Mystery ohne Mehrwert

Tobias Sommer schickt seinen Protagonisten in „Jagen 135“ in einen Selbstmörder-Wald

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine schwarzgekleidete Frau stürzt kopfüber ein Treppenhaus hinunter, wirkt aber dabei merkwürdig statisch, wie aufgehängt – ein irritierendes Buchcover. Was wie eine Fotomontage wirkt, ist in Wirklichkeit das Gemälde eines australischen Fotorealisten. Von ebenso schillernder Uneindeutigkeit ist der Titel: „Jagen 135“. Bild und Titel stehen in keiner erkennbaren Beziehung zueinander, was besondere Erwartungen an den Text weckt. Konrad Jagen – so heißt ein berühmter Kriegsfotograf, der vom Chef seiner Zeitung in einen geheimnisvollen Wald, gelegen in einem anonymen Nachbarland Deutschlands, gesendet wird, wo sich seit Jahrhunderten Menschen das Leben nehmen. Er soll mit seiner Kamera den Todesfällen auf den Grund gehen. Zunächst für drei Tage in einem Hotel einquartiert, wechselt er – obwohl eigentlich schon wieder auf der Rückreise –  bald in eine leerstehende Ferienhausanlage. Dort trifft er auf Susanne Johannson, deren Sohn, ein erfolgreicher Basketballspieler, sich in diesem Wald umgebracht hat, und die nun nach dem Todesort sucht.

In immer neuen Anläufen durchstreifen die beiden fortan den unübersichtlichen Wald, wobei Joe, Angler und kauziger Besitzer des einzigen Ladens, ihnen mit Lebensmitteln und Tipps weiterhilft. Konrad und Susanne glauben sich verfolgt von einem Unbekannten, hinter dem ein gewisser Kurtz stecken könnte, ein erfolgreicher Unternehmer und Hobbyfotograf mit einem Gewehr, den Jagen im Hotel kennen gelernt hatte. Viel später stellt sich heraus, dass Kurtz sich ebenfalls das Leben genommen hat. Der Unbekannte, auf dessen Spuren sie wiederholt stoßen, muss ein Anderer sein, der „Wanderer“. Er wird im zweiten Teil des Romans zum zentralen Gegenüber.

Ständig, doch letztlich ohne Erfolg, sucht Jagen den telefonischen Kontakt zu seiner Frau Annabell, die sich beruflich gerade in Israel aufhält, das von einem Krieg bedroht wird. Doch auch jenseits der Grenzen des Landes, die den Wald mit Grenztürmen durchziehen, lauert eine Kriegsgefahr, die sich allmählich in einer Nahrungsmittelknappheit bemerkbar macht.  Bei der Suche nach dem „Wanderer“ geraten Konrad und Susanne irgendwann in eine Versammlung der Dorfbewohner, die ihnen feindlich gegenüberstehen und offenbar wegen des Krieges nervös angesichts von Fremden sind. Vorher war bereits ein Brandanschlag auf die Ferienwohnung verübt worden. Zum Schluss kommt es zu einem Showdown, als Konrad den „Wanderer“ in seiner Hütte stellt. Dieser erweist sich als Naturforscher, den die Selbstmorde ebenfalls seit geraumer Zeit beschäftigen. Ein Abschiedsbrief legt nahe, dass Susanne, die seit einiger Zeit verschwunden ist, sich nun auch das Leben genommen hat.

Tobias Sommer, Jahrgang 1978, ein in Bad Segeberg lebender Finanzbeamter, der im vergangenen Jahr erfolglos am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teilgenommen hat, konstruiert seinen Roman – es ist bereits sein dritter – auf der Basis des alten Erzählmodells der Quest. Insbesondere drei Schlüsselwerke der Moderne sind es, die wie Reminiszenzen als Blaupausen übereinandergelegt scheinen: Joseph Conrads „Heart of Darkness“ (die Figur des Kurtz verweist explizit darauf), Kafkas „Schloss“-Roman (was das Eindringen eines Fremden in eine geschlossene soziale Welt angeht) und vor allem Thomas Bernhards Roman „Korrektur“ (Annäherung an einen Selbstmörder mitten im Wald über dessen schriftlichen Nachlass, die den recherchierenden Erzähler in einen unheilvollen Bann zieht). Das Sichverlieren in Wald und Wildnis sind dabei Chiffren für eine andere Story, die erzählt wird. Doch welche ist das, wovon handelt Sommers Roman, der sich in das Gewand eines Mystery-Thrillers kleidet, eigentlich?

