Ein prall gefüllter Geschichtenkorb

Elif Shafak schöpft in ihrem Roman „Der Bastard von Istanbul“ aus dem Vollen

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits auf der ersten Seite sind wir in Elif Shafaks neuem Roman „Der Bastard von Istanbul“ in medias res. Eine junge Frau, Zeliha, geht durch die Straßen von Istanbul. Es regnet. Es ist Anfang Juli, ein Freitag. Zeliha flucht, obwohl sie weiß, wie alle anderen auch, dass nichts verflucht werden soll, was von oben kommt, also auch nicht der Regen. Doch Zeliha setzt sich über manches hinweg, auch über dieses Gebot. Sie hat ein Problem, und das treibt sie um an diesem Freitag. Sie ist auf dem Weg zum Gynäkologen. Sie ist schwanger, sie will das Kind nicht – weshalb, das wird man gegen Schluss des Romans erst erahnen, später dann mit Sicherheit wissen. Doch bis dahin durchqueren wir einen bunten Strauß an Geschichten, die hier in voller Pracht (und Grausamkeit) vor uns ausgebreitet liegen.

Zeliha lebt mit ihren Schwestern Banu, Feride und Cevriye, der alten Mutter Gülsüm und der dementen Großmutter Petite-Ma zusammen in einem männerlosen Haushalt. Das zeichnet die Familie Kazancı aus: Die Männer sterben alle in jungen Jahren, älter als einundvierzig ist keiner geworden. Es wundert sich niemand darüber, vielmehr hebt ‚frau‘ die Vorteile eines männerlosen Haushalts hervor. Cevriyes Ehemann war zwei Jahre im Gefängnis und dort bei einer Schlägerei ums Leben gekommen. So kehrte sie zurück ins Haus der Familie Kazancı. Banus Ehemann Sabahattin lebt alleine und zurückgezogen, nachdem sie ihm den Frauenhaushalt vorgezogen hat (dass er nicht mit ihr gegangen ist, dürfte ihm das Leben retten). Und der einzige Sohn Mustafa wurde ins Ausland geschickt, nicht zuletzt, um ihn vor dem Schicksal der Kazancı-Männer zu schützen.

Die Kazancı-Frauen sind die eigentlichen Hauptfiguren in diesem Roman, und selbstverständlich gehört bald auch Zelihas kleine Tochter dazu, die sie eigentlich an diesem Freitagmorgen hätte abtreiben wollen, doch es ging nicht. Asya hat nicht nur einen schwierigen Einstieg in dieses Leben, sie behält die ihr aufgetragene Rolle auch bei, immerhin ist sie die Tochter von Zeliha, die ihrerseits aufmüpfig bleibt, einen Freund hat, mit dem sie weder zusammenlebt noch ihn heiraten würde. Und die sich von ihrer eigenen Tochter mit Tante anreden lässt (auch das ist wieder eine andere Geschichte).

Kehren wir nochmals zurück zu Mustafa, denn selbstverständlich ist es nicht einmal bei den Kazancı-Frauen so, dass Männer überhaupt keine Rolle spielen würden. Mustafa lebt in den USA, und da will es der Zufall, dass er gleichzeitig im Supermarkt einkauft wie Rose. Rose – dies nur schnell als Zwischenruf – war verheiratet mit Barsam Tchakhmakhchian, sie haben zusammen eine Tochter, doch die Ehe ging schief. Die Amerikanerin Rose und der aus einer armenischen (also wiederum geschichts- und geschichtenträchtigen) Familie stammende Barsam – das passte einfach nicht mehr zusammen. Armanoush wurde das Töchterchen genannt, nach der Mutter ihrer Großmutter, dieser für die Familie so wichtigen Frau, für Rose ein unaussprechlicher Name, bis sie die Idee hat, ihr Baby schlicht Amy zu nennen. Übrigens kommt ihr dieser Geistesblitz auf der Heimfahrt im Auto, unmittelbar nachdem sie Mustafa zum ersten Mal vor den Regalen mit türkischen Lebensmitteln im Supermarkt angetroffen hat. Um es kurz zu fassen: Zwischen Mustafa und Rose funkt es rasch, sie werden ein Paar, eine Familie, glücklich, daran vermögen auch die Herkunft Mustafas (türkische Familie) und die erste Ehe von Rose mit Barsam (armenische Familie) nichts zu ändern. Vorerst.

Wie Elif Shafak diesen Reigen an Geschichten vor der Leserin ausbreitet, ist eine wahre Freude. Nur zu gern lässt man sich einwickeln in das Leben der zwei Familien – da die Kazancı, dort die Tchakhmakhchian. Man verirrt sich in Streitigkeiten, zum einen im Kleinen, Privaten, gleichzeitig aber auch im Politischen. Und man freut sich, dass die beiden starken jungen Frauen Asya und Amy sich trotz allem näherkommen, und zwar in einer Freundschaft, die vom Heute bestimmt ist, ohne die Vergangenheit zu verleugnen. Auch nicht zu verklären. Und so wird Elif Shafaks „Der Bastard von Istanbul“ zu einem Lesevergnügen der ganz besonderen Art.

Postskriptum: Der Roman ist erstmals 2007 auf Deutsch bei Eichborn erschienen, in der vorliegenden Taschenbuchauflage sucht man vergebens nach einem entsprechenden Hinweis.

Titelbild

Elif Shafak: Der Bastard von Istanbul. Roman.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2015.
464 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783036959245

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