Den Zeugen sehen

Drama und Gericht in Spätaufklärung und Goethezeit

Von Thomas WeitinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Weitin

Wir alle wissen, was ein Zeuge ist: Ein Zeuge ist ein Beobachter, der über das, was er gesehen oder gehört hat, möglichst wahrheitsgemäße Aussagen machen soll. Wird der Auftritt des Zeugen wiederum beobachtet, sind noch komplexere Beobachtungsverhältnisse im Spiel, es entsteht die Situation einer Beobachtung zweiter Ordnung, die in Gerichtsverhandlung die Regel ist. Der Zeuge wird dort in den Zeugenstand gerufen, er wird befragt und macht seine Aussage unter den Augen des Gerichts und der anwesenden Öffentlichkeit.

Uns mag dieses im Gerichtsfernsehen gern gezeigte Szenario selbstverständlich erscheinen. Historisch betrachtet ist es im deutschsprachigen Rechtsraum etwa 200 Jahre alt. Bis zum 18. Jahrhundert nämlich, liefen Gerichtsverfahren in Strafsachen meist geheim und schriftlich ab. Der Richter entschied nicht als Beobachter einer Verhandlungssituation, sondern als Leser der im Ermittlungsverfahren zu den Akten gebrachten Beweise. Man spricht daher vom ‚Urteil nach Aktenlage‘. Der Zeuge hat hier keinen Auftritt vor dem entscheidenden Richter, seine Aussage liegt diesem nur im Protokoll vor.

Es waren die Ideale der Aufklärung, die dem geheimen Prozess ein Ende bereiteten. Aufklärung – das hieß in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch und gerade im Recht: Nichts soll mehr unbeobachtet im Verborgenen entschieden werden. Dies hat einen medialen Wandel im Strafverfahren mit Auswirkung auch auf die Literatur zur Folge: Der Übergang zum öffentlich-mündlichen Gerichtsverfahren ist mit einer Dramatisierung des Rechts verbunden, die in der unmittelbaren Beobachtung des Zeugenauftritts ihre Schlüsselszene hat. Den Auftritt des Zeugen direkt zu beobachten, das hat viele Vorteile. Man liest nicht nur die Aussage vom Papier, man kann aus den Umständen der Aussage seine ganz eigenen Schlüsse ziehen. Wird ein Zeuge rot, dann lügt er vielleicht. Rattert er seine Aussage runter, ist er unglaubwürdig. Diese Beobachtungen bringen jedoch bei allem unzweifelhaften Nutzen zugleich Probleme mit sich, die das schriftliche Verfahren so nicht kannte. Wer garantiert, dass man in der unmittelbaren Beobachtungssituation aus der Aussage und den ganz unterschiedlichen Zeichen, die sie begleiten, die richtigen Schlüsse zieht? Und sind körperliche Zeichen wie das Erröten überhaupt genau zu deuten? Die Juristen des 18. Jahrhunderts konnten bei den Literaten Anschauungsunterricht nehmen, wenn es darum ging, Beobachter unmittelbar zu beobachten. Die vornehmste Gattung war zu dieser Zeit das Drama, in welchem die Gerichtsszene einen ebenso prominenten Platz einnahm wie in der Dramentheorie. Die Dramatisierung des Rechts und die komplexen Verhältnisse der Beobachtung und der Zeichendeutung unter den Bedingungen von Unmittelbarkeit waren hier bereits beobachtbar, als es sie in der Rechtspraxis noch gar nicht gab.

Der anonyme Beobachter der legendären Mannheimer Uraufführung von Friedrich Schillers Die Räuber versucht, die überwältigende Wirkung des Trauerspiels in Worte zu fassen. „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten einer Ohnmacht nahe zur Thüre. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus deßen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht!“ Wie infiziert vom Fieber des Sturm und Drang-Dramas gerät der Bericht seinerseits dramatisch und beschwört eine kreative Gewalt, wie sie in den Avantgarden der Moderne Manifestcharakter gewinnen wird: Auflösung und Neuschöpfung.

