Egger ging durch’s Gebirg

„Ein ganzes Leben“ auf 150 Seiten: Robert Seethaler ist mit seinem kurzen Roman ein kleines Meisterwerk gelungen

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Alpenidylle und verbrämter Heimatliteratur ist Robert Seethalers „Ein ganzes Leben“ weit entfernt. In seinem Roman geht es nicht um die friedliche und heile Bergwelt, wie sie gerne in Hochglanzprospekten dargestellt wird. Vielmehr schildert Seethaler die dunklen und entbehrungsreichen Seiten eines Lebens, das stark von den Launen der Natur abhängig ist. „Ein ganzes Leben“ ist der vierte Roman des 1966 in Wien geborenen Autors. Beleuchtete Seethaler in seinem letzten Roman Der Trafikant (2012) noch das Leben in der Großstadt Wien, so wagt er sich nun in dünner besiedelte Regionen vor. Geblieben ist jedoch, dass er sich auch dieses Mal den ‚kleinen Leuten‘ widmet.

Andreas Egger, der Protagonist des Romans, wächst auf dem Hof seines Onkels Hubert Kranzstocker in einem kleinen Bergdorf in den Alpen auf. Dieser behandelt den Heranwachsenden mit unerbittlicher Strenge, als „ein Geschöpf, das zu arbeiten, zu beten und seinen Hintern der Haselnussgerte entgegenzustrecken hatte“. Einmal schlägt er so fest zu, dass sich Egger den Oberschenkelknochen bricht und zeitlebens eine Behinderung davonträgt. Obwohl diese Szene im Roman auf den ersten Blick objektiv geschildert wird, so erfährt sie durch die Wortwahl, die Anleihen an der biblischen Sprache nimmt, eine ironische Brechung. Kranzstockers Verhalten wird dadurch vom Autor als verabscheuungswürdig herausgestellt. Trotz der Gewalttätigkeit und der Allmachtsphantasien seines Onkels gelingt es Egger jedoch, nicht an den ungünstigen Lebensumständen zu verzweifeln. Er erträgt sein Schicksal scheinbar mit stoischer Gelassenheit: Auflehnung ist ihm fremd.

Auch mit zunehmendem Alter ändert sich Eggers Einstellung zum Leben nicht: Er stellt sich den oft harten Anforderungen des Alltags und verlangt nicht mehr und nicht weniger, als für ein einfaches Leben notwendig ist. Träume oder Visionen von einem ‚besseren Leben‘ sind ihm fremd. Er lebt – und damit gibt sich der Protagonist zufrieden. Das mutet in einer Welt der Selbst- und Lebensoptimierung fremd an, wo es darum geht, die Karriereleiter immer noch ein Stückchen höher zu klettern, noch das letzte Quäntchen Leistungsfähigkeit aus sich herauszukitzeln. Doch genau diese Einstellung der Selbstbescheidung ist es, welche diese literarische Figur so interessant macht: Mit ihr hält Seethaler der rastlosen Leistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts den Spiegel vor.

Als Egger genug Geld zusammen hat, kauft er sich etwas abseits vom Dorf ein kleines Grundstück, baut sich und seiner Frau Marie, die die einzige Liebe seines Lebens bleiben soll, ein Häuschen und genießt sein kleines Glück. Dieses jedoch zerplatzt wie eine Seifenblase: Eine Lawine verschüttet das Haus. Marie, die ein Kind erwartet, stirbt. Egger, der sich auf einem Spaziergang oberhalb des Hauses befindet, springt dem Tod noch einmal von der Schippe. Überhaupt spielt das Sterben eine große Rolle im Roman. Nach dem frühen Tod der Mutter und etlichen Todesfällen beim Bau der Seilbahn, an dem Egger beteiligt ist, wird er auch später immer wieder mit der Fragilität und Flüchtigkeit des Lebens konfrontiert. In russischer Kriegsgefangenschaft hört er nach wenigen Wochen auf, „die Toten zu zählen, die in einem Birkenwäldchen hinter dem Lager begraben wurden. Der Tod gehörte zum Leben wie der Schimmel zum Brot. Der Tod war das Fieber. Er war der Hunger. Er war eine Ritze in der Barackenwand, durch die der Wind pfiff.“

