Todesstrafen und Tötungsarten

Literarische Rechtsreflexionen im Werk Heinrich von Kleists

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

Für das Verständnis der Texte Kleists ist wenig gewonnen, wenn man die vielfach katastrophalen Ausgänge der Dramen und Novellen im Charakter der Personen angelegt sieht. Von Darstellungen dämonischer Charaktere wurde in der Forschung lange gesprochen, und es ist dann aufgrund solchen Denkens nur folgerichtig, wenn man in Michael Kohlhaas den Typus des Querulanten erkennt, eine pathologische Gestalt womöglich, der „querulatorischer Größenwahn“ (Hubert Tellenbach) zuerkannt wird. Deutungen wie diese, die das Geschehen auf den individuellen Fall reduzieren, unterschlagen den Rechtszustand, wie er tatsächlich ist: ein solcher mit Rechtsbrüchen und Rechtsbeugungen, die vor allem den sächsischen Staat und seinen Kurfürsten innerhalb dieser Novelle in ein schlechtes Licht setzen. – Auch der zweifellos leichtsinnige Nicolo in der Novelle Der Findling ist nicht der allein Schuldige, sondern möglicherweise der am wenigsten Schuldige der Katastrophe, in die das Geschehen einmündet – einer Familienkatastrophe ohnegleichen. Er ist wenigstens partiell in Schutz zu nehmen, eben weil es um mehr und anderes geht als um den Typus oder Charakter des unverbesserlichen Verbrechers. Auch in diesem vielleicht unerbittlichsten Text, den Kleist geschrieben hat, stehen bestimmte Rechtshandlungen und Rechtsregelungen in Frage, die nicht geeignet sind, eine Atmosphäre des Vertrauens in der Familie herzustellen, in die Nicolo als Findling aufgenommen wird. Verträge und Erbverträge wie in der Familie Schroffenstein oder im Fragment Robert Guiskard sind solche Rechtshandlungen, um die es auch in dieser Kaufmannsnovelle geht. Zweimal ist von solchen Handlungen die Rede; so eingangs, wenn es heißt:

Kurz, als Piachi sein sechzigstes Jahr erreicht hatte, tat er das Letzte und Äußerste, was er für ihn tun konnte: er überließ ihm, auf gerichtliche Weise, mit Ausnahme eines kleinen Kapitals, das er sich vorbehielt, das ganze Vermögen, das seinem Güterhandel zum Grunde lag, und zog sich, mit seiner treuen, trefflichen Elvire, die wenige Wünsche in der Welt hatte, in den Ruhestand zurück.

Aufgrund solcher Abmachungen erklärt sich Nicolo später und zur Überraschung seines Adoptivvaters als Eigentümer des Hauses, der nicht gesonnen ist, es zu räumen, und die Regierung bestätigt die Abmachung ihrerseits in einem Dekret. Mit diesem Dekret in der Tasche führt Piachi den Totschlag aus, und dass alle Wut, die ihn völlig außer sich gebracht hat, in erster Linie diesem Rechtsvorgang zuzuschreiben ist, kann kaum zweifelhaft sein. Er stopft das Dekret dem verhassten Adoptivsohn in den Mund – als einer, dem rechtliche Abmachungen über alles gehen. Der Umschlag in die Hyperbolik der Rache ist die Folge – eine Hyperbolik, die im Michael Kohlhaas mit anderer Motivierung wiederkehrt, wenn der zum Tode Verurteilte vor seinem Tod das Papier verschluckt, um dem sächsischen Kurfürsten wehzutun.

Die Paradoxie in solchem Geschehen ist offenkundig: Es sind Rechtshandlungen, die Rechtsbrüche, Gewalttätigkeit und Totschlag zur Folge haben; und nicht um außergewöhnliche Rechtshandlungen geht es, sondern um solche, wie sie in einem Rechtsstaat die üblichen sind; und wie es innerhalb der Rechtspraxis kaum anders sein kann, handelt es sich stets um fixiertes Recht, um schriftlich niedergelegte Gesetze, Dokumente und Verträge Auch dem Amazonenstaat der Penthesilea ist seit seiner Gründung eine solche Paradoxie eigentümlich. Den einmal in unvordenklicher Zeit fixierten Gesetzen des Amazonenstaates fehlt jede Unmittelbarkeit; sie gehen in eine mythische Ferne zurück, der eine lebendige Kraft nicht mehr innewohnt. So doch wohl ist zu verstehen, was Penthesilea dem mit Recht skeptischen Achill zu erläutern sucht:

Fern aus der Urne alles Heiligen
O Jüngling: von der Zeiten Gipfeln nieder,
Den unbetretnen, die der Himmel ewig
In Wolkenduft geheimnisvoll verhüllt.
Der ersten Mütter Wort entschied es also,
[…].

