Idee und Realität

„Tugend“ und „Terror“ als Leitbegriffe einer Geschichte der Französischen Revolution von Johannes Willms

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wenn die Tugend zu Friedenszeiten allein die Kraft der demokratischen Regierung ausmacht“, verkündete Maximilien Robespierre, das Haupt der Jakobiner, im Februar 1794, „so gilt für eine Revolution, daß sich diese Kraft gleichermaßen aus der Tugend und dem Terror speist: Ohne die Tugend ist der Terror verderblich und ohne Terror ist die Tugend ohnmächtig. Der Terror ist nicht anderes als die rasche, strenge und unbeirrbare Justiz. Der Terror ist damit ein Ausfluß der Tugend.“ Diese Sätze, die Johannes Willms in der Einleitung zitiert, intonieren die Grundmelodie, die sein Buch durchzieht. Die Begriffe, die hier mit unbeirrbarer Logik, tatsächlich aber mit pseudophilosophischer Rabulistik zusammengefügt werden, markieren die extremen Pole des Geschehens. Aber es war nicht so, dass der eine nur den Beginn, der andere nur das Ende dominierte, vielmehr waren beide in jeder Phase der revolutionären Prozesse und Bewegungen präsent, ineinander geschachtelt und miteinander verschwistert. Für die Opfer, die der Terror forderte, war es gleichgültig, mit welcher hochtrabenden Begründung er daherkam, wer ihn organisierte, ob er sich spontan auf Straßen und Plätzen Bahn brach oder von denen, die zu den Schalthebeln der Macht strebten beziehungsweise dort schon hockten, mit kaltem Kalkül und großer Gebärde ins Werk gesetzt wurde.

An der Französischen Revolution scheiden sich die Geister, vielleicht nicht mehr so leidenschaftlich wie früher, als die Ereignisse den verschiedenen Generationen relativ nahe waren, aber die Erschütterungen Ende des 18. Jahrhunderts, auch die davon ausgelösten langen Wellen, in denen hohe Erwartungen wie tiefe Befürchtungen mitschwammen, zittern nach – hier intensiver, dort weniger, am entschiedensten naturgemäß in Frankreich selbst. Sie gehören zu jener Sorte Vergangenheit, die nicht vergeht, sondern in immer neuem Gewand die Gemüter in den Bann schlägt. Insofern wundert es kaum, dass darüber selten ohne innere Anteilnahme verhandelt worden ist, vielmehr mit Eifer und Zorn, befangen in parteilichen, tagesaktuellen Vorstellungen und Bedürfnissen. Das galt in dieser oder jener Variante für Konservative ebenso wie für Liberale und Sozialisten. Nicht von ungefähr hat vor Jahren schon der Historiker Eberhard Schmitt davon gesprochen, dass die Vergegenwärtigung der Umbrüche, die sich zwischen 1789 und 1799 vollzogen, geradezu exemplarisch sei für eine die Gemüter polarisierende, „weltanschaulich-ideologisch geprägte Geschichtsschreibung“.

Bis heute läßt sich über den Wesenskern der Revolution trefflich streiten. War ihr Ziel mit der Verwandlung der absoluten in die konstitutionelle Monarchie erreicht oder erst mit der Proklamierung der Republik und der jakobinischen Herrschaft? Ging diese mit innerer Notwendigkeit aus jener hervor? Findet die bürgerliche Revolution überhaupt erst ihre Erfüllung in der sozialistischen? War sie mit Napoleon unwiderruflich am Ende oder markierte sie generell den Beginn einer Epoche fortwährender Umwälzungen und nicht enden wollender gesellschaftlicher und individueller Unsicherheit? „Das Hauptphänomen unserer Tage“ sei „das Gefühl des Provisorischen“, bekannte im November 1867 mit dem ihm eigenen Pessimismus Jacob Burckhardt: „Eigentlich alles“ sei bis in die Gegenwart hinein „im Grunde lauter Revolutionszeitalter“, der „Sturm“, der 1789 die „Menschheit“ erfasst habe, trage auch die Nachlebenden „weiter“.