Derartige Zeugnisse lassen sich bei abnehmender Radikalität bis in die Frühzeit des bürgerlichen Trauerspiels zurückverfolgen, etwa zu Friedrich Nicolais Besuch einer Berliner Vorstellung von Miß Sara Sampson, über den er Lessing brieflich mitteilt, er sei „ungemein gerührt worden“ und habe „öfters geweint“. Johann Friedrich Schink hebt in seinem Bericht von der Berliner Erstaufführung der Emilia Galotti die Darstellerin der Claudia hervor und schreibt: „[W]as müst ich können, um das hinzustellen, wie sie es sagte, wie ich es gehört habe; wie die Töne noch vor meinen Ohren schweben!“ Begutachtet wird in den Kritiken das Ausdrucksvermögen der Schauspieler, ihre künstlerische Fähigkeit, das reiche Repertoire von Gemütszuständen, das die Dramen in Rede- und Nebentext bereithalten, naturgetreu umzusetzen.

Dass die unmittelbare Beobachtung des Bühnenspiels, der Augenblick, in dem es gehört und vernommen worden ist, durch keine Nacherzählung erreicht werden kann, ist ein Topos nicht nur der zeitgenössischen Theaterkritik. Die direkte Beobachtung, die Zeugenschaft der Zuschauer, avanciert in der deutschen Gattungspoetik nach 1750 zum zentralen Klassifikationskriterium, wenn es darum geht, die epische von der dramatischen Dichtung zu unterscheiden. Das bürgerliche Aufklärungstheater setzt in seiner wirkungsästhetischen Ausrichtung auf die Anschaulichkeit lebendiger Vorstellungen und muss daher das aufgeführte Schauspiel gegenüber dem Lesedrama privilegieren und die dramatischen den narrativen Gattungen vorziehen. Louis-Sébastien Mercier radikalisierte die Wirkungsästhetik in seinem Neuen Versuch über die Schauspielkunst durch die Vorstellung vom Theater als „oberste[m] Gerichthof“, womit er einerseits auf antike Traditionen zurückgreift, andererseits aber die Idee eines modernen Massenmediums verbindet. Ähnlich juridisch aufgeladen prägt Schillers Rede über die Schaubühne als moralische Anstalt den Begriff der „Gerichtsbarkeit der Bühne“, die er durch „Anschauung und lebendige Gegenwart“ charakterisiert sieht. Das Theater als Gericht, die Gerichtsszene wird zum Inbegriff jener öffentlichen und unmittelbaren Beobachtung der Rechtsprechung, die der zeitgenössischen Rechtspflege fehlt.

Anders als in England mit seiner langen bürgerlichen Tradition der öffentlich agierenden Geschworenengerichte, hatte der Strafprozess in Frankreich und in den deutschen Rechtsgebieten Ende des 18. Jahrhunderts noch die Form der geheimen schriftlichen Inquisition, in der alle Kapitalverbrechen von gelehrten Obergerichten nach Aktenlage und das heißt ohne Anschauung und lebendige Gegenwart entschieden wurden. In Frankreich änderte das die Gesetzgebung von 1789 schlagartig. In Deutschland hingegen dauerte es bis 1877, ehe nach insgesamt mehr als hundert Jahren intensiver rechtspolitischer Auseinandersetzung eine einheitliche Reichsstrafprozessordnung die frei zugängliche, mündliche Hauptverhandlung in der bis heute gültigen Form kodifizierte. In der Hauptverhandlung muss seither alles, was im Ermittlungsverfahren zu den Akten gebracht worden ist, noch einmal vor den Augen und für die Ohren aller Verfahrensbeteiligten und des interessierten Publikums zur Sprache gebracht werden. Die vor Gericht versammelten Beobachter stellen sicher, dass nichts unter der Hand geschieht, wenn Recht gesprochen wird. Erst der theatrale Akt verleiht den Akten Beweiskraft. Als Verfahren gilt nicht mehr wie ehedem der Schriftverkehr, sondern der Auftritt vor Gericht und seine Beobachtung

