Dantes „Commedia“ aus der Sicht eines staunenden Lesers

Gedanken zur Unbegreifbarkeit der „Göttlichen Komödie“

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dantes Commedia ist zusammen mit Shakespeares Dramen das am häufigsten kommentierte Werk der Literaturgeschichte. Es gibt zahllose Spezialisten, die Unmengen an umfangreicher Forschungsliteratur über die Göttliche Komödie geschrieben haben, über ihren Aufbau, ihre Sprache, ihren historischen, religiösen, humanistischen Gehalt, über ihre Politik, ihre interne Poetologie, über die Zahlen und deren feinsinnige Anordnung, über ihre Protagonisten und nicht zuletzt über ihre unüberschaubare Rezeptionsgeschichte. Wer sich also mit Dantes Meisterwerk wissenschaftlich beschäftigen möchte, hat einen Berg von Forschung zu besteigen, und der Aufstieg mag sich zeitweise anfühlen wie Dantes eigener auf den Läuterungsberg.

Vielleicht muss man sich dem Epos aber auch nicht zuerst analytisch nähern, vielleicht darf man sich 750 Jahre nach Dantes Geburt auch einfach dilettantisch lesend in die Commedia hineinversenken. Es gibt zahlreiche gute deutsche Ausgaben, die den Einstieg ermöglichen, hingewiesen sei vor allem auf die zweisprachige, im Reclam-Verlag erschienene Ausgabe von Hartmut Köhler und die als erste Annäherung empfohlene Prosa-Übersetzung von Kurt Flasch. Jüngst hat nun der Romanist und langjährige Dante-Kenner Karlheinz Stierle mit Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt eine überschaubare, aber wunderbar lesbare Einführung in Dantes Werk vorgelegt, die einen guten Ausgangspunkt bietet, um sich mit Dante auf den Weg zu machen, die Göttliche Komödie zu erkunden. 

Dante Alighieri wurde 1265 in Florenz geboren und sein Name wird bis heute mit dieser Stadt verbunden wie kein zweiter. Nach der Ausbildung in einer Klosterschule, zumindest wird das vermutet, begegnete der junge Dante relativ früh dem Dichter, Rhetoriker und Notar Brunetto Latini (1220-1295), der ihn in der Rhetorik unterwies und ihm eine intensive Auseinandersetzung mit klassischen lateinischen Autoren, vor allem Vergil, ermöglichte. Schon früh, etwa in den 1280er Jahren, übte sich Dante im Verfassen erster allegorisch-didaktischer Dichtungen, 1294/95 schrieb er seine erste große Gedichtsammlung, die Vita Nova. Die 31 Gedichte mit eingeschobenen Prosaabschnitten bereiten vieles, das später die Commedia prägen wird, bereits vor, vor allem taucht schon hier die alles erstrahlende Figur der Beatrice auf. Angeblich, so die Legende, war Dante seiner Beatrice mit neun Jahren begegnet und ihr seitdem hoffnungslos verfallen. Als eine Art Legende behandelte er diese Begegnung auch in Vita nova: Im Stile der Heiligenlegenden schreibt er die Liebesgeschichte nieder, die seine eigene ist, und führt sich damit als Subjekt in die Literatur ein: „Die Form der Legende gewinnt jedoch bei Dante eine grundlegend neue Orientierung“, schreibt Karlheinz Stierle.

Der Weg zum literarischen Subjekt wird noch weitergehen, doch zunächst wird Dante gesellschaftlich und politisch aktiv, denn auch das ist bei ihm wichtig: Literatur und Gesellschaft, Literatur und Leben sind nie zu trennen, auch wenn seine Commedia eine persönliche Heilserfahrung darstellt, ist es eine zutiefst politische Dichtung. Seine politische Haltung bringt Dante im zum Ende des 13. Jahrhunderts schwelenden Konflikt zwischen Kaiser und Papst zum Ausdruck, der in Florenz im Streit zwischen papsttreuen Schwarzen und kaisertreuen Weißen ausbrach. Als Mitglied des Stadtrates war Dante seit Mitte der 1290er Jahre politisch aktiv, 1300 wurde er einer der neun Prioren der Stadt und hatte damit eines der wichtigsten Ämter in Florenz inne. Da der Papst vorhatte, die gesamte Toskana zu seinem Vikariat zu machen, schlug sich Dante auf die Seite der Weißen, zog mit einer Gesandtschaft sogar nach Rom, um an Friedensverhandlungen teilzunehmen, was ihm jedoch zum Verhängnis wurde: Er wurde festgehalten, während in Florenz die Schwarzen die Macht übernahmen. Die Anführer der Weißen wurden verurteilt, Dante zu einer hohen Geldbuße, dem Verbot der Ausübung eines politischen Amtes und zum Exil verdammt. Er wird seine Heimatstadt bis zu seinem Tod 1321 nicht wiedersehen – womit die Exilerfahrung zur zentralen Erfahrung seines Lebens wird, wie Stierle deutlich macht. Das Exil wird zum movens für die Abfassung der Göttlichen Komödie. Ab 1304 entsteht das Inferno, ab 1308 das Purgatorio, ab 1316 das Paradiso. Vermutlich um 1320 ist seine Dichtung vollendet, kurz darauf, 1321, stirbt Dante in Ravenna.