Sechs Jahre nach Kriegsende kehrt Egger schließlich zurück in sein Dorf, wo sich einiges verändert hat. Der stille und beschauliche Bergort hat sich in eine Touristenhochburg verwandelt: Die Straßen wurden aufgrund des erhöhten Verkehrsaufkommens verbreitert, Pensionen und Hotels schießen wie Pilze aus dem Boden, mehrere Seilbahnen und Skilifte spinnen sich wie ein Netz über die umliegenden Berge, ein Ferienzentrum mit Kurgarten und Hallenbad ist in Planung. Lakonisch bemerkt der Erzähler dazu: „Egger nahm alle diese Veränderungen mit stiller Verwunderung hin.“ Als er sich als Wartungstechniker bei den Betreibern der Seilbahn bewirbt und sich erneut an ihrem Bau beteiligen möchte, wird ihm unumwunden zu verstehen gegeben, dass er „nicht mehr ganz der Richtige“ für die auszuführenden Arbeiten sei. Für ihn gibt es keinen Platz mehr „in der Welt der modernen Verkehrstechnik“. Der Protagonist muss feststellen, dass er aus der Zeit gefallen ist. Der technische ‚Fortschritt‘ hat ihn wie eine Lawine überrollt.

Gegen Ende seines Lebens zieht sich Egger immer mehr von seinen Mitmenschen zurück. Nach einigen Jahren im Dorf baut er sich einen alten Stall als Wohnstätte aus und führt das Leben eines Eremiten, der von der restlichen Dorfbevölkerung misstrauisch beäugt wird. Illusionslos blickt er auf „ein ganzes Leben“ zurück:

Er […] war ein alter Mann, zu nichts mehr zu gebrauchen und froh, sich noch einigermaßen aufrecht fortbewegen zu können. Er war schon so lange auf der Welt, er hatte gesehen, wie sie sich veränderte und sich mit jedem Jahr schneller zu drehen schien, und es kam ihm vor, als wäre er ein Überbleibsel aus einer längst verschütteten Zeit, ein dorniges Kraut, das sich, solange es irgendwie ging, der Sonne entgegenstreckte. 

Robert Seethaler ist mit seinem schmalen Roman ein kleines Meisterwerk gelungen: Mit einfachen, präzisen Worten schildert er das Leben eines ‚kleinen Mannes‘ in den Bergen. Jedes Wort sitzt – keines ist zu viel oder zu wenig. Einmal mit dem Lesen begonnen, vermag man sich der Anziehungskraft seines Erzählstils nicht mehr zu entziehen. Seine Naturbeschreibungen haben eine solche Leuchtkraft, dass sie zuweilen an Georg Büchners Lenz denken lassen. Plastisch beschreibt er die fast mystische Verbindung seines Protagonisten zur Natur: „Und manchmal, wenn er lange genug so dalag, hatte er das Gefühl, die Erde unter seinem Rücken würde sich ganz sachte heben und senken, und in diesem Moment wusste er, dass die Berge atmeten.“

Obwohl der Roman mit seinem Thema das Potenzial dafür hat, driftet er doch nie ins Kitschige oder Esoterische ab. Stets bleibt er auf dem Boden der Tatsachen. Seethaler erzählt so geerdet, wie es der Protagonist seines Romans ist, der „seine Kindheit, einen Krieg und eine Lawine überlebt“ hat und der trotz aller Entbehrungen und Schicksalsschläge ein positives Lebensresümee zieht: „Für seine Begriffe jedoch hatte er es irgendwie geschafft und dementsprechend allen Grund, zufrieden zu sein.“ Ist es nicht letztlich das, was zählt?

Titelbild

Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446246454

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