Das verlorene Paradies

Mit „Eine heitere Wehmut“ unternimmt Amélie Nothomb eine Reise in die Vergangenheit

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2012 tritt ein französisches Filmteam mit der Idee an die Schriftstellerin Amélie Nothomb heran, eine Dokumentation über ihre Kindheit als Tochter eines belgischen Diplomaten in Japan zu drehen. Mit typischem Bescheidenheitsgestus gibt die Autorin an, diesem Projekt nur deshalb ihre Zustimmung gegeben zu haben, weil sie die Idee als so absurd empfunden habe, dass France 5 sie sicherlich ablehnen würde. Als der Sender das Konzept jedoch tatsächlich umsetzen will, reagiert sie mit Bestürzung: Sechzehn Jahre lang ist sie nicht mehr in Japan gewesen, das sie als eigentliche Heimat empfindet, sechzehn Jahre lang hat sie sich der Insel nur literarisch genähert, mit Romanen wie Stupeur et tremblements (deutsch: Mit Staunen und Zittern, 2000), Métaphysique des tubes (deutsch: Metaphysik der Röhren, 2002) und Ni d’Ève, ni d’Adam (deutsch: Der japanische Verlobte, 2010). Und nun soll sie erneut einen Fuß in ihren persönlichen „Garten Eden“ setzen, ihrer leidenschaftlichen Liebesgeschichte mit dem Land der aufgehenden Sonne ein weiteres Kapitel hinzufügen dürfen!

Mit dem Kamerateam reist Nothomb zunächst nach Shukugawa, wo sie die ersten Lebensjahre verbrachte. Doch die Autorin findet das Dorf ihrer Kindheit nicht wieder, das durch das Große Beben von Kobe 1995 fast komplett zerstört und später wiederaufgebaut wurde: Ihr Elternhaus ist einer Reihe von Villen gewichen, die bekannten Nachbarn sind weggezogen, das Bonbongeschäft wurde von einer Reinigung abgelöst. Lediglich die Abflussrinnen sind immer noch die gleichen, an denen die Schriftstellerin als Kind spielte – letzte Spuren eines langverlorenen Paradieses. Durch dieses Zeichen des Fortbestands im allgegenwärtigen Wandel tief bewegt, verharrt Nothomb am Rand des Kanals, mitten unter ihren unverständigen Begleitern.

Immer wieder kreist der Text um die Frage, wann und wie sich Vergangenheit in Erinnerung verwandelt und wie hoch deren Realitätsgehalt nach Jahren des Erzählens und Wieder-Erzählens noch sein kann: Beispielsweise als die Autorin ihr früheres Kindermädchen besucht, das, fast achtzig Jahre alt, allein in einer Sozialwohnung lebt und von dem sie endlich tränenreich den Abschied nehmen kann, der ihr verwehrt war, als sie sich das erste Mal, mit fünf Jahren, von ihr trennen musste. Oder als sie Rinri Nakano trifft, den ehemaligen japanischen Verlobten, mit dem sie durch Tokio spaziert, Reminiszenzen austauschend. „Erinnern Sie sich“, „erinnerst du dich“, fragt die Erzählerin immer wieder, erkennt jedoch auch, dass das Gegenüber sich möglicherweise eine andere Version der Vergangenheit rekonstruiert hat, die nicht unbedingt mit der eigenen übereinstimmen muss.

„Alles, was man liebt, wird zu einer Geschichte“, bemerkt Nothomb gleich zu Beginn des Textes, der auf dem Cover vielleicht nicht umsonst als fiktionaler ‘Roman’ gekennzeichnet wird. Ihrem literarischen Programm nach nähert sich erst das kunstvoll-kunstlos Verfremdete asymptotisch der Wirklichkeit an:

Zu keinem Zeitpunkt habe ich beschlossen, etwas zu erfinden. Das ist von selbst passiert. Es ging nie darum, Falsches ins Wahre einzufügen oder das Wahre mit dem Anschein des Falschen zu bekleiden. Was man erlebt hat, klingt in der Brust nach – und diese Musik will man beim Erzählen heraufbeschwören. Es geht darum, sie mit den Mitteln der Sprache aufzuzeichnen. Das erfordert Schnitte und Annäherungen. Man streicht weg, um zu dem Gemütszustand vorzudringen, dem man verfallen ist.

Eine heitere Wehmut erzählt dementsprechend die Geschichte der Wieder-Entdeckungsreise der Schriftstellerin in Japan nach, lässt aber vor allem in kurzen Kapiteln eine Stimmungsbild entstehen: Nothomb erlebt Natsukashii, wie es im Japanischen heißt – ein mit Schmerz gemischtes Glück über das Wiedererkennen, die titelgebende heitere Wehmut, die jeder Leser, der schon einmal einen lange entbehrten Bekannten wiedergetroffen hat oder zu einem altvertrauten Ort zurückgekehrt ist, nachvollziehen können wird. Eine Seelenlage, die Nothomb, wie man es von ihr gewohnt ist, mit wenigen gekonnt gesetzten Worten wachzurufen weiß.

Dennoch ist der Text nicht gänzlich gelungen. Zum einen liegt das daran, dass die Erzählerin sich ein wenig zu offensichtlich und noch nachhaltiger als üblich bemüht, sich als exzentrische, mit allerlei außerordentlichen Eigenarten behaftete Autorin zu inszenieren – nicht jedoch, ohne gleichzeitig immer wieder mantraartig ihre Minderwertigkeit zu betonen. Beides mutet, vor allem im Kontrast zu den authentischer erscheinenden Episoden, aufgesetzt und im schlechteren Sinne gekünstelt an. Zum anderen wirkt der Text an manchen Stellen auch spröde, eine nicht vollständig durchgearbeitete Materialsammlung für Zukünftiges, als habe die Autorin von ihrer Reise tatsächlich tagebuchartig Zeugnis abgelegt. Eine Mischung, die in anderem Verhältnis reizvoll erscheinen könnte, hier jedoch – leider – einen eher unfertigen Eindruck macht.

Titelbild

Amelie Nothomb: Eine heitere Wehmut. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Große.
Diogenes Verlag, Zürich 2015.
123 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783257069266

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