Wenn Dante auch mit dem Exil eine Welt verloren hatte, zögerte er dennoch nicht, eine neue zu schaffen. Die Welt in der Commedia ist eine in sich geschlossene, streng geordnete; die Erde befindet sich im Mittelpunkt, sie ist rund und eine Hälfte ist von Meer bedeckt, in ihrem Zentrum ragt Jerusalem gen Himmel, der heiligen Stadt gegenüber, also auf der meerbedeckten Seite, liegt der Läuterungsberg. Von Jerusalem führt ein Weg hinab in die Hölle, bis zum tiefsten Höllenschlund, wo Luzifer herrscht, von wo aus man schließlich zum Vorberg des Läuterungsberges emporsteigen kann. Über dem Läuterungsberg schließlich sind neun Himmel aufgespannt, die ihrerseits umgrenzt werden vom Empyreum, dem Sitz der Gottheit.

Um 1300 nun, in der Mitte seines Lebens, so schreibt Dante, vom rechten Pfad abgekommen, in der Mitte eines dunklen Waldes, kommt der Dichter zu sich, verloren und einsam und ein Führer taucht auf, der ihm den rechten Weg weisen will. Es ist Vergil und mit ihm beginnt Dante seinen Abstieg in die Hölle, dem der Aufstieg in den Himmel folgen soll. 14233 elfsilbige Verse wird Dantes Reise dauern, 100 Gesänge (canti) umfassen, 34 in der Hölle, 33 im Fegefeuer, 33 im Paradies. Neun Höllenkreise muss der Exilant durchwandern, neun Kreise des Fegefeuers, wovon einer das verlassene irdische Paradies ist, und neun Himmel, bis er im Sitz der Gottheit ankommt, zwischen dem ersten und dem letzten Auftauchen des Wortes „amare“ (lieben) liegen genau 3993 Verse – nur ein kleiner Einblick in die feinsinnige, bis ins kleinste Detail logische Anordnung der fiktiven Welt, die Dante erschafft.

Auf den ersten Blick mag das poetische Pedanterie sein, wie Zahlenmystik, Spielerei erscheinen, und auch denjenigen, die all diese verästelten Strukturen erkennen, wie übertriebene Funktionalisierung der heiligen Zahlen vorkommen. Doch mit der präzisen Struktur erzielt Dante noch etwas anderes, er erzeugt einen Eindruck des Realismus: Indem jedes Maß, jede Entität in der fiktiven Welt genau fixiert und in Zahlen festgehalten wird, entsteht der Eindruck einer absolut messbaren, einer fast eins zu eins nachbaubaren Welt. Tatsächlich aber bilden die Zahlen genau das Gegenteil dessen, was wir als Realismus bezeichnen würden, sie strukturieren die fiktionale Wirklichkeit; die ‚realen‘, uns als irdisch bekannten Gesetze von Raum und Zeit haben keine Geltung. Die Struktur der Göttlichen Komödie hat ihre eigene Wahrheit, sie ist der realen Welt nicht nachgebildet, sondern tritt mit dem Anspruch auf, in sich und für sich wahr zu sein. Dante wertet damit die Konstruktion einer fiktiven Wirklichkeit radikal auf und stellt sie in ihrer Perfektion der irdischen Welt gegenüber. Keine Dichtung konfrontiert uns als Leser daher dringlicher mit der Frage nach Ordnung und Chaos, nach Sinn und Unsinn als die Commedia. Denn letztlich mündet all die von Dante mühsam erarbeitete Struktur im Empyreum, dem Sitz der Gottheit, wo alle Ordnung plötzlich hinfällig wird, all die Gesetze und Maßangaben nichts mehr zählen, die Messbarkeit an ihr Ende gelangt ist. Der göttliche Funke ist in rationalen Worten oder messbaren Größen nicht mehr erklär- oder beschreibbar. Hinter aller Ordnung waltet also gerade ein durch Ordnung und Struktur nicht fassbares Prinzip, was natürlich eine paradoxe Konstruktion ist. Damit führt die Dichtung gleichzeitig die absolute Ordnung und die Unmöglichkeit dieser Ordnung vor. „When you read Dante […]“, hat der amerikanische Komparatist Harold Bloom in seinem Western Canon 1994 geschrieben, „you experience the limits of art, and then you discover that the limits are broken.”

