Aufzeichnungen aus der Hölle

Polina Scherebzowas Tagebuch über die Tschetschenienkriege

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tschetschenien ist in diesen Tagen wieder häufiger in den Schlagzeilen, als dies bereits der Fall gewesen ist. Nachdem in den Mordermittlungen zu Boris Nemzow eine „tschetschenische Spur“ aufgetaucht ist, deutet vieles darauf hin, dass sich in nächster Zeit die Beziehungen zwischen der russischen Zentralregierung und Vladimir Putins Statthalter in Grosny, Ramsan Kadyrow, zuspitzen könnten. Manche malen bereits das Schreckgespenst eines weiteren Kriegs an die Wand, sollte die in Tschetschenien herrschende und durch Kadyrow mithilfe eines Terrorregimes eingerichtete Friedhofsruhe aufbrechen. – Polina Scherebzowa hat das ganze Leid am eigenen Leib erfahren, dem während der Tschetschenienkriege (1994 bis 1996 und 1999 bis 2009) die Einwohner der kleinen Republik im Nordkaukasus ausgesetzt waren. Sie lebte mit ihrer Mutter Elena im umkämpften Grosny, musste jahrelang Hunger und Entbehrungen erleiden, Gewalt und Tod mitansehen und wurde selbst durch Bombensplitter verletzt.

Mit gerade einmal neun Jahren beginnt Polina Scherebzowa 1994 ein Tagebuch zu schreiben, das sie über Jahre hinweg weiterführte. Ein ganzer Stapel voll geschriebener Schulhefte hat sich so angesammelt, den sie zeitweise gut verstecken musste. Es ist ein Wunder, dass die Tagebücher im Chaos des Kriegsalltags nicht verloren gegangen sind. Scherebzowa weiß anfänglich noch kaum etwas vom „richtigen“ Leben, ihre Einträge sind zunächst kurz und vorwiegend von kindlichen Interessen geleitet. Was in der Außenwelt geschieht, nimmt sie allenfalls am Rande wahr. Erst allmählich schleichen sich Nachrichten darüber in ihre Aufzeichnungen, was in Grosny vor sich geht: Plötzlich tauchen bärtige Männer auf, die Menschen beginnen über Politik zu sprechen, die Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen verschlechtern sich. Tschetschenien schlittert in einen Krieg, in dem die föderalen Truppen und die Befürworter einer Unabhängigkeit von Moskau gegeneinander kämpfen. Sie tun dies gnadenlos, meist ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Irgendwann dreht sich für die Menschen in Grosny alles nur noch um das eigene Überleben.

Scherebzowa und ihre Mutter entkommen mehrmals Heckenschützen und Bomben; sie handeln auf dem Markt mit allerlei Gütern und Lebensmitteln, um irgendwie an Geld zu kommen. Nebenbei geht sie – wann immer möglich – zur Schule, doch unter den gegebenen Umständen ist an eine lückenlose Bildung nicht zu denken, zu oft ist die Schule wegen des Kriegs geschlossen, oder die Suche nach Essbarem hat Priorität. Viel Raum gibt die Autorin in ihrem Tagebuch den zwischenmenschlichen Beziehungen: So wächst allmählich eine junge Frau heran, die sich auch für Männer zu interessieren beginnt. Inmitten des Kriegs versuchen die Menschen, so gut es geht, an einem normalen Alltag festzuhalten. Es sind gerade solche Momente, die zur Glaubwürdigkeit von „Polinas Tagebuch“ beitragen. Ebenso eindrücklich sind aber auch die Schilderungen über das Leben in der Nachbarschaft. Freundschaften zerbrechen ob des Kriegs, neue entstehen – bisweilen aus der puren Not heraus. Manchmal unterstützen sich die Hausbewohner gegenseitig, manchmal gehen sie einander aus dem Weg. Einige werden zu Verrätern und Denunzianten. Bisweilen entsteht ein fragiles Gleichgewicht zwischen den Nachbarn, das wieder zu zerbrechen droht, sobald sich die äußeren Umstände ändern.

