Die Krakelüren einer Künstlerkolonie

Klaus Modicks historisierender Roman „Konzert ohne Dichter“ erzählt vom Mythos Worpswede um 1900

Von Jacqueline ThörRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jacqueline Thör

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nur weg von hier, denkt er, heraus aus dem goldenen Käfig. Weg von hier, das ist mein Ziel.“ Der 33-jährige Künstler, Innenarchitekt und Illustrator Heinrich Vogeler möchte weg vom pittoresken Teufelsmoor, weg von der zerrütteten Künstlerkolonie Worpswede, weg von seiner Frau Martha, die er einst so innig geliebt hat, weg von seinem ehemaligen Seelenverwandten Rainer Maria Rilke, weg aus dem Gefängnis, das er selbst entworfen und gebaut hat – sein Anwesen Barkenhoff – und vor allem weg von seiner eigenen Kunst: weg vom Ornamentalen, Floralen und Märchenhaften. In allen Facetten seines Lebens greift der Verfall um sich, deshalb plagen den Künstler seit geraumer Zeit Zweifel: „Will er das eigentlich noch? Welchen seelischen Preis zahlt er für seine Honorare? Was kostet ihn der Erfolg?“ Für Vogeler ist im Sommer 1905 endgültig die Zeit gekommen, aus dem Märchen, das er in Worpswede lebt, aufzuwachen, um der Wirklichkeit ins Auge zu blicken, denn „in seinem schönen, allzu schönen Leben brechen Risse auf wie Krakelüren auf einem Ölgemälde.“

Die Biographie des realen Heinrich Vogeler, welcher der Figur in Klaus Modicks Konzert ohne Dichter als Vorlage diente, verrät uns, dass die einstige Jugendstil-Ikone das ruhmreiche Leben in Worpswede kurze Zeit später tatsächlich hinter sich ließ, von vorn begann und alles anders machte als bisher. Doch wie kam es zu diesem Bruch in Vogelers Leben und zu dem Wandel seiner Kunstauffassung? Und wie kam es dazu, dass die ehemaligen Weggefährten, Vogeler und Rilke, einander schließlich zu Fremden wurden?

Der Roman Konzert ohne Dichter beruht sowohl auf den Werken, Tagebüchern und Briefen Rainer Maria Rilkes als auch auf den fragmentarischen Lebenserinnerungen Heinrich Vogelers. Man muss jedoch anmerken, dass die Zeitzeugnisse, denen Modick intensiv auf den Grund gegangen ist, bis zu einem gewissen Grad selbst literarisiert und stilisiert sind – immerhin handelt es sich um die Hinterlassenschaften zweier Künstler, die sich in Szene zu setzen wussten. Man sollte bei der Lektüre des Romans also nicht aus den Augen verlieren, dass es sich bei Konzert ohne Dichter um eine Fiktion zweiten Grades handelt, die vor allem durch den narrativen Zugriff Modicks besticht.

Klaus Modick legt den thematischen Fokus in Konzert ohne Dichter auf die Freundschaft zwischen Rilke und Vogeler. Zu Beginn scheinen die beiden auf einer (künstlerischen) Wellenlänge zu sein, denn in Rilkes Sprache „war, ähnlich wie in Vogelers Zeichnungen, etwas üppiges Ornamentales, wuchernd Florales, das von der Fron befreit war, sachlich zutreffend, sinnvoll oder gar nützlich sein zu müssen.“ Rilkes „märchenhafte Verse“ und Vogelers gemalte „Märchenphantasien“ erwecken eine Zeit lang den Anschein einer Seelenverwandtschaft zwischen den beiden Männern. Doch bald stellt sich heraus: Auf menschlicher Ebene haben der eigensinnige und selbstverliebte Rilke und der (vor allem an sich selbst) zweifelnde Universalist Vogeler nicht besonders viel gemein. Dadurch, dass die Handlung größtenteils aus der Perspektive Vogelers erzählt wird, dem Leser also ein tiefer Einblick in dessen Reflexionen und Gefühle gewährt wird, kann man den stetigen Verfall dieser Freundschaft sukzessive mitverfolgen.

Die finale Fassung von Vogelers großformatigem Gemälde „Das Konzert“ (oder „Sommerabend“), an dem sich der Titel des Romans orientiert, verbildlicht zugleich den Höhepunkt in Vogelers Karriere und den Tiefpunkt der Freundschaft zwischen den Künstlern. Fast fünf Jahre lang überarbeitet der Künstler das Gemälde: Er visualisiert zum Beispiel die sich zuspitzende Ménage-à-trois, in die sich Rilke verwickelt und rückt den Dichter mal näher an die Künstlerin Paula Modersohn-Becker heran, mal näher an seine spätere Ehefrau Clara Westhoff. Doch als die Freundschaft vollends zerbricht, eliminiert er Rilke schließlich ganz aus dem Bild. Sich selbst malt er Cello-spielend in den Hintergrund, fast vollständig von seinem Bruder Franz verdeckt – vielleicht weil er bei der Fertigstellung des Gemäldes weder mit dem Werk, noch mit sich selbst zufrieden ist. Die Kunstszene hingegen ist begeistert: Ihm wird im Juni 1905 die „Große Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft“ verliehen. Allerdings ist sich Vogeler sicher, dass er die Auszeichnung nur erhält, weil alle anderen in dem Bild Idylle, Zauber und heile Welt sehen wollen, da sie „entschlossen sind, die Wirklichkeit hinterm schönen Schein zu verbergen.“ Hinter diesem Schein erblickt Vogeler jedoch „die Wahrheit des erstarrten Lächelns“ und muss sich eingestehen, dass er die im Bild dargestellte Märchenwelt für immer verloren hat.

Da der Roman von atmosphärischer Dichte und reich an sinnlichem Detail ist, fühlt sich der Leser in die Welt der Bohème um 1900 hineinversetzt, die er durch die Augen eines märchengläubigen und träumenden Künstlers wahrnimmt. Dies gelingt Modick vor allem durch seinen Sprachstil, dem er seinem Protagonisten Vogeler und dessen Kunst angepasst zu haben scheint, denn dieser ist vor allem in den beschreibenden Passagen außergewöhnlich bildhaft, pittoresk, (im Wortsinn) ‚farbenfroh’ – wenn nicht gar ornamental: „rotbraune Ziegel im weiß getünchten Fachwerk, das schmutzige Gelb des Dachs von Moos begrünt, unterbrochen von einem hohen Atelierfenster, und auch auf dessen Glätte lag das Blau, das am Ende des Blicks schon abendlich errötete.“ Darüber hinaus lassen Versalien, zitierte Gedichte von Rilke, plattdeutsche Passagen sowie manche Anapher die Erzählung noch lyrischer wirken. Ein Künstlerroman, der zwar von Desillusionierung handelt, den Leser jedoch nichtsdestoweniger durch Sprachkunst in seinen Bann zu schlagen vermag.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Klaus Modick: Konzert ohne Dichter. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015.
231 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783462047417

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