Dante bricht tatsächlich mit allem, was vor ihm war und integriert es gleichzeitig in einer großen, überirdischen Erzählung. Der Komparatist Horst Rüdiger hat die Bedeutung der Divina Commedia darin gesehen, dass sie wie kein Werk vor ihr oder nach ihr die gesamte Tradition des antiken Europa, die Einflüsse von außen und schließlich das spezifisch christliche Mittelalterbild verbinde und zu einer absolut harmonischen Einheit zusammenführe, woraus schließlich das moderne Literaturverständnis, aber auch das moderne Verständnis eines kulturellen europäischen Traditionszusammenhangs erwachse. Damit hat Rüdiger in vielerlei Hinsicht Recht, denn bei Dante stellen sich erstmals Fragen, die die gesamte Neuzeit durchziehen und bis heute wirken. Die Debatte um Determinismus und Willensfreiheit stellt einen zentralen Themenstrang der Dichtung dar und die Frage danach, was das menschliche Handeln bestimmt und ob es ein per se böses menschliches Handeln geben kann, obgleich wir doch alle durch den göttlichen Funken erleuchtet sind, ist eine der drängendsten, denen die Dichtung nachspürt. Im Purgatorio XVIII (V. 58ff.) schließlich wird deutlich, dass der Urtrieb des Menschen weder gut noch böse ist, jede Seele hat zwar den Stempel des Göttlichen eingedrückt bekommen, doch durch den freien Willen bleibt ihr überlassen, was sie daraus macht. Der Mensch allein ist so schließlich verantwortlich für sein Handeln, er kann sich auf nichts Vorgängiges zurückziehen, wenn er falsch handelt – die unerhörte Modernität dieser Position ist kaum zu übersehen. Sie bereitet den Auszug des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit vor, sie entzieht ihn der bequemen Position, sich einem von Gott vorbestimmten Schicksal ergeben zu können.

Der Mensch als Subjekt rückt in der Divina Commedia ins Zentrum – das zeigt sich schon daran, dass Dante sich selbst in seiner Dichtung zum Protagonisten macht. Er als Subjekt steht im Fokus und seine ganz eigene Reise zur Erleuchtung, seine persönliche Entwicklung. Bloom hat dazu festgestellt, dass die Commedia „the distinction between sacred and secular writing“ zerstören würde, weil sie das Leben eines Einzelnen plötzlich allegorisch ausdeutbar macht. Tatsächlich ist schon der unmittelbare Einstieg in die Dichtung eine Herausforderung:

Nel mezzo del cammin di nostra vita
mi ritrovai per una selva oscura,
ché la diritta via era smarrita.

[Auf halbem Wege unsers Erdenlebens
Musst ich in Waldesnacht verirrt mich schauen,
Weil ich den Pfad verlor des rechten Strebens.]
(Übers. Richard Zoozmann)

Die Verse lassen mehrere Lesarten zu, zunächst sind sie wörtlich zu verstehen als lyrischer Ausdruck eines Subjekts, das sich verirrt hat, dann aber allegorisch als Ausdruck einer verirrten Seele, genauso moralisch, als Handlungsanweisung und Klage über den Verlust einer klaren Leitlinie, schließlich anagogisch als Sinnbild für den verlorenen Menschen überhaupt. Dante lässt uns mit dieser Unentscheidbarkeit allein, weil sie seine eigene Unentscheidbarkeit ist. Damit steht die Commedia als erstes literarisches Werk überhaupt am Beginn der Neuzeit, weil sie für fiktionale Literatur reklamiert, gedeutet werden zu können und eine Relevanz zu besitzen, sei es im allegorischen, moralischen oder anagogischen Sinne. Literatur ist nicht mehr bloß profan, im Gegenteil, sie wird den heiligen Texten gleichgestellt, weil auch sie Exegese verlangt.