Ein auf einer dünnen Reflexionsebene in Gedanken und Tagebuchnotizen des Ich-Erzählers Jagen entfaltetes Motiv, das den ganzen Text durchzieht, ist die Frage nach Glück und Unglück: „Wer bestimmt den Teil in unserem Leben, der uns unglücklich macht?“ Und gegen Ende des Romans: „‚Kann man, wenn alles zerstört ist, trotzdem glücklich werden, oder anders, ist man glücklich, wenn man alles hat?‘ So eindeutig und schnell ich vor Jahren diese Frage beantworten konnte, so sicher wähne ich mich nun auf der anderen Seite.“ Die Suche nach dem Ort, der seit jeher Lebensmüde angezogen hat, führt den Starfotografen in eine krisenhafte Selbsterkenntnis. Doch genau das bleibt zunächst unklar und wird erzählerisch nicht plausibel. Jagen zweifelt an seinem scheinbaren Lebensglück, da er plötzlich erkennen muss, dass er als Kriegsfotograf mit dem Elend von Kriegsopfern sein Geld verdient hat und dabei zu Ruhm gelangt ist. Sein wichtigstes Bild – einst Pressefoto des Jahres –  zeigt eine bildhübsche Frau im Nahen Osten, die soeben einem Militäranschlag entkommen ist. Jetzt überkommt den Fotografen das schlechte Gewissen, dass er sie damals hätte retten müssen, und vor allem: dass er jetzt seine verschwundene Gefährtin retten muss.  Es will nicht überzeugen, die Krise des Protagonisten an diesem Punkt festzumachen, zumal ihm – und uns als Leser – diese Einsicht erst kurz vor Schluss des Buches zuteil wird. Diese „Schuld“ wird eher nur behauptet und hätte gestaltet werden müssen, etwa indem die Vergangenheit des Fotografen in der Erzählstruktur viel mehr Gewicht  – als eigene Zeitebene etwa – bekommen hätte. (Und die Sorge um seine womöglich gefährdete Ehefrau im israelischen Krisengebiet bleibt zu beiläufig, um als Mitauslöser der Krise zu dienen.)  Es besteht vor allem auch keine tiefere Beziehung zu Susanne, die über Sympathie hinausginge. Wie hätte Jagen ihren geplanten Selbstmord denn absehen können?  Der Autor will das bekannte Filmstereotyp eines unter Gefahren recherchierenden Helden, der eine attraktive Frau zur Seite bekommt, in die er sich verliebt, unbedingt vermeiden – und macht es dadurch nur umso stärker bewusst.

Jagen wird ja nur indirekt mit dem Krieg konfrontiert, warum sollten seine zurückliegenden Erlebnisse gerade jetzt die Lebens- und Sinnkrise auslösen? Offenbar ist nur deswegen das vom Suizidmotiv unabhängige Kriegsmotiv eingeführt worden – einmal als Bedrohung für seine Frau im Nahen Osten und dann in seiner Umgebung für die Dorfbewohner – um seine Lebensvergangenheit thematisch in die Geschichte einzubringen.

Ein anderes Thema, das sich durch den Text zieht, ist das der medialen Erkenntnis der Wirklichkeit, wovon etwa auch Antonionis berühmter Film „Blow up“, ebenfalls eine Fotografengeschichte mit den Suspense-Elementen eines (nur imaginierten) mysteriösen Verbrechens, erzählt. Was verraten die Bilder, die wir uns von der Realität machen, und seien sie noch so authentisch, von dieser?  Nun kann, anders als bei Antonioni, die Kamera des Helden von vornherein nichts zur Aufklärung beitragen, da die Suizide, polizeilich zumindest, längst geklärt sind. Eine Recherche über die Biografien der Suizidanten statt über den unauffindbaren Tatort hätte direkt ins Kernthema Lebensglück/-unglück geführt.  Diese erkenntniskritische Problematik wird bei Sommer aber nicht recht entfaltet und ist auch nicht mit der moralischen verbunden: Darf man Kapital schlagen aus dem Abbilden von Not und Elend, anstatt den Opfern zu helfen?