Bevor, mit Blick auf die deutsche Entwicklung kann man sogar sagen: lange bevor, das Unmittelbarkeitsprinzip im Rechtssystem institutionalisiert wird, verdichten sich in der Dichtung und ihrer Theorie Vorstellungen vom theatralen Prozeß, die die Qualität einer Poetik des Wissens besitzen. Von ‚Poetik des Wissens‘ spricht die Forschung gern, wenn es um den literarischen Charakter vermeintlich außerliterarischer Erkenntnisformen geht. Hier dürfen wir das im engen Sinn verstehen, denn der theoretische Klärungsbedarf, den die Umstellung des Gerichtsverfahrens auf unmittelbare Beobachtung mit sich bringt, artikuliert sich im Zentrum der poetologischen Diskussionen zur Zeit der Aufklärung.

Die literarischen Vorstellungen vom unmittelbaren Prozess bringen eine Emphase für Direktkommunikation just in dem historischen Moment zum Ausdruck, da in der literarischen Praxis das Gegenteil, nämlich die Distanz zwischen Autor und Leser, zum Regelfall wird. Verantwortlich dafür sind die Alphabetisierungsprogramme der Aufklärung, dank welcher die Schriftkultur breite gesellschaftliche Schichten erreicht. In der Folge weicht die alte rhetorische Organisation von Literatur, in deren Mittelpunkt das gesellige Vortragen und Vorlesen steht, dem leisen Lesen „in der Einsamkeit des Cabinets ohne Zeugen“ (Johann Jakob Bodmer). Johann Jakob Engel, ab 1787 einer der Direktoren des Königlichen Nationaltheaters in Berlin, will die Gattungsdifferenz zwischen Epik und Dramatik danach unterschieden wissen, ob „ein fremder Zeuge“ von vergangenen Ereignissen berichtet oder aber die Zuschauer selbst „zu unmittelbaren Zeugen“ einer sich vor ihren Augen abspielenden Handlung werden. Aus der Unterscheidung verschiedener Direktheitsniveaus von Beobachtung folgt bei Engel wie bei seinem berühmten Freund Lessing die Privilegierung des Dramas gegenüber den Erzählgattungen. Was bei den Aufklärern angelegt ist, führen die Stürmer und Dränger konsequent weiter. Sie schätzen den unmittelbaren Gefühlsausdruck im Drama so sehr, dass sie auch ihre Erzähltexte entsprechend gestalten, wobei Gerichtsszenen nicht selten eine zentrale Rolle spielen.

Das zeigt sich eindrucksvoll in Goethes Werther. Entstanden ist der Werther-Roman im vorletzten Frankfurter Anwaltsjahr des jungen Juristen Goethe, dessen Schriftsätze ihrem Entdecker und Herausgeber Georg Ludwig Kriegk zufolge immer „etwas dramatisch“ gerieten, wofür er von Kollegen und Richtern viel Kritik, einmal gar einen offiziellen Verweis einstecken musste. So ergeht es auch Werther, der sich als neu berufener Gesandtschaftssekretär schon bald mit seinem Vorgesetzten über Fragen des Schreibstils entzweit. Die Briefe an Wilhelm simulieren den informellen Charakter einer Unterhaltung, die durch den exzessiven Gebrauch von Interjektionen und Ausrufungszeichen  immer wieder als dramatisches Gespräch imaginiert wird. Diese Vorstellungen gipfeln in einer dramatischen Gerichtsszene. „Könnt’ ich dir, mein Freund, jedes seiner Worte vor Gericht stellen!“, schreibt Werther über eine Begegnung mit dem straffälligen Bauernburschen, dessen Mandat er am Ende tatsächlich an sich reißt und vertritt in einer „feurig“ vorgetragenen Verteidigungsrede, die bei Albert und dem Amtmann nur Kopfschütteln auslöst.

