Niederlage bedeutet Gestank

Der Weltkriegsteilnehmer Daniil Granin erzählt in „Mein Leutnant“ von Dreck, Kälte und Unterernährung sowie einer aufgestauten Wut auf goldene Achselklappen

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 96-jährige Daniil Granin kann auf ein schaffensreiches Schriftstellerleben zurückblicken. In seiner Heimat hat der 1919 in Wolyn geborene Schriftsteller eine stattliche Anzahl von Romanen vorgelegt, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Nicht wenige seiner Bücher haben den Zweiten Weltkrieg zum Thema, an welchem Granin als junger Mann teilgenommen hatte. Auf umso lebhaftere Aufmerksamkeit war sein autobiographisch ausgerichteter Kriegsroman „Mein Leutnant“ gestoßen, der bereits 2011 in Russland erschien.

Granin hatte sich seinerzeit freiwillig gemeldet, um sein Land gegen die fremden Eindringlinge verteidigen zu helfen: „Irgendwann ging mir plötzlich auf, daß die Deutschen keinen Erfolg haben würden, weil sie einen ungerechten Krieg angezettelt hatten.“ Daniil Granin erzählt von blutjungen Freiwilligen der sogenannten „Volkswehr“, die ohne militärische Ausbildung, ja nicht einmal mit ausreichender Bewaffnung an die Front geschickt worden waren. Ihre erste Begegnung fand jedoch nicht etwa mit dem erwarteten Feind, sondern mit Soldaten der Roten Armee statt, die sich Hals über Kopf auf dem Rückzug befunden hatten. Wie paßte das mit der allerorts propagierten Losung „Keinen Schritt zurück!“ zusammen?

Granin entfaltet die ganze Meisterschaft seines schriftstellerischen Talents und verdichtet den Wahnsinn des Krieges, der auch für die Soldaten Dreck, Kälte, Skorbut und Unterernährung bedeutet. Der Ich-Erzähler erlebt Momente voller Angst und Panik, schlägt sich mit Gefährten durch das Tohuwabohu einer von allgemeiner Auflösung gezeichneten Front. Absurde Situationen kennzeichnen den Alltag des Krieges, hinzu kommt die Allgegenwärtigkeit des Todes: „Der Rückzug wurde begleitet von Bränden, aufgedunsenen Pferde- und Soldatenleichen. Kurz gesagt – von üblem Geruch. Niederlage bedeutet Gestank. Kleidung, Haare – alles war durchdrungen von ätzendem Rauch und dem Gestank von verwesendem Menschen- und Pferdefleisch.“

Irgendwann spielt das Kriegsschicksal ausgerechnet diesem Ich-Erzähler die Rolle eines Kommandierenden zu und aus dem zitternden, unbedarften Jüngling wird „Leutnant D.“. Die Perspektive wechselt fortan zwischen dem Ich-Erzähler und „seinem Leutnant“. Unablässig wird das Leben von mehreren Seiten gleichzeitig bedroht und die frischvermählte Braut Rimma aus dem fernen Tscheljabinsk scheint in ihren Briefen an den Frontkämpfer aus einer fremden Welt zu berichten.

Nicht ausgespart werden im Roman die Vorgänge der politischen Säuberungen in der Sowjetunion wie auch die tragischen Fehler einer mörderischen Kriegsführung, die unzähligen Soldaten auf der eigenen Seite das Leben kostete. Den aus Karelien stammenden Funker Medwedjew plagen schon seit längerer Zeit Zweifel: „Unser Volk ist ein Lakai, es hat Angst, es zeigt sich selbst an, und wenn man es den Leuten befiehlt – legen sie sich freiwillig die Schlinge um den Hals“.

Die in Russland allgegenwärtig inszenierte Performance einer ruhmreichen Armee erhält mit diesem Roman einen empfindlichen Dämpfer. Die ewige Dichotomie zwischen den Horden bestialischer Hitlerfaschisten und den siegreichen, ewig vorwärtsstürmenden Helden ist brüchig geworden. Eine bis in die heutige Zeit betriebene propagandistische Überhöhung des historischen Sieges wird als hohles Pathos bloßgestellt, welche den Frontkämpfer und Veteran Leutnant D. abwechselnd in Scham und Wut versetzt. Die öffentlichen Lügen wie auch das Verschweigen der eigenen Opfer empfindet er als einen posthumen Schlag gegenüber seinen gefallenen Kameraden.

Neben aller geschichtlichen Dramatik werden neben der menschlichen Weisheit dieses Romans die geschichtlichen Hintergründe nicht zufällig vom Autor des Vorworts, dem Altkanzler Helmut Schmidt, herausgehoben. Der frühere Bundeskanzler der Bundesrepublik, im gleichen Jahrgang wie Daniil Granin geboren, hatte einst als junger Wehrmachtssoldat vor den Toren Leningrads auf der anderen Seite der Frontlinie gestanden: „Die Deutschen marschierten nicht ein, obgleich ihnen die Stadt offen stand. Der Hungertod der Einwohner war geplant, die Bevölkerung Leningrads fiel einer Hungerstrategie Hitlers zum Opfer.“

Einen breiten Raum nimmt im Roman das illusionslose Leben nach dem Sieg ein. In ergreifender Weise werden die Schwierigkeiten aufgezeigt, im Alltag wieder heimisch zu werden. Das Naturschauspiel der sogenannten weißen Nächte stößt den Erzähler eines Tages geradezu vor den Kopf: es gibt hier keine Schatten! Er begreift, daß seine Erinnerungen an die schrecklichen Geschehnisse, wie auch deren schamlose Instrumentalisierung durch die Herrschenden beginnt, seine Ehe mit Rimma zu zerstören. Angesichts seiner zunehmenden emotionalen Verwahrlosung gesteht sich der Ich-Erzähler irgendwann ein, daß es höchste Zeit wird, sich von seinem Leutnant zu verabschieden.

Titelbild

Daniil Granin: Mein Leutnant. Roman.
Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt.
Aus dem Russischen von Jekatherina Lebedewa.
Aufbau Verlag, Berlin 2015.
288 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783351035914

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