Lob der Erzählung

Eva Horns Studie über die „Zukunft als Katastrophe“ weiß um die Rolle narrativer Verfahren für die Reflexion möglicher künftiger Ereignisse

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Medien sind voller Weltuntergänge, da machen Bücher keinen Unterschied zu Filmen oder Zeitungen. Freilich haben sich die Gründe für solche Weltuntergänge geändert: Rottet in Mary Shelleys in Deutschland beinahe unbekanntem Roman „Der letzte Mensch“ die Pest die gesamte Menschheit binnen dreier Jahre aus, entwickelt sich in H. G. Wells „Time Machine“ die Menschheit von ihren humanen Eigenschaften weg, bis von ihr nichts mehr übrigbleibt als Monstren, die sich gegenseitig den Lebensraum streitig machen. In den 1950er-Jahren wurden solche Untergangsgewissheiten hingegen von der ultima ratio der Atombombe ausgelöst, die heute weitgehend der Klimakatstrophe gewichen ist. Nur ein paar Grad höhere Durchschnittstemperaturen oder ein noch größeres Ozonloch und von der Menschheit bliebe kaum mehr übrig als nach dem Fallout, der einem Krieg zwischen den Supermächten gefolgt wäre.

Der Untergang ist nun eng verbunden mit der Gewissheit, dass es so etwas wie eine Menschheit überhaupt gibt, mit anderen Worten, dass die Interdependenzen zwischen den sozialen Gruppen und Einheiten, die über den Globus verteilt leben, groß genug geworden sind, dass ihnen gegebenenfalls ein gemeinsames Schicksal blüht, soll heißen, dass sie eben nicht eine rosige, sondern eine ziemlich finstere Zukunft einholt. Eine solche Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit, die den diversen Katastrophen seit der Aufklärung keinen Einhalt geboten hat, hat bereits Immanuel Kant gesehen. Seitdem ist dies zur Trope nicht nur der Technikkritik, der Volkswirtschaft, der Internationalen Politik und anderen Fächern, sondern eben auch der Untergangszenarien geworden.

Dass diese Untergänge in engem Zusammenhang mit der Entwicklung dessen stehen, was wir gewohnt sind, die Moderne zu nennen, ist naheliegend, weitet sich deren Horizont doch von den lokalen und regionalen Reichweiten hin ins Globale, eben auch im Negativen. Das Schicksal der Menschheit steht mithin nun auf dem Spiel, wenn das System kollabieren würde ˗ eben nicht nur das eines Dorfes, eines Landstrichs oder einer Gegend. Dabei waren auch die Katastrophen des vorindustriellen Zeitalters nicht zu verachten: der Untergang des Römischen Reiches, die Pest oder die jahrzehntelangen Kriege, die sie durchzogen.

Katastrophen wie die Pest des 14. Jahrhunderts oder der Dreißigjährige Krieg wirkten aber nicht nur faktisch in der Geschichte (in diesem Fall) Europas nach, sondern gingen auch ins kollektive Gedächtnis des Kontinents ein. In Shelleys „Der letzte Mensch“ ist es ja nicht ohne Grund die Pest, die alles menschliche Leben auslöscht – ein immer noch präsentes Echo des 14. Jahrhunderts und seiner Nachwehen.

Nun sind Untergänge und Katastrophen mindestens auf zwei Ebenen anzusiedeln respektive Thema, auf dem (sagen wir abkürzend) wissenschaftlichen und auf dem narrativen. Soll heißen: Die Datenreihen, die in diversen Fächern erhoben werden, müssen ausgewertet und verstanden werden. Und das, was dann verstanden worden ist, muss vermittelt, kommuniziert werden.

Und hier spielt die Narration, die Erzählung von der Katastrophe eine zentrale Rolle. Denn kein Untergang ist erklär- und nachvollziehbar ohne Erzählung. Die Simulation beziehungsweise das Szenario ist auf der Ebene der fachlichen Technikfolgeabschätzung ebenso zentral wie auf der der symbolischen Verarbeitung kollektiv relevanter Themenstellungen, so ließe sich Eva Horns These verkürzt wiedergeben.

Das haben bereits heute so verrucht geltende Intellektuelle wie Hermann Kahn, der intensiv die Vorbereitung der USA auf einen möglichen Atomkrieg mit der Sowjetunion vorantrieb, gewusst: Für eine Zivilgesellschaft sind Rahmenbedingungen, wie sie in einer postatomaren Gesellschaft vorzufinden sein werden, nur nachvollziehbar, wenn sie in einem Szenario vorgeführt werden.

