Eine Hymne auf die Zerstreuung

Über PeterLichts „Lob der Realität“

Von Dominik SchöneckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dominik Schönecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

PeterLichts Realität ist die Zerstreuung; ein Nebeneinander kleiner Zerstreuungen oder Zerstreutheiten. Er betreibt dabei aber durchaus eine Anstrengung zur Form. Erstens gibt es die Hymnen oder Oden: an die freie Welt oder an die Leerstelle und den Überfluss. Zweitens sogenannte Zeitgenössische Mono- und Dialoge, die mal erzählend, mal als kleine Mikrodramen ausgeführt sind, drittens Aphorismen oder Slogans, viertens Songtexte des gleichzeitig veröffentlichten Musik-Albums, fünftens verstreute Texte. Und sechstens Typologien zur Literatur als poetologische Selbstreflexion.

Wenn man z. B. diejenige Typologie zum Schriftsteller liest, lässt sich vermuten, warum PeterLicht vielleicht keiner sein will. „Ein anderer Mensch ist für den Schriftsteller ein Kaufhaus und es ist, als habe man ihn versehentlich dort eingeschlossen (…). Die Auslage ist voll. Mjam Mjam Mjam. Inzest, Nazifamilie, Suizid, Genitalintrospektive, Völkermord, Jugendverkorksung, Zölibat.“ Die Kritik, die in diesen Typologien nicht nur am Schriftsteller, sondern auch am Buchmarkt, am Leser und sogar am Papier exerziert wird, betrifft offenbar große Teile der Literatur unserer Zeit, aber sie trifft nicht ein punktuelles Ziel, sondern streut wie seine Formen. Und das offenbart PeterLichts größte Schwäche: Er hat wahrscheinlich tatsächlich etwas zu sagen, aber er tut es nicht. Er drückt nichts bis zum Schluss aus, sondern fängt an zu lavieren, wenn ihm die Realität zu nahe kommt. Er benennt die Realität nicht, er ironisiert sie. Niemand, der etwas zu sagen hat, hört das gerne.

Lobt PeterLicht die Realität also im Ernst? Verachtet er den Schriftsteller? Natürlich nicht. Ein Engagement für die Realität und ihre Idiosynkrasien kann man PeterLichts Texten zwar gewiss nicht absprechen und die Stimme, die diese Kritik vorbringt, ist vielleicht die Stimme PeterLichts. Dass Kapitalismus und Digitalisierung verrückte Blüten in allen Teilen der Welt und der Gesellschaft treiben, ist aber keine wirkliche Neuigkeit. Und PeterLicht versteht es sehr gut, diese Realität abzubilden. In dem schnoddrigen Ton, den er seinen Ichs seit der Geschichte meiner Einschätzungin den Mund legt, mäandert und kreiselt diese Stimme vom Bedeutsamen zum Absurden zum Sinnlosen zum Heiteren usw., bis sie sich am Ende erschöpft hat. Diese Erschöpfung hat dabei nichts mit Verausgabung zu tun, sondern mit Abspannung.

Nicht alles, was in freien Versen gehalten ist, ist eine Hymne oder an Klopstock und Hölderlin geschult. Aber jeder Text, der in Versen gehalten ist und sich in Rhythmus und Wortwahl von der Alltagssprache abhebt, ist zunächst ein Gedicht zu nennen und deshalb nicht von selbst verständlich. Über die lyrische Qualität ist damit noch nichts gesagt.

