Richtige Antworten auf falsche Fragen

Kathrin Röggla seziert im Rahmen der 3. Saarbrücker Poetik-Dozentur für Dramatik das Verhältnis von Gegenwartstheater, Literatur und Ökonomie im Finanzmarktkapitalismus

Von Hannah SpeicherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannah Speicher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kathrin Rögglas Saarbrücker Poetikvorlesung ist nun als schmales Bändchen unter dem Titel Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen bei Theater der Zeiterschienen und leistet nichts weniger als eine grundlegende Revision der ästhetischen und politischen Lage des deutschsprachigen Gegenwartstheaters. Ohne ihr eigenes Schreiben zum absoluten Zentrum der Reflexionen zu machen, spürt Röggla, vielfach ausgezeichnete Prosaautorin und Dramatikerin, den grundsätzlichen Bedingungen und Möglichkeiten kritischen Schreibens im Spannungsfeld von Theater, Literatur und Ökonomie nach. Ausgangspunkt ihrer Kritik, die die drei im Juni und Juli 2014 gehaltenen Vorträgen eint, ist ihre tiefgreifende Skepsis gegenüber der Ideologie der Finanzmärkte und deren vermeintlicher Alternativlosigkeit.

Röggla verweist mit Nachdruck auf die Aporien einer Gesellschaft, in der der ökonomische Diskurs mehrheitlich (auch von Kultur- und Theaterschaffenden) unhinterfragt und wie selbstverständlich als Leitdiskurs anerkannt wird. Und selbst die Tatsache, dass die Wirtschaftswissenschaften die Funktionsweisen von Märkten und die Entstehung von Krisen häufig nicht zufriedenstellend erklären, könnten diesen Glauben nicht grundlegend erschüttern. Von hier aus erscheint ihr auch das ökonomische Überengagement und die Ökonomiebegeisterung so mancher Theatermacher suspekt, wenn diese den Ruf nach bench marks oder Qualitätsmanagement vorschnell in ihre Arbeitsstrukturen integrieren oder sich reibungslos dem Spar- und Zeitdruck im Theaterbetrieb anpassen:

Es gab diese Geschwindigkeit, die das Ganze annehmen sollte, die Rasanz, die von diesem Theaterdruck, diesem Theaterproduktionsdruck herrührte, wie er nicht nur von vielen Kollegen wie Rimini Protokoll, Hans-Werner Kroesinger, aber auch René Pollesch oder Elfriede Jelinek vorgegeben wird, sondern auch von den großen Stadttheatern selbst, der mit dem Schreibprozess nicht gut zusammengeht.

Zwar mildert sie einige Seiten später den Vorwurf an die erfolgreichen Kollegen und Kolleginnen dadurch wieder ab, dass sie betont, keinen festen kritischen Standpunkt außerhalb der kapitalistischen Ordnung für vorstellbar zu halten: „In Wirklichkeit produzieren wir nichts als Marktwissen, nichts anderes gibt es mehr. Wir sind von Marktfiktionen nahezu überwuchert.“ Doch der Clou ihrer Argumentation ist es, kritische Subjektivität nicht aufzugeben, sondern sie (in Anlehnung an ein Konzept des Soziologen Ulrich Bröckling) als Realfiktion zu konzipieren, die den Marktfiktionen entgegenstehen kann.

Nicht ganz erschließt sich daher ihre sarkastische Absage an die Marxʼsche Kritik der politischen Ökonomie mit dem Argument, diese gelte „nicht mehr als zeitgemäß […] und [habe] es insofern diskurstechnisch schwer“. Der Rückzug auf dieses Diskursargument ist bedauerlich, da ihre politischen Zeitdiagnosen ohne einheitliche Terminologie teilweise doch zerfasern oder in (nicht unbeeindruckenden, aber doch ausufernden) Sprachbildern chiffriert werden. So beschreibt sie beispielsweise das Ende des Golden Zeitalters des kooperativen Kapitalismus in den 1970er-Jahren im Bild von Poltergeistern, die in den zuvor „zombiefreien“ Fußgängerzonen die Harmonie zerstören.

Besonders stark sind Rögglas Ausführungen immer dort, wo sie sich dezidiert auf ihre eigenen Erfahrungen als Schreibende im Theaterbetrieb bezieht oder sich bei der Untermauerung ihrer Argumente durch praktische Beispiele als kluge Theatergängerin und hellwache Beobachterin der deutschsprachigen Theaterszene zu erkennen gibt. So bleibt kaum eine Bemerkung zu Theatertrends im Abstrakten, kein Argument schwebt in der Luft; in ihre Darstellung bezieht sie Theaterabende und Podiumsdiskussionen an Stadttheatern ebenso mit ein, wie Performances aus der freien Szene. So zeigt sie sich zum Beispiel skeptisch gegenüber der Fülle von Romanadaptionen auf deutschen Bühnen (denen sie nur einen Bestseller-Bonus, keine ästhetische Notwendigkeit zugesteht) oder auch gegenüber den derzeit so populären und leicht herzustellenden Authentizitätseffekten, wenn etwa Tiere auf der Bühne eingesetzt oder Laiendarsteller in ästhetisch kaum überformtem Dokumentartheater die Wirklichkeit auf die Bühne bringen sollen.

Doch nicht nur formale, auch inhaltliche Trends entgehen ihrer Kritik nicht: So hält sie die derzeitige Vorliebe des Betriebs für Projekte zu Themen wie „Revolution“, „Revolte“, „Protest“ oder „Kollektivität“ in vielen Fällen für die romantische Verklärung von radikaler Politik ähnlich wie Slavoj Zizkek es tut, indem er fordert, die Linke müsse die erhabene Schönheit von Aufständen, die zum Scheitern verurteilt sind, aufheben. 