Wie tiefgehend der theatrale Prozess die Literatur beschäftigt, das zeigen auch die Rechtsdramen der Zeit, die angesichts der langen Latenz der deutschen Reformentwicklung ihre Schauplätze in das europäische Ausland verlegen. Schiller lässt mit der Bearbeitung des Maria Stuart-Stoffes das englische Geschworenengericht und die Tradition des Peer-Prinzips lebendig werden. Kleist verlegt die Handlung seiner Rechtskomödie Der zerbrochne Krug in die Niederlande und adressiert mit der Utrechter Gerichtsbarkeit eines jener progressiven Stadtrechte, die bereits im Mittelalter, zur Zeit der Wahrheitsproben und Gottesurteile, Elemente des unmittelbaren, tatsachenorientierten Beweisrechts kannten und der Beobachtung des Zeugen entsprechenden Spielraum einräumten. Als Höhepunkt der Verhandlung, die das ganze Stück umfasst, ist der 7. Auftritt gestaltet, in dem sich der Dorfrichter Adam mit dem aus Utrecht angereisten Rechtsrevisor Walter in einen prozessrechtlichen Streit über das Unmittelbarkeitsprinzip verstrickt. Adam versucht aus leicht einsichtigen Motiven, die zentrale Tatzeugin Eve von ihrer Aussage abzuhalten, indem er sie durch den Verweis auf die Verwandtschaftsbeziehung zur Klägerin Marthe Rull als prinzipiell untüchtige Zeugin qualifiziert. Der Vertreter des Obergerichts wendet sich gegen diese übereilte Entscheidung mit dem vielsinnigen Hinweis: „Die Jungfer zeugt noch nicht, sie deklariert jetzt; / Ob, und für wen, sie zeugen will und kann, / Wird erst aus der Erklärung sich ergeben.“ Eingefordert wird der Auftritt der Zeugin, ihre direkt in Augenschein zu nehmende mündliche Erklärung, auf deren Basis allererst über ihre Glaubwürdigkeit entschieden werden soll. Anstelle von situationsunabhängigen Regeln, wie Adam sie zu Rate ziehen will, kommt es Walter auf unmittelbare Beobachtung und freie Beweiswürdigung an.

Die Gerichtsszene, die schon die Trauerspiele der Frühaufklärung dominiert, rückt mit dem Sturm und Drang noch stärker in den Fokus, weil sie für offene Beobachtungen einsteht, die nicht vorherbestimmt werden können. Deshalb ist sie das ultimative Sinnbild für die Authentizitätsemphase des Zeitgeistes. Deshalb ist sie zugleich derjenige Schauplatz, auf dem die im unmittelbaren Ausdruck und seiner Beobachtung liegenden Sinndeutungsschwierigkeiten erwogen werden können. Diese Erwägungen wiederum erlauben es, zur zeichentheoretischen Seite der Dramatisierung des Rechts vorzudringen.

Poetologen und Dramentheoretiker versuchen, die Beobachtungssituation des Zuschauers im Theater hermeneutisch einzuholen. Es muss geklärt werden, wie hier ein Verstehen stattfindet, das heißt wie Zeichen in einer konkreten Situation, die jede Aufführung und jede Gerichtsverhandlung darstellt, so beobachtet werden können, dass Eindeutigkeit gewährleistet ist. Zu den Wissenschaften, die solche Fragen systematisch untersuchen, der Anthropologie als Leitdiskurs des 18. Jahrhunderts und der im Entstehen begriffenen Psychologie, nehmen Literatur und Recht nahezu gleichzeitig Kontakt auf. In den frühen Formen der Forensik sind beide Bereiche kaum sinnvoll zu trennen, was sich beispielhaft an der Frage des Gebärdenausdrucks veranschaulichen lässt, die im Zeitalter der physiognomischen Begeisterung hohes Ansehen genießt. Sie beschäftigt die Theorie des Bühnenspiels ebenso wie die Juristen im medialen Wandel vom schriftlichen zum mündlichen Verfahren. Den Auftritt des Zeugen zu beobachten, das heißt im Unterschied zum Lesen eines Protokolls nicht nur den Inhalt der Aussage, sondern gleichzeitig die mimischen und gestischen Zeichen, die sie begleiten, aufzunehmen und zu verarbeiten.