PeterLichts Lob der Realität beginnt, und das wurde in den bisherigen Rezensionen seines Buches übersehen, im Präteritum. Überhaupt stehen die Gedichte, die das Buch einleiten, im Bewusstsein des Vergangenen und können schon deswegen keine Hymnen oder gar euphorisch sein. „Noch niemand war gegangen. Wir waren komplett. / Und wir waren nicht allein. / Damals.“ So beginnt das Gedicht Lob der Realität und so beginnt das Buch. Die Stimme neigt sich zurück zu einem Urzustand, aber der ist endgültig vorbei. „Und wir liefen von einer Seite zur anderen / und es gab in der Betrachtung des Vorgangs nur die eine Seite, / dass es nämlich gut war, wie es war. Ohne Kalkül / es war ein großes volles Leben“. War. Im folgenden Lob der freien Welt heißt es „Was waren wir in Liebe!“ und am Ende des Gedichts „(Erst morgen werden wir wissen, wie glücklich wir heute waren)“. Mit einem Aphorismus schlägt das Tempus dann ins Präsens um. „Das Neue ist, dass es das Neue nicht mehr gibt.“ Es ist frappierend, dass diese elegischen Gedichte die eigentlich stärksten Texte sind.

Mitunter wird die Sprache auch der präsentischen Gedichte selbst bedeutsam: „und ob eine Wahrheit sich zeigt auf deiner äußeren Form / als Ausblühung des Inneren / diese Frage entzieht sich / und sackt weg / mit dem Zweifel / wie verblühende Anemonen / Leise. Sanft. / Zack. Weg. / Blatt für Blatt“. Der Rhythmus dieser Verse ist gespannt und wird nach dem ironisch-manierierten ersten Vers immer einsilbiger, stockender und härter. Die Wahrheit entzieht sich so dem Sprechen, löst sich schließlich auf in Listen und Aufzählungen, die dem Gedicht und der Suche nach der Wahrheit sein ironisches Pendant einverleiben: das Loslabern. „Die Frage, ob eine Wahrheit sich zeigt / als Ausblühung des Inneren / auf der äußeren Form / deines Gesichts / deines Lebenslaufs / deiner Freunde / deiner Liebe“, und so geht es noch zehn Verse lang weiter. Solche Listen tauchen immer wieder auf und sie haben natürlich den Charme des Unfertigen. Dieses aufzählende Sprechen bezeugt sicherlich auch PeterLichts Spielfreude, denn es spielt mit der zerstreuten Realität, indem es sich an sie anpasst. PeterLicht betreibt Mimikry an den Gegenstand seiner Kritik. Eine Absage an die Ironie zeigt sich nur im gesteigerten Realismus des Laberns an der Oberfläche. „Du bist so empfindlich, als du heftig bist“, sagt Diotima zu Hölderlins Hyperion, aber PeterLicht ist vielleicht nur empfindlich für die Gegenwart, eine heftige, überschreitende Reaktion auf sie bleibt aus. Er bleibt auf der Oberfläche, auf der wenig von einer „Ausblühung“ zu sehen ist.

In dem kleinen Stück We are the world treffen sich verschiedene Größen der Popkultur von Harry Belafonte über Peter Sloterdijk bis hin zu Michael Jackson im Studio von Quincy Jones, um den titelgebenden, weltbekannten Charity-Song aufzunehmen. Im Gemäuer gibt es Ratten, die schließlich gepeinigt vom „Angst-Tinnitus“, den die Session bei ihnen verursacht, das Weite suchen. „Es ist ein Elend – Rattenfrauen und Rattenkinder, Alte, Gebrechliche, schnell die paar Habseligkeiten gerafft.“ Die Popstars streiten sich, die Ratten jedoch müssen feststellen, dass sie in der Falle sitzen und zuletzt verstummen sie, als mit einem gemeinsamen „Alle: YEAH…“ die Session endlich beginnt. Doch es gibt erneuten Streit. Schließlich meldet sich Quincy Jones zu Wort und ruft seine Leute zur Ruhe. „Quincy Jones: FRIENDS! … We are all part of God’s great big family… Alle singen. Und noch heute singt es die Welt.“ So endet das Stück.

