Die Koordinaten des „politischen Feldes“

Pierre Bourdieus konstante Weigerung, Politik allein den Profis zu überlassen

Von Markus Oliver SpitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Oliver Spitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die von Franz Schultheis und Stephan Egger mit dem Titel „Politik. Schriften zur Politischen Ökonomie 2“ besorgte Textausgabe wendet sich an Kenner der Materie. Egger zeichnet in seinem abschließenden Beitrag, den sich der interessierte Leser vielleicht zuerst vornehmen sollte, die Entwicklungslinien von Pierre Bourdieus Schriften zur politischen Soziologie nach, indem er auf die komplexen Themenbereiche der Sprachkritik, der Struktur des politischen Feldes, der Analogie zum Feld der Religion und der Kritik des Neoliberalismus verweist.

Das vorgestellte Textspektrum reicht von 1961 bis 2001. In „Politische Fragen“ (zuerst 1977) und „Die öffentliche Meinung gibt es nicht“ (1973) sehen die Herausgeber zu Recht Beiträge von besonderer Bedeutung, gehen diese doch in La Distinction ein beziehungsweise bilden den Ausgangspunkt für Bourdieus politische Soziologie. Viel Grundlegendes findet sich auch in „Delegation und politischer Fetischismus“ aus dem Jahr 1984. Im Endeffekt handelt es sich um eine umsichtige Auswahl, dies auch deshalb, weil sich durch den Verweis auf den Registerband eine Entlastung von spezifisch französischen Gegebenheiten ergibt.

Selbst wenn man konzediert, dass einige der empirischen Befunde Bourdieus heute eher einen Wert als Zeitzeugnis aufweisen, so überraschen doch der Grad der Kontinuität und die Aktualität der Aspekte, um welche seine Soziologie zeitlebens kreiste. Als diskontinuierlich erweist sich einzig die Deutung der Funktion des Staates: Bourdieu wendet sie vom Negativen (hauptsächliches Instrument der Perpetuierung sozialer Ungleichheit vermittels des Bildungssystems) ins Positive (neben den Gewerkschaften wichtigste Bastion gegen die Prekarisierung der Lebensumstände, wie sie durch den Neoliberalismus hervorgerufen wird).

Durchgängig kritisch sieht Bourdieu dagegen die Rolle der Intellektuellen, insofern sie sich zu politischen Prozessen äußern, ohne über die im Feld nötige Kompetenz zu verfügen. Bourdieu war sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass beispielsweise seine eigenen Interventions als unangemessene Überschreitung der distinktiven Grenze zwischen dem wissenschaftlichen und dem politischen Feld gedeutet werden würden. Eine (wert-)neutrale Wissenschaft, wie noch von Max Weber postuliert, sah er allerdings als illusorisch an.

Bourdieu schließt auch an Weber an, wenn er postuliert, Politikern komme, ähnlich wie Priestern, das Privileg zu, auch und gerade in Krisensituationen für andere und in deren Namen zu sprechen. In diesem Zusammenhang misst er dem linguistischen Habitus als Teil des „kulturellen Kapitals“ besondere Bedeutung bei. Sprache als performativer Akt konstituiert wie befestigt die Kathederposition des (führenden) Politikers. Sie ist gleichermaßen dasjenige Medium, mit dessen Hilfe symbolische Kämpfe um Definitionsmacht ausgetragen werden und somit Bestandteil des politischen Kapitals – derjenigen Fähigkeiten, über die PolitikerInnen verfügen müssen, wollen sie sich im Feld (und darüber hinaus) Gehör verschaffen. Dabei müssen sich allerdings selbst die politischen Vertreter der dominierten Klassen des herrschenden Diskurses bedienen, wodurch eine Diskrepanz zwischen den in Wahlprogrammen und -reden vorformulierten Aussagen und der Rezeption durch die Zielgruppe entstehen kann.

Das politische Feld per se beruht auf der Trennung zwischen Politprofi und Laie, es hat im geschichtlichen Verlauf seine eigene, spezifische Logik entwickelt. Aufgrund der stetig zunehmenden Professionalisierung wird eine atypische Politkarriere à la Joschka Fischer zunehmend verunmöglicht. Von besonderer Wichtigkeit ist die Rolle des Apparates, der den sicheren Kandidaten, welcher der Partei seine gesamte Existenz verdankt, weiht. Im Gegenzug ist Diskretion gegenüber der peer group erste Politikerpflicht, denn sie schützt die Gruppe davor, dass Insiderinformationen, aber auch allfälliger Zynismus nach außen dringen.

