Alte mæren postmodern?

Heinrich Steinfest erzählt das „Nibelungenlied“

Von Christoph SchanzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schanze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich Steinfest, der Verfasser von wunderbar abgedrehten Romanen (meist mit Krimi-Einschlag), die sich durch phantasievoll-absurde Wendungen und nicht zuletzt durch eine geschliffene und packende sprachlich-stilistische Gestaltung auszeichnen, hat für den Reclam-Verlag das Nibelungenlied nacherzählt, der Deutschen liebste Mittelalter-Story. Als ,Nationalepos’ (laut Johann Jakob Bodmer die „teutsche Illias“) hat das mittelhochdeutsche Heldenepos seit dem 19. Jahrhundert zahllose Aktualisierungen in verschiedensten medialen Formen erfahren, von Wagners Ring über verschiedene erzählende Nachdichtungen, Bühnenfassungen, Filme und Comics bis hin zu Eberhard Kummers Aufführungen des gesamten Nibelungenlieds an sechs Abenden. Mangelnde Präsenz des Stoffes im kulturellen Gedächtnis ist also wahrlich nicht zu beklagen.

Was Steinfest zu seiner Nacherzählung veranlasst hat, erfährt man in dem schön gemachten und hochwertig ausgestatteten Hardcover-Band nicht: Es gibt kein erläuterndes Vor- oder Nachwort, der (Nach-)Erzähler stürzt sich unmittelbar ins Geschehen – oder vielmehr zunächst auf die Hauptfiguren, denn am Anfang stehen der Versuch einer Annäherung an den ,Helden’ und die ,Heldin’ sowie eine Frage: „Wie schön kann einer allein überhaupt sein? Wie stark? Wie mutig?“. Die Hauptfiguren Siegfried und Kriemhild sind für Steinfest Über-Figuren: Es „gibt nun einmal Figuren und Menschen, die ganz allein mittels Übertreibung erklärt werden können“.

Nach und nach wird dann erkennbar, welchen Plan Steinfest verfolgt. Es geht ihm um eine distanziert-analytische, oft eher beschreibende als erzählende Annäherung an die Geschichte und ihre Charaktere. Steinfest will die Figuren und ihr Handeln verstehend nachvollziehen und seine Leser an diesem Prozess teilhaben lassen. Solch ein Erklärungsversuch ist aus Steinfests Sicht durchaus nötig: „Die Geschichte, die hier nacherzählt werden soll, handelt von ständigen Grenzüberschreitungen jedweder Natur, sowie von einem Wahnsinn, welcher, wie man so sagt, System hat“ – und dieses System ist aus unserer heutigen Sicht nicht immer nachvollziehbar. Schon Steinfests Titelwahl macht deutlich, worauf das Ganze hinausläuft und was ihn an der Story interessiert: Der Nibelungen Untergang. Er will aber nicht nur die Geschichte nacherzählen und dabei den Figuren eine psychologische Tiefe verleihen, die sie in der Vorlage, dem mittelalterlichen Erzählen gemäß, nicht haben. Er will sie aktualisieren und für ein heutiges Publikum nicht nur besser verstehbar, sondern auch leichter ,verdaubar’ machen, um so einen zeitgemäßen Zugang zu der ,alten Geschichte’ zu eröffnen – auch das ein nachvollziehbares Anliegen, denn das vermeintliche deutsche Nationalepos kennen tatsächlich wohl nur die wenigsten in dem Sinne, dass sie eine der ,originalen’ mittelalterlichen Fassungen des Stoffes gelesen hätten. Die Kenntnis der Story dürfte vielmehr in der Regel auf Zusammenfassungen, Nacherzählungen (wie eben der von Steinfest) oder einem allgemeinen kulturellen Wissen auf Basis der zahlreichen modernen Rezeptionszeugnisse beruhen.