Die Dialoge spielen mit Redundanz und Wiederholung und zeigen die Stars (einer vergangenen/vergehenden Epoche) als ignorante Prediger von Worthülsen. Das kann passagenweise ganz lustig sein, aber es belässt diese Figuren auf derjenigen Oberfläche, auf der sie ohnehin zuhause sind: auf den bebilderten Hochglanzseiten der Gala und in den Newsfeeds des Internet. PeterLicht gibt seinen Figuren und Stimmen keinen Raum, keinen Inhalt. Er lässt sie schlicht Content produzieren. Das ist schon in Ordnung, aber Elfriede Jelinek kann das vielleicht einfach nur besser.

Viele der Dialoge, aber auch viele der Prosatexte wirken deshalb wie Skizzen und auch das ist selbstverständlich ein legitimes Verfahren, um der Zerstreuung eine Form zu geben. Skizzen oder Fragmente gewinnen ihren Reiz jedoch erst aus einer Spannung, die sich nicht selbst löst. Im Text Der Hosengott erinnert sich ein Ich an den Kauf einer Jeans. „Ich erinnere mich noch genau. Es muss so circa 60 Jahre nach der Erfindung der Waschmaschine gewesen sein, da betrat ich auf der Suche nach einer Hose ein Geschäft. Ich schlüpfte durch das Sortiment und an einer Hose blieb ich hängen wie eine Dorade beim Fliegenfischen. Es war eine sehr dunkle Hose in einer tiefblauen Färbung. Ich gab der Hose das Ja-Wort und simpelte an der Kasse mit dem Hosengott.“

Der Hosengott ist ein Schimpanse, der schließlich den Rat erteilt, die Hose nie zu waschen, um einer drohenden Entfärbung vorzubeugen. Der Ich-Erzähler befolgt den Rat des Hosengottes und so fängt seine Hose erwartungsgemäß irgendwann an zu stinken. In diesem Falle, so hat es der Hosengott bestimmt, solle er sich mit der Hose „im an’en Zustand“ unter die Dusche stellen und sich gemeinsam mit ihr waschen. „Wir wuschen uns. Es war eine Freude. Die Hose lebte auf. Heute ist das alles Geschichte“, heißt es zuletzt. Die Spannung hält sich zunächst in einem Nebeneinander von Hose, Gott-Affe und den miesen Versprechungen der Werbung, aber „heute“ ist diese Konstellation gar nicht mehr relevant und die Spannung erschlafft. Obwohl die Ideen und Bilder zunächst irritieren und sich durchaus eine gespannte Erwartung einstellt, wird sie hier – und nicht nur hier – durch eine fast atrophische Pointe enttäuscht. 

Ein weiteres Verfahren der Abspannung ist die Verwendung einer drolligen Ausdrucksweise, die das Gesagte abschwächt, indem es ins Lustige gezogen wird. Das betrifft nicht zuletzt die Kritik selber. „ICH NEHME DIE KRITISCHE HALTUNG EIN. Wie ein Turnvater. Da stehe ich mit nackten Beinen in meinen Kritikschläppchen auf der Kritikmatte und mache Kritikaufschwung beim Gerätekritisieren. (…) Und dann werden die Dinge eben wieder kleiner. Wenn man Kritik beherrscht.“ Aber PeterLicht macht die Dinge nicht kleiner, er verzerrt sie nicht. Inhaltlich entzieht sich PeterLicht zwar der authentischen Abbildung der Wirklichkeit, formal indes folgt er in seinen Texten sehr genau der Gegenwart, fügt ihr nichts hinzu, bringt sie nicht in eine andere Schwingung, liquidiert sie nicht, um sie ganz anders wieder erhärten zu lassen. Vielleicht ist das mit dem Lob doch keine Ironie, sondern bitterer Ernst.

Man müsste PeterLicht dafür feiern, dass er einem Realitätsgefühl, das man ganz gut mit „lost“ beschreiben könnte, nicht nur formal, sondern auch inhaltlich entspricht. Aber: „Die Kritik an Hipstern kann die Hipster der Kritik nicht ersetzen“, rappt grim104 von Zugezogen Maskulin und er hat vermutlich recht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Peter Licht: Lob der Realität.
Blumenbar Verlag, Berlin 2014.
240 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783351050160

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