Und eine Gesellschaft reflektiert über mögliche oder eingebildete Bedrohungen nicht über Datenreihen oder PowerPoint-Folien, sondern über Geschichten, in denen diese Bedrohungen vorgeführt und ausformuliert werden. Ob es so etwas wie eine Klimakatastrophe gibt oder geben wird, ob es irreversible Klimaveränderung gibt, muss plausibilisiert werden. Und das ist, so betont Eva Horn in ihrer beeindruckenden Studie, eben nur über narrative Techniken möglich.

Diese finden sich deshalb überall dort, wo eine Gesellschaft über ihre Zukunft nachdenkt. Komplexe Gesellschaften tun das notwendigerweise und allenthalben, vor allem deshalb, weil sie haben einsehen müssen, dass ihre Handlungen unhinterschreitbare Auswirkungen auf ihre Zukunft haben. Das wichtigste Verfahren für die Simulation und Analyse dessen, was geschehen kann, ist dabei die Narration, unabhängig davon, in welchem Medium sie geschieht. Wenn in einer Gesellschaft über die Auswirkung einer Entwicklung nachgedacht werden soll, muss sie auserzählt werden. Ihre Eckelemente und Ausstattungen müssen festgelegt, Personal muss installiert werden, das als erkenntnisleitende Instanz fungieren kann. Und dies muss anschließend einem chronologischen Prozess unterworfen werden. Die Handlung muss ablaufen, um auf ein Ergebnis zuzulaufen. Das kann der Untergang der Menschheit sein oder ihre Rettung oder auch nur die Rettung von wenigen.

Die Leistungsfähigkeit narrativer Verfahren ist dabei unerhört hoch: Die Geschichten von den Untergängen, Katastrophen und vom Ausgang aus ihnen sind zahllos und variantenreich, und sie ziehen sich durch die gesamte Moderne. Der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit hat den Zwang erhöht, sich den selbstverschuldeten Untergängen intensiv zu widmen und dabei die Möglichkeiten auszudifferenzieren.

Narrative Verfahren, die man im Großen und Ganzen dem Realismus und dessen Variationen zuschlagen kann (gerade auch im Bereich der phantastischen Zukunftsentwürfe), haben sich dabei als besonders leistungsfähig erwiesen, wobei sich die Erfahrungen der avantgardistischen Verfahren seit dem frühen 20. Jahrhundert in sie eingeschrieben haben: Montage, Fragment und Auslassungen sind in den modernen Narrationen durchgängig präsent. Moritz Basler hat diese bereits vor einiger Zeit in seiner kleinen Schrift zur Pop-Literatur hervorgehoben. Eva Horns Ansatz ist demnach nicht unbedingt neu, aber in der Durchführung selten konsequent und radikal.

Das aber führt dazu, dass die Bedeutung der nicht-narrativen Verfahren neu bestimmt werden muss und die funktionsfreie, formorientierte ästhetische Wahrnehmung ihren in den letzten Jahren zugeschriebenen Vorrang verliert. Ja, es geht in den Erzählungen vor allem um die Inhalte, die Szenarien, um die sozialen Experimentalräume, um die Reflexion gesellschaftlicher Themen, ums Probehandeln – und die Form hat vor allem dienenden Charakter. Sie muss tragen, was gesagt und auserzählt werden soll. Das ist freilich nicht nebensächlich – aber eben nicht die Hauptsache.

Für ein Fach wie die Literaturwissenschaft, die seit einigen Jahren alles durch die Mühle der ästhetischen Wahrnehmung dreht, was ihr in die Fänge gerät und die sich dabei immer weiter ins Abseits und in die Isolation bewegt hat, ist das nichts weniger als ein Desaster respektive Beleg für ihre Selbstaufgabe. Kein Wunder also, dass Horn in ihrer Studie zwar viel vom Verfahren der Narration, aber weniger von den narrativen Verfahren selbst schreibt. Das ist nämlich beinahe belanglos, solange es funktional ist. Kann sein, dass so eine Haltung bei einem germanistischen Promotionsverfahren zu Abschlägen bei der Note geführt hätte.

Nebenbei allerdings begründet dieses Attest der Bedeutung narrativer Verfahren auch, weshalb in der Belletristik der Roman die Lyrik und das Drama verdrängt hat (und der Krimi auf dem Buchmarkt so dominant ist), weshalb das Erzählkino immer weiter an Boden gewinnt und weshalb TV-Serienformate als gesellschaftliche Großerzählungen derart an Attraktivität gewonnen haben. Sie bedienen den Bedarf an Reflexionen und Simulationen, die in einer zunehmend komplexer und dynamischer werdenden Gesellschaft, notwendig sind. Was geschehen kann, muss man und kann man nur erzählen, um es zu verstehen. Eva Horns Studie führt dies exemplarisch vor.

Titelbild

Eva Horn: Zukunft als Katastrophe.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
474 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100168030

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