Scherebzowas Aufzeichnungen sind erschütternd, machen fassungslos – und dies besonders, wenn man bedenkt, dass sich das alles in jüngster Zeit und nicht allzu fern von Europa abgespielt hat. Gewiss, die Schrecken des Kriegs und der Kampf ums nackte Überleben, mitunter das apathische Dahinvegetieren, bestimmen den ganzen Ton dieses Buches. Bemerkenswert sind an Scherebzowas Tagebuch aber zwei andere Aspekte: Zunächst ist es die Innenperspektive, der Bericht aus der Mitte des Kriegs, welchen „Polinas Tagebuch“ ermöglicht. Man hat in den letzten zwanzig Jahren viele publizistische wie literarische Texte über Tschetschenien lesen können, und dies nicht nur auf Russisch, sondern auch in deutscher Übersetzung. Doch kamen diese meist von außen, selbst wenn es sich bei den Autoren um ausgewiesene Kenner des Nordkaukasus, etwa Journalisten wie Anna Politkowskaja oder Andrej Babizkij, oder um ehemalige Soldaten der russischen Armee wie Arkadij Babtschenko handelte. Nachrichten von innen drangen hingegen seltener bis zu uns vor (und übrigens auch nicht nach Moskau). Es geht hier nicht etwa um die Authentizität des Geschilderten – diese kann durchaus auch bei einer Außensicht gegeben sein. Entscheidend ist vielmehr, dass in diesem Buch jemand spricht, der unmittelbar aus dem Geschehen heraus erzählt und allein davon geleitet wird, in der Hölle des Kriegs irgendwie zu überleben, ohne dabei die eigene Menschlichkeit zu verlieren.

Damit verbunden ist ein zweiter erstaunlicher Aspekt: Scherebzowa bleibt die ganzen Jahre hindurch immun gegen die ideologischen Versuchungen. Sie wächst zwar zu einem Teenager heran und begreift immer besser die Hintergründe dessen, was da vor ihren Augen geschieht und was ihr und anderen angetan wird. Zugleich weigert sie sich jedoch beharrlich, sich mit einer der kämpfenden Seiten zu identifizieren. Die Autorin ist mütterlicherseits Russin, aber auf der väterlichen Seite finden sich auch tschetschenische und jüdische Vorfahren. Als die Region während der Kriege immer mehr ‚tschetschenisiert‘ wird, wird Scherebzowa wegen ihres russischen Namens von Mitschülern gehänselt, geschlagen, manchmal sogar von den Lehrern geschnitten. Andererseits lernt sie Tschetschenisch, liest den Koran, und versucht in erster Linie, Mensch zu sein, nicht Russin oder Tschetschenin. Selbst wenn man das alles mit dem Überlebensinstinkt erklären will, so bleibt es doch äußerst eindrücklich. Es macht die Aufzeichnungen in der Tat authentisch, auch wenn bisweilen die kritische Frage aufgeworfen wurde, ob Scherebzowa ihr Tagebuch nicht später noch redigiert hat. Wenn dem so wäre, würde dies den (dokumentarischen) Wert dieses Buchs jedoch keineswegs schmälern.