Johannes Willms kennt natürlich die Windungen der Rezeptionsgeschichte, kennt die Positionen und Befunde der Historiker und Publizisten, die sich vor ihm des Themas angenommen haben. Aber er diskutiert sie nicht, wendet sie nicht noch einmal hin und her, um hier zuzustimmen, dort zu kritisieren und sich abzusetzen. Den Ehrgeiz, zuvorderst die eigene Gelehrsamkeit ins Licht zu stellen, das Publikum mit theoretischen Entwürfen und Erwägungen zu traktieren, hat er nicht. Seine Sache ist vielmehr die fließende, die opulente Erzählung, in die freilich immer Analyse und Interpretation eingeschrieben sind. Sie ist es, die uns unmittelbar anspricht, in das Geschehen hineinzieht und so rasch nicht wieder loslässt.

Ohne viel Federlesens springt er mit dem ersten Satz sogleich in medias res: „Der Tod Louis’ XV am 10. Mai 1774 war der Anfang vom Ende des Ancien Régime.“  Was folgt, ist die pointierte Analyse einer fünfzehnjährigen Krise, die sich kontinuierlich verschärft, am Ende zur Entladung drängt. Keiner der Akteure wollte die Revolution. Aber im Angesicht des finanziellen Ruins, in das der Staat hineingesteuert worden war, der Not der städtischen Unterschichten und der gnadenlosen Ausplünderung der Bauern, der Korruption, Privilegien- und Klientelwirtschaft am Hof zu Versailles, im Angesicht der Unfähigkeit des Königs wie der Eliten, die feudalen und heillos überalterten, unübersichtlichen und dysfunktionalen Strukturen der Monarchie zu reformieren, war sie beinahe unvermeidlich. Auch deshalb, weil mit der Aufklärung intellektuell begründete, in der Öffentlichkeit weitläufig diskutierte Alternativen verfügbar waren, mit Zeitungen, Broschüren und Pamphleten Medien bereit standen, um jede tatsächliche oder vermeintliche Verfehlung der herrschenden Stände zu skandalisieren, Unrast und Ängsten stets von neuem Nahrung zu geben und dabei die Legitimität des politischen Systems Schritt für Schritt zu untergraben.

Mit der Einberufung der Generalstände, die eigentlich nur helfen sollten, den drohenden Staatsbankrott durch Bewilligung neuer Steuern abzuwenden, nahm das Drama seinen Lauf. Dessen Dynamik, die verschiedenen, ineinander geschlungenen Ereignis- und Handlungsstränge schildert Willms in drei großen Abschnitten, die das Herzstück seines Buches ausmachen. Der erste Kulminationspunkt ist mit der Flucht des Königs erreicht, die am 21. Juni 1791 in Varennes scheitert. Das ist der Beginn der persönlichen Katastrophe der königlichen Familie, zugleich wird damit der konstitutionellen Monarchie die Sterbeglocke geläutet. Die bürgerliche, vergleichsweise gemäßigte, wiewohl bereits mit  Strömen von Blut getränkte Revolution wechselt über in erbitterte Kämpfe um Einfluß und Dominanz, in deren Verlauf die ausgestreuten Parolen sich fortwährend überbieten. Gewalt in Permanenz dient der Sicherung der revolutionären ‚Errungenschaften‘, treibt die Entwicklung in immer neuen Schüben voran. Der Krieg nach innen findet seine Entsprechung im Krieg nach außen, der die Revolution exportiert, den europäischen Völkern Freiheit, Gerechtigkeit und Republik verspricht, tatsächlich, wenn auch in anderem Gewand als früher, nur Unterdrückung und Ausbeutung beschert.

Robespierre, dessen unaufhaltsamen Aufstieg der Autor plastisch vor Augen führt, ist die zentrale Figur in den Prozessen der Radikalisierung, seinen Mit- und Gegenspielern an Machtwillen, ideologischer Vision und Rabulistik, an Gesinnungs- und Überzeugungskraft überlegen, ein mit allen Wassern gewaschener Fanatiker und gewiefter Stratege. Wer sich ihm in den Weg stellt, wird liquidiert. Die Guillotine ist Instrument des Terrors, zugleich Symbol republikanischer Tugend, dient zur Durchsetzung und Absicherung sozialer Gleichheit, was gleichermaßen Utopie und Phantasma ist, zu keinem Zeitpunkt jedoch Realität wird. Dabei ist unerheblich, ob der Terror der Tugend oder die Tugend dem Terror entschlüpft. Im Ergebnis läuft das alles auf Pervertierung und Diskreditierung des Gedankens der égalité hinaus, die zusammen mit liberté  und fraternité das programmatische Dreigestirn der Revolution bildet. Dahinter verbirgt sich die Absicht, nicht nur eine neue Ordnung, sondern auch den neuen Menschen zu schaffen: ein gigantisches, mit Legionen von Opfern erkauftes gesellschaftliches Experiment.