Dieser Anspruch wird schließlich auch dadurch vorgetragen, dass Dante seine Dichtung nicht in der Gelehrtensprache Latein, sondern in der Volkssprache, dem volgare verfasst. Damit schreibt der Dichter für ein Publikum, das es eigentlich noch gar nicht gibt, weil selbstverständlich ‚das Volk‘ zwar das Italienische sprechen, aber kaum lesen konnte. Darin steckt die Forderung, das volgare auch zu einer Schriftsprache werden zu lassen und die Sprache, die die Menschen sprechen auch in der Schrift zu ihrem Recht kommen zu lassen. Das ist ein Gedanke, der sich inhaltlich gespiegelt sieht durch die Verarbeitung einer fast enzyklopädischen Breite von Wissen: Dante verwebt in seinem Epos die historischen, politischen, gesellschaftlichen Umstände seiner Zeit, er nimmt Stellung zum Tagesgeschehen, er lässt populäre Gestalten wie Francesca da Rimini auftauchen, bekannte Gauner, Politiker und Kleriker – und gab somit dem Publikum die Möglichkeit, die unmittelbare Alltagswirklichkeit in der Dichtung wiederzufinden. Natürlich nimmt der Dichter auch selbst Stellung: Radikale Papstkritik wie im Purgatorio XVI oder allgemeiner Kritik an der kirchlichen Institution und ihrer Unterstützung durch das französische Königtum im Purgatorio XXXII sind nur als einzelne Beispiele für die zahlreichen Polemiken, die in der Commedia verborgen sind. Bloom hat Dantes radikale Politisierung sogar zu der Aussage verleitet, er sei „the most aggressive and polemical of the major western writers“. Das mag ein überzogenes Urteil sein, es trifft aber insofern zu, als es die ungeheure Welthaltigkeit der Dichtung anerkennt. Dante lässt keines der großen Themen seiner Zeit unkommentiert und er bemüht sich, die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht durch Figurentypen in seine Dichtung einfließen zu lassen, nicht durch schematische, bestimmte Tugenden repräsentierende Figuren, sondern durch Persönlichkeiten, historische Figuren, die ihren realen Vorbildern gemäß sprechen und handeln. Damit lässt sich die Commedia nicht nur auch als gesellschaftliche Dichtung lesen, sie ist es an ihrer Basis. Diese Literatur ist Gesellschaft. Die Göttliche Komödie ist in diesem Sinne nicht nur Welt-, sondern auch und vor allem Volksliteratur gewesen.

Natürlich bleibt sie dabei nicht stehen. Sie ist genauso Liebesdichtung, wie keine Literatur vor ihr. Dante wird Beatrice im Empyreum wiederfinden, sie steht genauso wie die Erfahrung des Göttlichen im Zentrum des Gedichts. Sie ist spirituelle Dichtung, weil sie den Weg des Individuums zur Erleuchtung und zurück auf den ‚rechten Pfad‘ sucht, sie ist philosophisch, weil sie zentrale Fragen des Menschseins behandelt, theologische Dichtung, weil sie zu allen theologischen Debatten ihrer Zeit Stellung nimmt, sie ist enzyklopädische Dichtung, weil sie das Wissen von Jahrhunderten verarbeitet, sie ist lyrische Dichtung, weil jeder Vers, jedes Wort seine rhythmische und klangliche Funktion erfüllt, sie ist zutiefst intertextuelle Dichtung, weil sie von Querverweisen und Zitaten durchzogen ist wie kaum ein anderes Werk, und sie ist mit all diesen Facetten schließlich der Inbegriff eines literarischen Kunstwerkes. Als Leser steht man staunend vor diesem Monument und begreift, ohne alles auch nur ansatzweise verstehen zu können, plötzlich das Unbegreifbare dieser Dichtung, den Kunstcharakter und damit die Besonderheit des Epos.

Im Dante-Jahr wird man damit gut daran tun, viel über Dante zu lesen, am besten aber ist es, Dante selbst zu lesen. Denn näher kommt man einem Kunstwerk weltliterarischen Ranges und der Weltliteratur in einem emphatischen Sinne nicht.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Dante Alighieri: Commedia. 2 Bände: I. Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch. II. Einladung, Dante zu lesen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
672 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783100153395

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Dante Alighieri: La Commedia / Die göttliche Komödie.
Übersetzt aus dem Italienischen und kommentiert von Hartmut Köhler.
Reclam Verlag, Stuttgart 2012.
2082 Seiten, 89,00 EUR.
ISBN-13: 9783150300459

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Karlheinz Stierle: Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
235 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406668166

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