Die Übersetzung durch Olaf Kühl ist leider auf weite Strecken ein Ärgernis. Sie enthält zahlreiche Fehler und Ungenauigkeiten. Zunächst hält sich der Übersetzer an keine in sich konsequente Umschrift. Seine Wiedergabe der russischen und kaukasischen Namen ist völlig willkürlich. Nur ein Beispiel: Der Buchstabe „z“ steht bei ihm zugleich für den entsprechenden Laut „Zet“ (wie in Zürich) wie auch für das stimmhafte „s“. ­Noch um einiges ärgerlicher sind allerdings die eigentlichen Übersetzungsfehler. Man erhält hier bisweilen den Eindruck, Kühl übertrage sozusagen aus dem Deutschen und Polnischen statt aus dem Russischen. Ein paar Beispiele: „kotlety“ sind eben keine Koteletts, sondern Frikadellen. „Uragan“ ist kein Hurrikan, sondern ein Sturm, ein Gewitter (Hurrikane kommen ohnehin nur auf dem amerikanischen Kontinent vor). „Gnom“ ist mit „Zwerg“ besser übersetzt als mit „Gnom“, und auch „makkaroni“ sind zuerst einmal „Teigwaren“ und nur sekundär „Makkaroni“. Auf zahlreiche weitere „falsche Freunde“ ist Olaf Kühl hereingefallen. Dazu kommen zusätzliche Mängel: „Poslednij zvonok“ ist nicht das „letzte Geläut“, sondern meint das letzte Läuten der Schulglocke vor den Ferien. Hier hat dem Übersetzer wohl das Polnische, aus dem er ebenfalls übersetzt, dazwischengefunkt. Ganz ähnlich: „ona zamerla“ heisst nicht „sie erstarb“, sondern „sie erstarrte“. – Dass es sich bei „Peppy“ um „Pippi Langstrumpf“ handelt (auf Russisch: Peppi Dlinnyjčulok), hat Kühl gar nicht erkannt – daher wäre eben „Pippi“ korrekt, nicht „Peppy“. Den Vogel schießt Kühl jedoch ab, wenn er das Wort „Tjubetejka“ (eine typische Kopfbedeckung vor allem bei Turkvölkern in Zentralasien) kurzerhand als „Tibetmütze“ übersetzt! Internetanschluss und ja, Wikipedia hätten diese Fehler allesamt vermeiden können. Kleinigkeiten? Vielleicht ­– wenn es Ausnahmen wären. Doch leider stellen die genannten Beispiele nur eine Auswahl aus mehreren Dutzend falschen oder zumindest äußerst problematischen Übertragungen dar. Man muss als Fazit festhalten, dass der Übersetzer offensichtlich hastig und nachlässig gearbeitet hat.

Bedauerlich ist auch, dass „Polinas Tagebuch“ im Deutschen gekürzt wurde: Die gestrichenen Stellen wurden nicht kenntlich gemacht und bleiben sowohl im Klappentext wie auch in Olaf Kühls Nachwort unerwähnt. Der Verlag nennt Scherebzowas Aufzeichnungen im Übrigen ein „hochliterarisches Tagebuch“, und Kühl stimmt dieser Ansicht im Nachwort zu, wenn er von einem „großartigen literarischen Text“ spricht. Das scheint nun allerdings doch ein wenig übertrieben. Wenn Kühl des Weiteren im Nachwort formuliert, dieser Text komme besonders in den ersten Jahren „ganz ohne stilistische Raffinesse aus“, dann wird daraus gar unfreiwilliger Humor: Ja wessen früheste Schulaufsätze waren denn nicht frei von „stilistischer Raffinesse“?! Sicherlich: Bereits die 9-jährige Scherebzowa legt in ihren Aufzeichnungen ein gewisses Schreibtalent an den Tag. Es ist schön zu verfolgen, wie sich mit der Zeit, aber auch mit zunehmender Lektüre (die allerdings unter den gegebenen Umständen bisweilen chaotisch, jedenfalls gezwungenermaßen konzeptlos verläuft) ihr Stil zusehends verfeinert: Das Vokabular wird reicher, die Einträge länger, der Inhalt durchdachter, bisweilen philosophischer. Selbstverständlich wächst hier eine außergewöhnliche Begabung heran, und dies, obwohl die Schule oft wochenlang ausfällt. Das ist alles zu würdigen. Aber Scherebzowa lernt vor allem selber, indem sie sich durch die Hausbibliothek liest. Die Sprache des Umfelds hingegen ist ihr keine tatsächliche Hilfe, und dies nicht nur, weil in Grosny neben dem Russischen immer mehr Tschetschenisch zu hören ist: Die Sprache der Außenwelt degradiert, sie wird zu einem bloßen „Überlebensrussisch“.

Man sollte „Polinas Tagebuch“ in erster Linie als das lesen, was es wirklich ist: ein zweifellos äußerst wichtiges, weil rares und ebenso eindrückliches wie verstörendes Dokument über eine Kindheit und Jugend im Krieg.

Titelbild

Polina Scherebzowa: Polinas Tagebuch.
Übersetzt aus dem Russischen von Olaf Kühl.
Rowohlt Verlag, Berlin 2015.
570 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347993

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