Fester Bestandteil des schriftlichen Gerichtsprozesses sind die sogenannten Gebärdenprotokolle, durch welche im Verhör neben der Aussage auch Mimik und Gestik festzuhalten sind und die gesamte Aussagesituation für den nach den Akten urteilenden Richter so simuliert werden soll, als sei er selbst dabei gewesen. Das verlangt die Theorie. Die Praxis gelangt zu dem Ergebnis, dass dieser Zweck nicht zu erreichen ist, weil die Gebärdenprotokolle in der Routine des Prozessalltags häufig nicht genau genug gefertigt werden. Das bleibt jedoch nicht der einzige Grund. Anton Mittermaier, berühmter Reformjurist und später neben Jacob Grimm einer der Hauptredner auf dem ersten Germanistentag in 1846 in Frankfurt, hegt in seinen Bemerkungen über Geberdenprotokolle im Criminalprocesse grundsätzliche Bedenken, weil, wie er schreibt, auch „die treueste Wiedererzählung des Gesagten“ den Vorteil nicht ersetzen kann, den derjenige hat, welcher „selbst hört“ und „sieht“. Indem er auf die Differenz zwischen dem Zuschauer und der bloßen Beschreibung der Situation abstellt, schließt Mittermaier direkt an den Befund an, der in der Gattungspoetik zur Privilegierung des Dramas führt. Dass er dabei explizit dramentheoretische Abhandlungen (v.a. Engel) konsultiert, zeigt, wie eng der Wissenstransfer zwischen Recht und Literatur an der Schwelle zur Moderne und zum modernen Gerichtsverfahren noch gewesen ist. Dabei kommt das Interessante an der Übergängigkeit von Literaturtheorie und juristischer Verfahrenspraxis über die Einsicht zum Tragen, dass Unmittelbarkeit in jedem Fall und auf jedem Feld ein hohes Maß an Komplexität bedeutet, wenn sie nicht mehr allein nach den althergebrachten Regularien der Rhetorik gehandhabt werden soll.

Diese steht bei Juristen und Literaten gleichermaßen unter dem Verdacht, auch unzulässiger Beeinflussung Vorschub zu leisten, weshalb man sie, wie es in Sulzers zeitgenössischem deutschen Lexikon heißt „von den meisten Gerichtshöfen abgewiesen hat“. Weder die Dramentheorie der Aufklärung noch die angestrebte neue Form des mündlichen Gerichtsverfahrens will sich nach den Regeln der Rhetorik verstehen lassen. Doch wie lässt sich umgekehrt der unmittelbare Ausdruck in mündlichem Verfahren Bühne erfassen? Mittermeier klagt: „Noch immer fehlt es an einer untrüglichen Semiotik der Leidenschaften und Affecten, selbst bei den gewöhnlichsten Erscheinungen, z.B. dem Erröthen“. Dieser negative Befund führt zu der weit reichenden Schlussfolgerung, dass zur „Menschenbeobachtung“ eine „Kunst“ gehöre, „die nicht auf Regeln gebracht ist, und nie darauf gebracht werden kann“.

In dem Maße, wie die unmittelbare Beobachtung einzigartige Erkenntnismöglichkeiten eröffnet, die der Beobachter dem Leser immer voraus hat, wird es ungemein schwierig, die geschauten Zeichen in der konkreten Situation so systematisch zu erfassen, dass darüber geurteilt werden kann. Ein „Chaos“, wie es die Aufführung von Schillers Räubern bei den Zuschauern hinterlassen hatte, sollte im Gerichtssaal vermieden werden.

Wie schwierig Kommunikation bei gleichzeitiger Beobachtung ist, lässt sich an einem weiteren Schiller-Beispiel vorführen, das den Gerichtshof des Theaters besonders dramatisch gestaltet: Maria Stuart. Die Literaturgeschichte schreibt es einem Dichter zu, der sich von den stürmischen Anfängen entfernt und klassisch gemäßigt hat. Anstatt die Gesellschaft durch die „Gerichtsbarkeit der Bühne“ zu revolutionieren, soll der Mensch nun ästhetisch erzogen werden. Gleichwohl bleibt die juristisch bedeutsame Beobachtungssituation als Thema erhalten. Und wer genau hinschaut, der erkennt hier keineswegs gemäßigte Verhältnisse.

