Der Mond in unseren Köpfen

Gastdozentin Marion Poschmann reflektiert über die Kategorien ‚Raum’, ‚Zeit’ und ‚Ich’

Von Uta MathesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uta Mathes und Julian GraffeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Graffe

„Ich spreche Mond. Da schwebt er.“ Das Wort ‚Mond’ weckt allerlei Assoziationen, und der damit denotierte Sachverhalt lässt sich im Bewusstsein vorstellen. Jedoch lässt diese ‚Zauberformel’ den Mond bloß im Raum der Imagination am Himmel erscheinen, in die ‚Realität’ vermag sie ihn nicht zu holen. Doch was ist ‚Realität’ eigentlich?

Dieser und anderen Fragen geht die Schriftstellerin Marion Poschmann im Rahmen der öffentlichen Veranstaltungsreihe Poet in Residence der Universität Duisburg-Essen nach. Zweimal jährlich wird ein(e) Autor*in an den Essener Campus geladen, um vier Tage lang aus seinem/ihrem Werk zu lesen und so dem Publikum Einblicke in die Tätigkeit als Schriftsteller*in zu gewähren. Unter den Gästen befanden sich bereits renommierte Autor*innen wie Günter Grass, Jurek Becker oder Yoko Tawada.

Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, heute in Berlin lebend, schreibt sowohl Prosa als auch Lyrik und hat ihren Essener Poetikvorlesungen den Titel Kunst der Überschreitung gegeben.

Die erste Vorlesung Der Raum und die Dinge: Mondbetrachtung, Geistersehen befasst sich theoretisch mit der Leitfrage, wie es Literatur gelingt, Raum und Räume zu überschreiten – und wirft dabei gleichsam en passant die Frage auf, was überhaupt als Wirklichkeit zu betrachten sei.

Poschmanns Dozentur beginnt äußerst strukturiert. Die Schriftstellerin legt die Disposition ihres Vortrags offen und beginnt – wie aus dem rhetorischen Lehrbuch – mit einer Einleitung, die sie auch explizit so nennt: „Einleitung“. Daran schließen sich knappe, prägnante Abschnitte an, die Poschmann jeweils mit thematisch passenden Überschriften, wie beispielsweise „Erkenntnis“, „Mondverfestigung“ sowie „Mondschein“ oder „Mondbegleiter“, versieht. Poschmann gestaltet akribisch Absätze und arbeitet ostentativ mit assoziativen Lücken. Die Zuhörenden warten gespannt darauf, zu erfahren, was Raum und Literatur, Mondbetrachtungen und Geistersehen sowie ‚Realität’ miteinander verbindet.

Zunächst nimmt sich Poschmann der Gedichte anderer Schriftsteller an. Die symbolische Qualität des Mondes rückt sie in den Fokus ihrer Betrachtung und führt aus, wie sehr der Himmelskörper seit jeher zum Objekt menschlicher Sehnsüchte und literarischer Bemühungen geworden ist. Poschmann zitiert Goethes An den Mond, spielt auf die Verirrungen des jungen Hans Castorp aus Thomas Manns Zauberberg an und macht das Faszinosum, welches das Unerreichbare für die Literatur aller Jahrhunderte darstellt, auf diese Weise greifbar. Es ist die Sprache, welche die gleichsam magische Eigenschaft des Mondes, sichtbar und doch fern zugleich zu sein – und den Raum zwischen der Erde und dem Firmament kraft seiner Lichtgestalt zu überschreiten, durch ihre Evokationsmacht aufleben lässt. Dabei betrachtet die Autorin den Mondkult keineswegs unkritisch und geht zudem auf die gegenwärtige Entmystifizierung des Erdtrabanten durch seine physische Erschließung sowie den damit einhergehenden Verlust seines Status als „Sehnsuchtsymbol“ ein. Und auch hier wirft sie wieder die Frage auf: Wenn der Mond wirklich und unwirklich zugleich ist, was ist dann ‚Realität’? Die Antwort bleibt offen.