Willms lenkt das Augenmerk, und das ist eine der Stärken seines Buches, immer wieder auf die Institutionen und das dort handelnde und debattierende Personal, auf die Gerichtshöfe, die parlements, die Nationalversammlung und den Konvent, auch auf die verschiedenen Klubs und Sektionen der hauptstädtischen Jakobiner. Die detaillierte Analyse der dort ausgefochtenen Konflikte und Positionskämpfe, der Reden und Gegenreden, der Sprach- und Denkfiguren wird gleichsam unter der Hand zu einer intellektuellen Geschichte der Revolution: ihrer geistigen Horizonte, Verzweigungen und Ausuferungen, der Hingabe an den Rausch rhetorischer Exzesse, der Suggestivkraft menschheitsbeglückender Phantasien, der Formen, in denen sich revolutionäre Ideen und Ansprüche repräsentieren, etwa in kultischen Feiern der Vernunft, die kulturelles Herkommen und religiöse Überlieferung dem Orkus des Vergessens überantworten wollen.

Zu den Ideen gesellen sich individuelle wie kollektive Hysterien, eingetrübte Wahrnehmungen und Realitätsverweigerungen, gesellt sich die Herrschaft des Verdachts, die Praxis, unliebsame Strömungen, Gruppen und Individuen zum Feind zu erklären. Camille Desmoulins, ein enger Vertrauter Dantons, hat im Dezember 1793 die Atmosphäre grassierender Furcht eingefangen, indem er die Gegenwart im Spiegel antiker Schreckensgestalten wie des römischen Kaisers Nero abbildet. „Man mußte“, schrieb er, „ob des Todes eines Freundes oder eines Verwandten seine Freude zeigen, wollte man nicht Gefahr laufen, selber getötet zu werden“. Alles und alle hätten den Argwohn des Tyrannen erregt, die bei den Bürgern Beliebten als potenzielle Konkurrenten ebenso wie die Reichen und die Armen, die einen, weil sie das Volk durch Wohltaten verderben, die anderen, weil sie auf Umsturz sinnen könnten. Nichts habe das ubiquitäre Mißtrauen besänftigen können. Nicht nur hier wird deutlich, daß Willms von Robespierre, auf den das Zitat zielt, keine hohe Meinung hat. Er sei besessen gewesen von fixen Ideen, urteilt er, ein paranoider Charakter, der allenthalben Verschwörungen wittert, unfähig, „politisch zu denken und zu urteilen“, ein Dogmatiker und Prinzipienreiter, gefangen in einem „hermetischen Wahnsystem“, kurzum: der „Dämon der Französischen Revolution“.

Mit der Hinrichtung Robespierres zieht deren „Götterdämmerung“ herauf. Es beginnt die Zeit der Thermidorianer, des Direktoriums, der Konkursverwalter der Revolution, der Verfassung von 1795, die Existenz und Fortbestand einer „bürgerlichen Republik“ begründen und sichern soll. Der Entwicklung, die sich hier voranschleppt, bereitet General Bonaparte am 9. November 1799 ein unrühmliches Ende. Als dieser nach der Völkerschlacht von Leipzig im Oktober 1813 erkennen  muß, daß auch seine Tage gezählt sein könnten, vertraut er einem seiner Minister an: „Nach mir werden die Revolutionen oder vielmehr die Ideen, die sie beherrschten, mit neuer Kraft ihr Werk wiederaufnehmen.“ Man müsse den „reißenden Strom“ einhegen, damit er nicht über die Ufer trete. Die „Doktrinen, die man die Prinzipien von 1789 nennt“, fährt Napoleon fort, „werden für immer eine bedrohliche Waffe in den Händen der Unzufriedenen, der Ehrgeizigen und der Ideologen aller Zeiten sein“. Diese Ahnung, mit der Willms sein fulminantes Werk beschließt, war von den oben zitierten, ein paar Jahrzehnte später geäußerten Befürchtungen des Schweizer Kulturhistorikers Jacob Burckhardt nicht allzu weit entfernt.

Titelbild

Johannes Willms: Tugend und Terror. Geschichte der Französischen Revolution.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
831 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406669361

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