Maria Stuart spitzt den Fall der nach England geflohenen schottischen Königin dramatisch zu. Die der Mittäterschaft am Gattenmord Beschuldigte hofft auf Zuflucht bei Elisabeth, die sie jedoch festnehmen und von einem Geschworenengericht zum Tode verurteilen lässt, weil sie die Ansprüche der Schwester auf die englische Krone fürchtet. Als sich Schiller dem Schicksal der schottischen Königin zuwandte, hatte der Stoff bereits eine reiche Tradition als religiöse Märtyrertragödie hinter sich, wozu sich der Konflikt zwischen der Katholikin Maria und der Protestantin Elisabeth anbot. Schiller arrangiert sich damit jedoch nur scheinbar, wenn Maria am Ende mit Agnus Dei um den Hals und Rosenkranz am Gürtel beichtet und das katholische Abendmahl empfängt. Noch angesichts letzter Dinge entfaltet sie eine physische Präsenz, die Lord Leicester, den schwächlichen Günstling beider Königinnen, schwindeln macht.

In der Beobachtung vor Gericht ist der Körper von Gewicht. Das Treffen der Monarchinnen soll der Rahmen sein, in dem das gegen Maria verhängte Todesurteil in Gnade verwandelt werden kann. Was letztlich Leicester einfädelt, ist von Beginn an Marias Ziel, die die Rechtmäßigkeit des Urteils der Geschworenen in Frage stellt und verlangt, „allein“ mit „der Schwester“ zu sprechen. „Nur Könige sind meine Peers.“ Durch das Standesbewusstsein hindurch ist zu erkennen, dass am Akt des Sich-Gegenübertretens nicht nur das passende Pendant, sondern vor allem die Unmittelbarkeit der Kommunikation interessiert. So erfährt der Zuschauer vom juristischen Hintergrund des Streits: Die Zeugen, auf deren Aussage hin die Königin wegen versuchten Staatsstreichs verurteilt worden ist, hat man ihr gegen geltendes Prozessrecht nie gegenübergestellt. Nun verlangt sie, mit den Zeugen konfrontiert zu werden, um sie bei der Aussage beobachten zu: „Das sind zwei Zeugen, die noch beide leben! / Man stelle sie mir gegenüber, lasse sie / Ihr Zeugnis mir ins Gesicht wiederholen! / Warum mir eine Gunst, ein Recht verweigern, / Das man dem Mörder nicht versagt?“

Eigentlich sind die Rollen im Gnadenzeremoniell klar vorgeschrieben. Es verlangt von Maria Unterwerfungsgesten und nötigt Elisabeth, die Gnadenformel auszusprechen. In der unmittelbaren Interaktion aber gelingt es nicht, den mimisch-gestischen Dialog durch den Sprechakt zu domestizieren. Die Körpersprache gerät außer Kontrolle. Wilde „Gebärden“ Marias werden in den Augen Elisabeths zu Zeichen unangemessenen Stolzes, dem die Richterin ihrerseits mit abschätzigen Blicken begegnet, welche wiederum „steigende[n] Affekt“ bei der Verurteilten bewirken, die erst „auffahrend“, dann „von Zorn glühend“ spricht. Elisabeth „schießt“, wie es im Regietext weiter heißt, „wütende Blicke zurück“. Am Ende macht der „Doppelfuror“ der Körperzeichen die als oberste Gerichtsinstanz angerufene Königin „sprachlos“. Der Gnadenakt scheitert.