Dann wendet sich Marion Poschmann einem anderen, in der Vergangenheit beliebten Phänomen zu: dem Geistersehen bzw. dem Supranaturalismus. Hierzu führt sie Beispiele aus der Frühzeit der Photographie an, sucht jedoch auch in der Literatur nach Spuren des Metaphysischen. Neben Henry James’ The Turn of the Screw sind die Gewährsleute der Autorin die Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle oder Justinus Kerner, die in Schreiben und Leben vom Übernatürlichen fasziniert und beeinflusst waren. Anhand von Fotomontagen, die dem heutigen, an die Verfahren der digitalen Bildbearbeitung gewöhnten Betrachter kurios vorkommen mögen, führt sie aus, dass der (oder: ein) ‚Geist‘ räumliche Begrenzungen zu überschreiten vermag und doch eigentlich nur – wie auch literarische (Mond-)Bilder – vor dem inneren Auge des Betrachters entsteht. Was also hat es mit Geistern und der Wahrnehmung von ‚Realität‘ auf sich?

Es macht den Eindruck, als sei Marion Poschmann selbst von diesen Kuriositäten fasziniert, als könne sie sich dem Sog der spiritistischen Begeisterung nicht entziehen. „Geister waren für Schriftsteller immer schon interessant“, stellt sie fest und führt an Beispielen aus, dass sich einige dieser Aspekte auch in ihrer Dichtung wiederfinden. Ein markanter Zug ihrer schriftstellerischen Arbeit ist das Bemühen, die vom Menschen angenommenen Schein-Sicherheiten vom Schleier ihrer Unantastbarkeit zu befreien, sämtliche Festlegungen auf ihre Daseinsberechtigung zu überprüfen – auch als Versuch, diese Strukturen aufzubrechen, möchte sie ihre literarischen Werke verstanden wissen. Doch bleiben ihre Ausführungen bis zum Schluss (wie die Geistererscheinungen) ein wenig unwirklich und undurchschaubar. Und eine – wie auch immer verwertbare und vorläufige – Definition von ‚Realität’ bleibt Marion Poschmann schuldig.

Die erste Vorlesung endet – wie die künftigen auch – mit einem Epilog zu Steinen. Marion Poschmann zeigt Aufnahmen sogenannter DDR-„Formsteine“, die – das gibt die Autorin unumwunden zu – nicht konkret zum Thema der Vorlesung gehören; nichtsdestoweniger haben sie eine Funktion im Raum. Ihnen kommt als nonsemantisches Zeichen eben doch eine Bedeutung zu: Sie teilen einen leeren Raum ein und auf. Durch den Stein, eine „Schürze im Raum“, wird ein Raum gleichsam bekleidet, sichtbar gemacht, obwohl er streng genommen gar nicht kenntlich ist. Die Leere eines Raums wird also durch den (Stein-)Körper gefüllt.

Ist es somit heute – Poschmann zufolge – nicht mehr der Mond oder der Geist, der den Raum überschreitet, sondern der Stein? Ist der Stein so wirklich und unwirklich zugleich, dass durch ihn die Infragestellung der Realität weiterhin legitimiert ist? Marion Poschmann gelingt es, sich auf hohem theoretischen Niveau mit ihrem Thema auseinanderzusetzen und den Anwesenden ihre Überlegungen gleichzeitig anschaulich näherzubringen. Als Schriftstellerin ist Poschmann nur schwer auf eine Poetik festzulegen, die kohärenten und wiedererkennbaren Strukturen folgt. Dessen ungeachtet gelingt es ihr fast schon überraschend gut, die Gedanken klar zu formulieren, sich jedem verständlich zu machen. Bei dem Publikum hinterlässt sie eine Ahnung davon, dass eine Überschreitung des Raumes möglicherweise stets die Frage nach Wirklichem und Unwirklichem impliziert. Eine eindeutige Antwort möchte sie hierauf wahrscheinlich gar nicht finden, sondern eher zementierte Konzepte in Frage stellen. Vielleicht sollte man sich, wie Poschmann, von Gewohntem abwenden, von Mond und Geist – und sich Steinen zuwenden, eben nicht mehr durch „Ich spreche Mond“, sondern durch „Ich spreche Stein.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen