Sohn.

Selbstporträt mit Flusspferd verlegt den Konflikt an die Schwelle des Erwachsenwerdens: aus dem bloß Hypothetischen eine funktionstüchtige Realität destillieren, das übliche Entwicklungsprogramm im Coming-of-Age-Roman, ist zugleich Aufgabe wie Zumutung, der sich der zaudernde Julian ausgesetzt sieht. Dass die Welt der Erwachsenen kindliche Verbindlichkeit durch Kontingenz ersetzt, macht die Aufgabe dabei nicht leichter.

Daraus hätte durchaus etwas werden können, wenn Geiger seinem Protagonisten tatsächlich eine Entwicklung zugestanden hätte. Während aber Aiko sich chronisch rätselhaft verhält und der Tümpel des Flusspferds von Fröschen befreit werden muss, reproduziert Julian ein ums andere mal seinen Weltschmerz: Terror in Tel Aviv und im Irak, das Geiseldrama von Beslan, die Banalität von Partygesprächen und die Konsumgesellschaft – das alles verleidet Julian, der derweil über die „Unbegreiflichkeit von Küchen“ oder das „Halseisen der Verliebtheit“ sinniert, das Leben.

Natürlich ist ein Roman nicht per se solidarisch mit seinen Figuren. Je länger aber Selbstporträt mit Flusspferd seinen Anti-Helden Julian in der Komfortzone des Selbstmitleids belässt, desto stärker wird er von dessen Larmoyanz infiziert. „Niemand“, beklagt sich Julian einmal, als er einen missbilligenden Blick der Putzfrau von Professor Beham verspürt, „mag einen jungen Mann, der zweiundzwanzig ist“. Als Leser fühlt man sich da allzu leicht ertappt.

Und so hat der Roman seine stärkste Szene zu Beginn, die zugleich chronologisch die letzte ist: Julian, mittlerweile Tierarzt in einer Notfallambulanz, begegnet darin Judith, seiner Anfangsliebe, die ihm einen tödlich verletzten Uhu auf den Tisch legt – Sinnbild all dessen, was nicht mehr wiederzubeleben ist. Ein spartanischer Dialog schließt sich an, in dem nahezu alles ungesagt bleibt, eines sich jedoch unwillkürlich ausspricht: das Erwachsensein ist nicht das Resultat großer Kämpfe und Volten, es ist irgendwann einfach da. Das Flusspferd freilich, jene hier viel zu vage Möglichkeit eines Lebens jenseits der Vorhersehbarkeit, ist zu diesem Zeitpunkt längst im Zoo.

Titelbild

Arno Geiger: Selbstporträt mit Flusspferd. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446247611

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