Steinfest erzählt die alten mæren also neu, und er tut das auf eine anfangs durchaus erfrischende Weise: in einer lebendigen, teils etwas schnodderigen Alltagssprache, die auch Vulgäres nicht scheut, mit Distanz und Ironie und ohne seine gelegentliche Verwunderung angesichts des Verhaltens der Figuren zu verhehlen. Das ist streckenweise unterhaltsam und durch das hohe Erzähltempo auch spannend, allerdings geht die extreme Verknappung – Steinfest fasst die etwa 2400 Strophen des mittelhochdeutschen Nibelungenliedes auf 112 nicht gerade eng bedruckten Seiten zusammen, die zudem nur gut zur Hälfte mit Text gefüllt sind (den Rest nehmen Illustrationen ein, dazu unten) – mit einer deutlichen Reduzierung der Komplexität der ursprünglichen Geschichte einher. Dieser Reduzierung kann man triviale Züge nicht absprechen, überdies geht durch sie der Reiz verloren, den das mittelalterliche Nibelungenlied aufgrund seiner Alterität hat (in gewisser Weise gilt dieser ‚Reiz der Alterität’ auch für Fritz Langs eindrucksvolle Verfilmung von 1924 – oder, um das andere Ende des qualitativen Spektrums zu nennen, für den unsäglich trashigen Siegfried-Film von Sven Unterwaldt aus dem Jahr 2005 mit Tom Gerhardt als Siegfried).

Dass Steinfest sich auch einiges zurechtbiegt, könnte man mit dem Verweis auf die künstlerische Freiheit entschuldigen, es trägt aber ebenfalls dazu bei, dass seine Nacherzählung dem Vorbild insgesamt nicht gerecht wird. Als ein Beispiel von vielen sei die ,Verzwergung’ genannt, die Siegfried widerfährt, wenn der Erzähler bei der Ankunft bei Brünhild auf Island über Siegfried bemerkt: „Wenn mich mein eigenes Auge nicht täuscht, dann gehört er zu jenen, deren Fähigkeit darin besteht, klein zu sein, jedoch groß zu wirken, vergleichbar einem Typ unserer Tage: Tom Cruise“. Siegfried als kleiner Mann mit Napoleon-Komplex? Mit dem mittelalterlichen Siegfried-Bild ist diese Beschreibung kaum in Einklang zu bringen. Man bekommt den Eindruck, als wolle Steinfest nicht das Nibelungenlied wiedergeben, sondern davon erzählen, wie das, wovon die mittelalterlichen Texte aus dem entsprechenden Stoffkreis berichten, ,wirklich’ gewesen ist – oder wie es hätte sein können. Deutlich wird das zum Beispiel, wenn Steinfest den Streit von Kriemhild und Brünhild unter Rückgriff auf ein als solches nur schwach markiertes Nibelungenlied-Zitat kommentiert, es aber als seiner Erzählung nachgelagert einstuft und diese damit in einer ,mythischen’ Vorzeit verortet: „Später wird es in einem Lied heißen: ,Vom Streit zweier Fürstinnen mussten viele Helden sterben.’ Das war, wie immer, die halbe Wahrheit“.

Trivial und nach kurzer Zeit enervierend sind zudem die Aktualisierungen, die Steinfest fast pausenlos vornimmt. Das betrifft zunächst die Sprache. Wirkt die jovial-lässige Alltagssprache anfangs noch frisch, so hat man sich an dem Sound sehr bald sattgehört. Störend sind vor allem die ubiquitären, stilistisch mehr als fragwürdigen Ellipsen, deren Häufung angesichts der geschliffenen Sprache, die den Romanautor Steinfest ansonsten auszeichnet, doch ziemlich verwundert. Der Versuch, die ,alte Geschichte’ auf diese Weise zu entstauben, darf wohl als gescheitert bezeichnet werden. Im Verlauf der Erzählung zunehmend irritierend sind auch die vielen Vergleiche, mit denen Steinfest einen durchgehenden Bezug zur Gegenwart (und oft zu deren ,Populärkultur’) herstellt. Formulierungen wie „man könnte/würde heute von … sprechen“ oder „das ist auch heute noch so“ begegnen beinahe auf jeder Seite. Die Vergleiche sind mitunter befremdlich. So heißt es von der symbiotischen Verbindung zwischen Siegfried und seinem Schwert: „Heute würde man von einer Kreuzung aus Mensch und Maschine sprechen, von einem Cyborg, oder einfach einem Handybenutzer“; die Tarnkappe, eigentlich wohl als weiter Umhang zu denken, wird zu einem „schwarzen, mit einer Kopfmaske versehenen Gummikleid – das schon sehr an einen der heutigen Fetischanzüge erinnert, technisch gesehen aber große Ähnlichkeit mit den Gummimatten besitzt, mit denen die deutsche Wehrmacht ihr Tarnkappen-U-Boot U 480 ausstatten ließ“ – Siegfried riecht deshalb „nach Kautschuk“; Brünhild ist eine „Karrierefrau“, „deren Charme ein mirakulöser ist. Gleich Eau de Cologne aus Stahlfässern“; zur Wünschelrute, die „gerüchteweise“ Teil des Nibelungenhortes ist und die „ihren Nutzer in die Lage versetzen soll, absolut jeden Menschen auf dieser Welt zu manipulieren“, merkt Steinfest an: „man würde heute nicht von einer Rute, sondern von einer Medienkonzentration sprechen“. Der Höhepunkt dieser ,Masche’ ist bei der Beschreibung des Ortes erreicht, an dem Siegfried stirbt. Siegfried findet nämlich an der Quelle eine Wassereisverpackung, „die vielleicht ein Zeitreisender hier achtlos wegwarf. Oder auch ganz bewusst an dieser ,historischen Stelle’ deponierte“ – denn die Stelle des Siegfriedbrunnens, „jetzt noch die pure Idylle“, wird später „ein kümmerliches Rasenstück sein, ein paar Bäume samt trockengelegtem Brunnen, Bank und Mülleimer, umrahmt von Hochhäusern, einem Einkaufszentrum und dem Fabrikgelände der Langnese-Iglo-GmbH“. In Steinfelds ,phantastischen’ Romanen freut man sich über skurrile Einfälle wie diesen, aber hier wirkt das schlicht fehl am Platz, und man weiß nicht so recht, was man damit anfangen soll.