Vieles, ja allzu vieles ist unausgegoren in diesem Roman, der mehr sein will als Genre-Konfektion. Schon die Verfremdung der erzählten Welt ist halbherzig: Die Topografie ist anonym, aber die Geschichte spielt offenbar in unserer heutigen Welt (vom Krieg zwischen den USA und dem Iran ist einmal die Rede) und ist keine existenzielle Parabel in einem Nirgendwo. Der Roman funktioniert aber auch nicht als augenzwinkerndes postmodernes Spiel mit Indizien und (intertextuellen) Referenzen am Faden eines Krimi- oder Thrillerplots. Die intertextuellen Verweise (ein Band Søren Kierkegaard, Franz Schuberts „Winterreise“ im Radio) sind zu ephemer und vage, als dass sie zum Bedeutungsaufbau viel beitragen würden.

Leider gibt es sonst nichts, was für diese gravierenden Konstruktionsmängel entschädigen würde. Der Sprache geht jeglicher poetischer Mehrwert ab; es ist ein steriles, ödes Neutraldeutsch, hölzern wie in einem Jugendbuch. Selbst eingeschliffene Stilfehler der Alltagssprache wie „in keinster Weise“ sind dem Autor unterlaufen. Keine Formulierung gibt es da, bei der man innehalten würde, weil sie aus dem Gewohnten und Erwartbaren herausfiele. Auch die Figurenrede trägt keinerlei kontrastierendes Kolorit bei. Und die morbide Atmosphäre des Selbstmörder-Walds findet in keiner Weise ihren Niederschlag in besonderer stilistischer Gestaltung.

Nun wäre diese bemerkenswerte stilistische Armut immerhin unter einem Blickwinkel zu rechtfertigen: wenn man den ganzen Text nämlich als Filmskript liest, als potenzielles Drehbuch, das der Verfasser leider mit einem Roman verwechselt hat. Nicht nur das Heldenpaar Konrad-Susanne, auch die Figur des „Wanderers“, der sich im finalen Showdown als souverän alles überblickender Gegenspieler erweist, sowie die ganze Plot-Dramaturgie erinnern überdeutlich an einen TV-Mysterythriller, der als solcher gar nicht einmal schlecht sein müsste. Die Figurenrede – im Druck durchgängig und manierierterweise kursiv wiedergegeben – könnte dabei eins zu eins übernommen werden. Die lineare Erzählweise des Autors, in der alles ausformuliert ist und bei der nichts ausgespart bleibt, prädestiniert zusätzlich zur filmischen Umsetzung; ebenso das Fehlen jeder strukturellen Doppelbödigkeit und Ambivalenz – von Ironie ganz zu schweigen –, die nur ein genuin literarisches Erzählwerk entfalten kann, wenn der Verfasser sein Handwerk beherrscht. Überhaupt hat man bei so manchem zeitgenössischen Autor, etwa bei Daniel Kehlmann, den Eindruck, dass unterbewusst der Gedanke an leichte Verfilmbarkeit die gesamte Anlage des Romans geprägt hat. Wenn man bedenkt, wie viele Erfolgsbücher auch tatsächlich verfilmt werden, scheint dieser Gedanke nicht abwegig zu sein. Um wie vieles fantasievoller und sprachmächtiger war doch seinerzeit der Debütroman von Georg Klein, „Libidissi“ (1998), der auf der Folie des Agentenromans in einer imaginierten Stadt spielt.

Doch was hat es nun mit dem kryptischen Titel „Jagen 135“ auf sich, der den Leser so neugierig gemacht hat? Er leitet sich –  Google sei Dank! – von der Bezeichnung eines alten Selbstmörder-Friedhofs im Grunewald her.  Schlüssiger wäre es vielleicht, wenn man ihn angesichts des eben Gesagten ganz anders verstünde: „Jagen“, der 135. Take. Film ab!

Titelbild

Tobias Sommer: Jagen 135. Roman.
Septime Verlag, Wien 2015.
286 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783902711366

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