Obschon Röggla mehrfach betont, Ziel ihrer Vorlesung sei nicht ein Making of ihrer eigenen Theatertexte, gewährt sie dem Leser differenzierten Einblick in ihre eigene – zwischen ästhetischer Formsuche und dokumentarischer Methode changierenden – Schreibpraxis. So unterzieht sie beispielsweise ihren zuletzt entstandenen (am Schauspiel Leipzig uraufgeführten) Theatertext „Der Lärmkrieg“ einer strengen Selbstkritik, wenn sie festhält, es sei ein Theaterabend geworden, an dem „durchaus brisantes […] Recherchematerial hörbar wurde, während die ästhetische Setzung eher im Hintergrund blieb“.

Nicht nur lässt Röggla den Leser an der tendenziell ‚einsamen‘ Schriftstellertätigkeit teilhaben, sie macht auch den Arbeitsalltag an deutschsprachigen Stadttheatern zum Thema. Gerade hierin liegt der besondere Wert ihrer Vorlesung, denn die Arbeitsbedingungen innerhalb der Stadttheaterwelt werden auch von wissenschaftlicher Seite noch viel zu selten in ihrer das Ästhetische präfigurierenden Funktion begriffen. Rögglas Verweis auf die zunehmende Marginalisierung von Theaterautorinnen und -autoren in der Theaterarbeit ist hier besonders aufschlussreich. Angesichts der zunehmenden Vermarktlichung des theatralen Produktionszusammenhangs (hoher Zeit- und Spardruck) fungierten, so Röggla, Dramatikerinnen und Dramatiker häufig nur noch als „Dienstleister“ von Regie- beziehungsweise Produktionsteams, als Handlanger bei der Umsetzung fremder Ideen:

Das Theater ruft bei der Gegenwartsliteratur an und sagt: ‚Rufen Sie nicht uns an, wir rufen Sie an!‘ Und legt dann auf. Oder redet von Projekten, die sich Dramaturgen zusammen mit einem Regisseur ausgedacht haben oder noch schlimmer: mit der Intendanz, und man castet einen Regisseur und danach einen Autor oder eine Autorin dazu. […] Er oder sie sind bloß Dienstleister […]. Der Text muss sich andauernd den Bedürfnissen des Team anpassen, er muss der Kontrolle standhalten.

Eine weitere Stärke von Röggla ist es, dass sie ihre eigenen Gedanken im aktuellen performancekritischen Diskurs zu verorten weiß, der unlängst in den Positionen von Frank M. Raddatz, Bernd Stegemann oder Milo Rau virulent geworden ist. Während Sie Raddatzʼ Argument von der Text- und Utopiefeindlichkeit des Gegenwartstheaters uneingeschränkt teilt – Performance sei reine Gegenwart, so Raddatz –, grenzt sie sich klug und differenziert von Stegemann und seiner 2013 erschienen „Kritik des Theaters“ ab. Im Gegensatz zu Stegemann unterstellt Röggla ‚postmodernen‘ künstlerischen Formen nicht per se apolitische Spielerei zu sein, sondern macht klar, dass die schriftstellerische Frage immer diejenige danach sein muss, wann und wie literarische Formen genutzt und eingesetzt werden. Kern ihrer Poetologie ist daher die Forderung, dass Literatur, ohne die normative Einschränkung künstlerischer Mittel, Formen und Stoffe „zwingend“ machen muss, um den „Gewaltzusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse“ und „das Uneingelöste“ zum Vorschein bringen zu können. Nur so könne die Dramatik eine „Dringlichkeit“ zurückgewinnen und  ein „Territorium“ erschaffen, das mit Heiner Müller gesprochen dem Theater Widerstand leisten kann.

Überzeugend plädiert Röggla somit für ein Theater das – jenseits der falschen Frage „Postdramatik: Ja oder nein? Postpostdramatik, neuer Realismus?“ – auf die Einbildungskraft von Künstlern und Zuschauern vertraut und sich politisch aus dem Drang speisen sollte, „den Wald vor lauter Bäumen sehen zu wollen“. Und so regt sich zum Schluss der Vorlesung dann doch noch so etwas wie die Hoffnung auf die gesellschaftliche Kraft des Theaters, wenn sie schreibt: „Ja Bildschirm schlägt Bühne, schlägt Text … Aber wir sprechen uns noch, weiß ich, wird immerhin danach noch gesagt, dann, wenn die Leute den Saal verlassen, zueinander, voneinander weg, miteinander, da gibt es die erstaunlichsten Kombinationen. In diesem Versprechen liegt vielleicht die Menge Futur, die uns geblieben ist.“

Der Herausgeber Johannes Birgfeld resümiert im Nachwort über die Vorträge, diese seien „von einer immer neu ansetzenden Such- und Denkbewegung“ bestimmt, was klar werden lässt, dass Röggla nicht auf alle Fragen Antworten hat. Gleichwohl traut man ihr nach der Lektüre ihrer kenntnisreichen und praxisnahen Vorlesung zu, noch viele weitere spannende und ästhetisch-komplexe Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu finden. Wer Kathrin Röggla bei dieser Suche begleiten möchte, dem sei „Die falsche Frage“ empfohlen.

Titelbild

Kathrin Röggla: Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen.
Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Herausgegeben von Johannes Birgfeld.
Theater der Zeit, Berlin 2015.
108 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783957490124

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