Ein wichtiges Element des Buches sind die Zeichnungen von Robert de Rijn, die das untere Drittel jeder Doppelseite einnehmen und in rasch ausgeführten, groben und expressiven Strichen einzelne Figuren, Szenen und Momentaufnahmen skizzieren. Ausweislich des Buchtitels sollen sie ein ,Storyboard’ bilden. Diesem Anspruch werden sie allerdings nicht gerecht; sie imitieren zwar den Stil, haben aber keinerlei erzählerische Funktion und wollen auch nicht recht zum ,Ton’ von Steinfests Text passen. Ein ,Film’, wie ihn der reißerische Werbetext des Verlags ankündigt, wird so jedenfalls noch lange nicht aus dem Buch („Die Nibelungen sind ein Breitwand-Stoff, mit allem, was dazugehört: starke Helden, schöne Frauen, scharfe Schwerter, schweres Gold. Deshalb erzählen Heinrich Steinfest und Robert de Rijn die alte Geschichte auch ganz modern als Film, in einem rasanten Storyboard“). Auch wenn die Illustrationen anfangs interessant sind, verhält es sich mit ihnen ähnlich wie mit dem Sound von Steinfests Text: Sie verlieren schnell ihren Reiz, und man unterlässt nach den ersten Seiten mit den immer gleichen groben Skizzen gerne den Blick auf den unteren Teil der Seite, weil die Zeichnungen über ihre rein illustrative Funktion hinaus keinen erkennbaren Mehrwert haben. Das ist insofern etwas überraschend, denn die Genese von Text und Bild dürfte viel enger zusammenhängen, als es scheint: Robert de Rijn, der Illustrator ,vom Rhein’, ausweislich der Kurzbiographie am Ende des Bandes „am Rand des einschlägig sagenhaften Odenwalds geboren“, nach einem „vorgetäuschten BWL-Studium“ vom „Drachen der FH Mainz im Fach Kommunikationsdesign“ diplomiert, in der Werbung tätig und „im langen Schatten der Wormser Domtürme“ lebend, ist ein Phantom. Die Vermutung, dass sich hinter diesem Pseudonym Heinrich Steinfest selbst verbirgt, der ja bekanntlich nicht nur Schriftsteller, sondern auch Maler ist, ist wohl nicht allzu weit hergeholt.

Der Nibelungen Untergang ist insgesamt ein schönes Buch, das man gerne in die Hand nimmt, an dem man sich aber auch rasch sattgelesen und noch schneller sattgesehen hat. Wer sich über Steinfests Buch den Stoff des Nibelungenlieds aneignen will, muss und wird enttäuscht sein. Wenn Steinfests persönlich gefärbte Annäherung an dieses große Epos aber dazu anregt, sich mit dem ,Original’ oder zumindest mit einer der vielen gelungenen modernen Adaptationen zu befassen – etwa der Dramatisierung von Moritz Rinke für die Nibelungenfestspiele (2002/2003, erweiterte Neufassung 2006-2008) –, dann wäre schon einiges gewonnen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Heinrich Steinfest: Der Nibelungen Untergang. Mit einem Storyboard von Robert de Rijn.
Illustriert von Robert de Rijn.
Reclam Verlag, Stuttgart 2014.
116 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783150109496

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