Das, was im politischen Spiel im Mittelpunkt steht, ist der Kampf um die Macht, bei dem jeder Mitspieler über Chips in Form symbolischen, kulturellen und sozialen Kapitals (Netzwerke, Freundschaften und Beziehungen, Mitgliedschaften in Aufsichtsräten und dergleichen) sowie – in den USA mehr noch als in Europa – über ein gewisses ökonomisches Kapital verfügt, um seine eigenen Interessen (zum Großteil deckungsgleich mit den Interessen der Partei, welcher er oder sie sich verschrieben hat) durchzusetzen. Spezifisch politisches Kapital tritt insofern ergänzend hinzu, als dass Politiker ihre in zahlreichen Auseinandersetzungen im politischen Feld gewonnenen Erfahrungen nutzbringend einsetzen können. Dass eine derartige Unterform von Kapital jedoch aufgrund der Stellung der jeweiligen Politikerin wie auch ihrer Partei verletzlich ist, erklärt die zahlreichen Euphemismen und nichtbindenden Formulierungen, die für den politischen Diskurs charakteristisch sind.

Das politische Feld existiert zwar autonom, aber keineswegs völlig unabhängig von anderen Feldern, beispielsweise dem (polit-)journalistischen, welches die illusio, den für das Feld grundlegenden Glauben, vertritt, Politik(er) kritisch zu beobachten sowie die öffentliche Meinung zu konstituieren – von welcher Bourdieu wiederum behauptet, sie könne unter anderem aufgrund der lediglich vermeintlichen Objektivität der Fragestellung stets nur in verzerrter Form wiedergegeben werden. Insbesondere ist allerdings das ökonomische Feld bedeutsam, dessen Zielsetzung in diesem Kontext darin besteht, den Grad politischer Einflussnahme auf ökonomische Prozesse zu reduzieren, der Politik also lediglich die Etablierung von Rahmenbedingungen zuzugestehen, das Ausmaß aktiven Eingreifens jedoch möglichst gering zu halten.

In ihrer Summe sind politische Auffassungen und parteiliche Affinitäten laut Bourdieu durch die Kapitalstruktur und den jeweiligen Habitus bedingt. Aus historischer Perspektive gilt für das Wahlvolk: Je größer die Unmündigkeit des Einzelnen, desto umfassender die Bereitschaft, Verantwortung an Delegierte abzugeben (Kommunismus Stalinʼscher Prägung, Nationalsozialismus). Bourdieu allerdings zielt primär auf die Gefahr der generellen politischen Enteignung des Individuums ab: Gerade aufgrund ihrer geringen Kapitalausstattung marginalisierte Bevölkerungsgruppen (Bourdieu spricht, wie gesagt, von „Klassen“, jedoch nicht im marxistischen Sinn) tendieren dazu, sich freiwillig von jeglicher politischen Teilhabe auszuschließen und geben als Grund hierfür fehlende Kompetenz an. Ihr Apolitismus stellt einen (mehr oder weniger bewusst) ausgedrückten Protest gegen das Monopol der Politprofis dar, das sie durch ihre Entscheidung zum exit im Sinne Albert Hirschmans paradoxerweise zu befestigen helfen.

Gegenüber derartigen Ausschluss- und Enteignungstendenzen sieht Bourdieu den Zusammenschluss kritischer Intellektueller, Gewerkschaftler und – es muss gesagt sein – Linksparteien auf europäischer Ebene als konstruktiven Gegenentwurf an. Von daher sollte der Band fester Lektürebestandteil derjenigen sein, die daran glauben, dass es sich lohne, die Europäisierung der Bildungs-, Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik voranzubringen.

Diese Anmerkungen verdeutlichen bereits, dass man es hier mit einer engagierten Soziologie zu tun hat. Dies soll keineswegs ein Schimpfwort sein, denn Bourdieus Ansatz ist dadurch charakterisiert, dass er gerade vermeintlich evidente faits sociaux, zuvorderst die allgemeine, freie und gleiche Partizipation an beziehungsweise Enthaltung von politischen Entscheidungsfindungsprozessen, konsequent hinterfragt.

Titelbild

Pierre Bourdieu: Politik. Schriften zur Politischen Ökonomie 2.
Herausgegeben von Franz Schultheis und Stephan Egger.
Übersetzt aus dem Französischen von Roswitha Schmid, Hella Beister, Eva Kessler, Achim Russer, Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
375 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296561

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