Seelisches Kunstwerk

Vor 100 Jahren erschien Gustav Meyrinks Roman „Der Golem“

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gute Prosa ist rar. Wer in der ungebundenen Rede nicht nur auf eine rührende, spannende, erschütternde, ergreifende, transzendierende Erzählung hofft, sondern auch auf jenen Klang, jenes sich Einbrennende, das das Sprachkunstwerk Literatur überhaupt erst zum Kunstwerk macht, der bewegt sich in dünn besiedelten Gefilden. Bei Franz Kafka finden sich solche Momente, bei Friedrich Hölderlin und bei Hermann Melville, auch Hans Henny Jahnn und Novalis kann man hier nennen. Über allen aber thronen zwei Texte, jeweils einer aus den beiden bisher vollendeten Jahrhunderten des Romans, die in ihrer ganz eigenen Qualität hinter sich lassen, was die üppige Romanproduktion ansonsten hervorgebracht hat: Georg Büchners „Lenz“-Fragment und Gustav Meyrinks „Der Golem“.

Vom „Lenz“ soll hier nicht die Rede sein; nicht zuletzt die Aufnahme in das eine oder andere Curriculum hat bestätigt und bekräftigt, dass der Text hierzulande zum Grundstock des literarhistorischen Bewusstseins zählt. Vom „Golem“ kann man Ähnliches wohl nicht so einfach behaupten, obwohl Meyrinks vor genau 100 Jahren erstmals in Buchform erschienener Roman derzeit in einer erstaunlichen Fülle von Ausgaben vorliegt.

Zu dieser Vielzahl ist nun noch eine weitere Edition hinzugekommen, die der enormen literarischen Qualität des Textes auch und gerade buchgestalterisch Rechnung tragen will. Anders als z. B. die letzte Reclam-Ausgabe verzichtet man im Hause Hoffmann und Campe auf einen Kommentar (der im Grunde sehr empfehlenswert wäre) und stellt dem Text das Nachwort zur Seite, das Ulrike Ehmann für die 2012er dtv-Ausgabe verfasst hat. Diese Ergänzung erweist sich allerdings als nahezu überflüssig, besteht das Buch doch offenkundig durch sich selbst: In grobes Leinen gebunden, mit flammend rotem Buchschnitt, tiefschwarzem Vorsatzpapier und passendem Lesebändchen kündet schon der äußere Eindruck davon, dass hier eine Ausgabe für Liebhaber herausgebracht wurde, für jene, die den Roman bereits kennen und keiner unmittelbaren Hilfestellung mehr bedürfen.

Dieser Eindruck setzt sich im Inneren fort. Als Geniestreich ist die typografische Gestaltung anzusehen, die den Text in Weiß-Antiqua präsentiert. Meyrinks Roman, dieser von Gedankenstrichen zerfurchte, sich dem Leser zugleich an den Hals werfende und ihn zurückweisende Rausch von Bild und Klang und Geheimnis spiegelt sein ganzes Wesen im Schriftbild, etwa dem auf den Kopf gestellten ,S‘, dessen oberer Bogen größer ist als der untere. Konturen und Proportionen entziehen sich letzter Gewissheit, so, wie die Geschichte des Athanasius Pernath ihm selbst und dem Leser mehr als einmal zu entgleiten droht.

Diese Geschichte ist, mit einem aus ihr selbst genommenen Wort, „so etwas wie ein seelisches Kunstwerk, ohne innewohnendes Bewußtsein, – ein Kunstwerk, das entsteht, wie ein Kristall nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen herauswächst“. Sie ist gestaltlos in ihrer mystischen Vieldeutigkeit – träumt der Erzähler die Erlebnisse Pernaths wirklich nur? Deutet sich am Schluss eine Wiederholung des Geschehenen an in jener Art, wie auch der Golem alle 33 Jahre durch die Prager Judenstadt streift? Oder ist der Hermaphrodit der Schlussszene nicht ein Zeichen dafür, dass die kreisläufige Bewegung der Zeit zu einem Ende gefunden hat? Handelt es sich vielleicht sogar nur um die Geschichte eines an einer Persönlichkeitsspaltung Leidenden, wie der Kneipenbesuch des Erzählers am Ende es vermuten lässt? Und doch ist sie klar in ihrem Verlauf: Sie bewegt sich aus allen Wirren und Wendungen doch auf einen Schluss zu, in dem alles Geschehene zu vielfältig auslegbarem Sinn verknüpft wird. Überflüssig zu sagen, dass der „Golem“ ein „seelisches Kunstwerk“ ist, eine innere Erzählung, geistige Handlung.

Es ist nicht das vielbeschworene, freilich außergewöhnlich gelungene Prager Kolorit, das diesen Roman prägt, es ist auch nicht der bloße phantastische Schauder, der den Leser jederzeit ergreifen kann. Auch die Vielstimmigkeit, das Labyrinthische seines so einfachen Erzählens ist nicht das Alleinstellungsmerkmal dieses Werks. Nein, den „Golem“ zeichnet aus, dass er die einmalige Kraft besitzt, denjenigen, der ihn aufschlägt, in seine kabbalistisch-magische, lebenszerstörende und lebengebende Sphäre zu verrücken. Er gleicht damit dem geheimnisvollen Buch „Ibbur“, das Pernath ganz am Anfang vom doppelgängerischen Golem überreicht wird und das jene „Seelenschwängerung“ bewirkt, die den vormals Wahnsinnigen in mehreren Schritten aus seiner Welt entrückt und schließlich – im Nachvollzug der bekannten Tarot-Karte des Gehängten – aus seiner Existenz reißt. Zugleich unterscheidet dies den „Golem“ vom Buch „Ibbur“: Der Gehängte ist schließlich nicht nur Tarot- sondern auch Tarock-Karte (als solche wird er von Meyrink auch eingeführt). Das Ganze ist somit nicht nur mystischer Ernst sondern auch geselliges Spiel und damit am Ende nicht Kabbala, sondern Kunst.

Ohne „innewohnendes Bewußtsein“ kommt dieses Werk daher – wie passend, soll Meyrink sich doch selbst nach jemandem umgesehen haben, der ihm seinen Roman auslegen könnte. Wie jener „Stein, der wie ein Stück Fett aussieht“, der den Erzähler am Anfang in seinen Traum gleiten lässt, entzieht sich der „Golem“ dem Zugriff seines Lesers, er entgleitet ihm, wann immer er ihn zu packen glaubt, und zieht ihn dadurch immer tiefer in sich hinein. Und genau so, wie im Zimmer ohne Eingang aus der kindlich gemalten Tarock-Karte der Golem wächst, mit dem Pernath im Geiste um die Hoheit ringt, wächst aus Meyrinks einfacher Sprache, aus den mit böhmischem Akzent sprechenden Nebenfiguren, dem diabolischen Trödler Wassertrum und dem vom Hass verzehrten Charousek, der wundergläubigen Mirjam und ihrem kabbalakundigen Vater Hillel ein einmaliges, ein „seelisches“ Kunstwerk, ein Roman, der keinen Vergleich fürchten muss, zu dem sich überhaupt kein Vergleich anstellen ließe, so sehr man sich auch mühte. Im 20. Jahrhundert bildet er die Krone jener Raritäten, die man „ein gutes Buch“ nennt; wenn Prosa zu solchen Werken fähig ist, versöhnt man sich gerne mit ihren vielen, allzuvielen Belanglosigkeiten.

Titelbild

Gustav Meyrink: Der Golem. Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015.
383 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783455405330

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