Die abweichend von den Quellen erdachte Begegnung der Königinnen ist ein Mittel zur Linderung der „Trockenheit“, die Schiller Goethe gegenüber an seiner rechtshistorischen Thematik beklagt. In ihrer überbordenden Lebhaftigkeit aber wird sie zu einem erheblichen Problem für die Gesamtdramaturgie. Das Trauerspiel versammelt die Gegnerinnen bereits im dritten Aufzug zum angestrebten Gnadenakt, zu einem Zeitpunkt also, der dramaturgisch dem krisenhaften Höhepunkt vorbehalten ist. Wirkungsvolle Versöhnungsszenen, wie sie Schiller im Schaubühnen-Vortrag aus Corneilles Cinna zitiert, können nur den Schluss des Stückes bilden. Im dritten Akt muss die Begnadigung scheitern. Die Szene ist also nur scheinbar ergebnisoffen. Aus der Perspektive von Schillers Theorem einer Gerichtsbarkeit der Bühne erscheint die Gnade mit Grund am ‚falschen‘ Ort, um über die Eskalation des Urteilens im unmittelbaren Angesicht des anderen dasjenige hervorzukehren, was die Gerichtsszene ausmacht: das Zuviel, den Überschuss und die Eigendynamik der Zeichen, deren Kontrolle in jeder Verhandlung nur kontrafaktische Voraussetzung sein kann.

In der Goethezeit war die akademische und intellektuelle Trennung zwischen Dichtern und Juristen noch nicht die Regel. Es gab einen regen Austausch und drängende theoretische Probleme, die zum Austausch drängten. Der Übergang vom geheimen schriftlichen zum öffentlich-mündlichen Strafverfahren war ein großes Anliegen der Aufklärung. Den Auftritt des Zeugen beobachten zu können ist eine ihrer Schlüsselszenen. Die Literatur, die sich zu dieser Zeit von rhetorischer Geselligkeit abwendet und auf einen anonymen Büchermarkt einstellen muss, in dem die ‚einsame Lektüre ohne Zeugen‘ die Rezeption von Texten bestimmt, imaginiert umso ausführlicher Szenarien unmittelbarer Beobachtung und stellt das Drama als die führende Gattung dar. Die theoretischen Bemühungen einer dramatischen Semiotik, also einer Theorie der Körperzeichen und ihres Verständnisses, ist kaum in der Lage, die Eindeutigkeit herstellen, die ein gesichertes Urteil braucht. Vielmehr zeigt sich in der Dramatik, wie die Kommunikation über Körperzeichen zu nicht kontrollierbaren Steuerungsverlusten führen kann.

Mit Blick auf solche Eskalationen entwickeln sich Recht und Literatur institutionell unterschiedlich. Das Theater, auch das klassische, kann der Eskalation Raum geben, wohingegen vor Gericht die Dramatik nicht so weit gehen darf, dass kein Urteil mehr zustande kommt. Das Recht versichert sich dagegen einerseits durch die Entwicklung einer differenzierten Aussagepsychologie, die heute mit den Mitteln der Hirnphysiologie glaubt, das erreichen zu können, was den Semiotikern um 1800 nicht gelungen ist: nämlich die Botschaft der Körperzeichen doch eindeutig zu entschlüsseln. Jedenfalls gibt es Wissenschaftler, die behaupten, sie könnten das. Dass demgegenüber weiter Skepsis angebracht ist, macht die Tatsache deutlich, dass das Recht selbst sich darauf nicht verlassen will. Es geht eine zusätzliche Versicherung ein, indem es jedes mündliche Verfahren an ein System von Akten zurückbindet. Bei aller Wertschätzung für das Unmittelbarkeitsprinzip können so die Steuerungsvorteile des Speichermediums Schrift auch in den modernen Gerichtsprozess integriert werden. Im ‚Drama‘ der mündlichen Hauptverhandlung sind sämtliche Akte von der Verlesung der Anklage über die Zeugenaussagen bis zur Verkündung des Urteils Transformationen von Akten in gesprochene Worte. „Eine reine Mündlichkeit kommt im Recht trotz ihrer Installierung als Prinzip nicht vor.“ (Vismann) Auf diese Weise kann der eigendynamische Auftritt des Zeugen besser kontrolliert werden. Ist die Aussage im Auftritt unklar, kann sie durch den Vorhalt dessen, was im Ermittlungsverfahren bereits zu Protokoll gegeben wurde, vereindeutigt werden. Den Auftritt des Zeugen zu beobachten – dazu gehören solche Sicherheitsmaßnahmen. Sonst würde aus dem Recht Theater.