Die Totschlägerreihe, die hier entsteht und durch das ganze Werk zu verfolgen ist, geht auf bestimmte Denkweisen zurück, die vielfach solche des Rechtsdenkens, des bloß geschäftlichen Denkens oder eines rein instrumentellen Denkens sind – ausgerichtet auf berechenbare Zwecke, ohne echte menschliche Beziehungen. Um einen blanken Rechtsnihilismus handelt es sich keineswegs; denn mit etwas Positivem in solchem Rechtsdenken hat man es ohne Frage zu tun. Es beruht in dem, was aller Schriftlichkeit und aller schriftlichen Fixierung entgegengesetzt ist: in mündlicher Rede und im unmittelbaren personalen Bezug zu denjenigen, die Recht im eigentlichen Sinne des Wortes verkörpern. Nirgends deutlicher als in der Leidensgeschichte des Rosshändlers aus Kohlhaasenbrück, dem auf der Tronkenburg zweifellos Unrecht widerfahren war. Alle seine Versuche sind nicht nur darauf gerichtet, verletztes Recht wiederherzustellen, sondern darauf nicht zuletzt, Recht personal zu erfahren. Das ist am deutlichsten in einer Unterredung mit seiner Frau ausgesprochen, der er den Verkauf seines Hauses zu erläutern und zu begründen sucht; hier heißt es: „so habe ich mich entschlossen, meine Klage noch einmal, persönlich bei dem Landesherrn selbst, einzureichen“. Es folgt der Satz, der für den personalen Bezug in einem Rechtsdenken bezeichnend ist: „Der Herr selbst, weiß ich, ist gerecht; und wenn es mir nur gelingt, durch die, die ihn umringen, bis an seine Person zu kommen, so zweifle ich nicht, ich verschaffe mir Recht, und kehre fröhlich, noch ehe die Woche verstreicht, zu dir und meinen alten Geschäften zurück.“ Nicht darauf also kommt es offensichtlich an, dass Gesetzeswerke gerecht sind, sondern dass Rechtspersonen es sind. Das sind vermutlich rechtswissenschaftliche Unmöglichkeiten, die sich gleichwohl in dem rechtfertigen lassen, was sie dichterisch bedeuten; und in dieser Bedeutung sind sie möglicherweise auch nicht gänzlich ohne juristische Relevanz. Hinter Kleists gefordertem Personalbezug steht unverkennbar eine tief sitzende Angst vor der Anonymität der Bürokratie. Hier nimmt er wahr, was im Gebiet der schönen Literatur mit Deutlichkeit erst die Moderne wahrnimmt: dass Justizkritik mit Bürokratiekritik vielfach identisch ist; und nirgends deutlicher als im literarischen Werk Franz Kafkas zeigt es sich. Auf den Anteil der Bürokratie im Bereich des Strafrechts kommt auch Foucault in seinem Traktat Überwachen und Strafen gelegentlich zu sprechen. Er führt aus: „Der Vollzug der Strafe wird allmählich zu einem autonomen Sektor, welcher der Justiz von einem Verwaltungsapparat abgenommen wird; die Justiz befreit sich von diesem geheimen Unbehagen, indem sie die Strafe in Bürokratie vergräbt.“

Die Verwerfung schriftlich fixierter Gesetze und Verträge wird aus der Zeit heraus verständlich. Sie ist keineswegs zu verallgemeinern – Gesetze und Gesetzgeber wurden im Gegenteil vielfach verherrlicht wie lange Zeit im Denken Hölderlins, und nicht nur in seinem Fall war Rousseau als Schöpfer des Contrat social das Vorbild, an das man sich hielt. In einem Brief an Neuffer vom November 1791 werden Rechtsfragen über alles gestellt. Von einem Hymnus an die Menschheit ist die Rede, und anschließend heißt es: „Sonst hab‘ ich noch wenig gethan; vom großen Jean Jacque mich ein wenig über Menschenrecht belehren lassen, und in hellen Nächten mich an Orion und Sirius, und dem Götterpaar Kastor und Pollux gewaidet, das ists all!“ Noch 1797 wird die Mathematik begeistert herausgestellt – als die einzige Wissenschaft, die der möglichen Vollkommenheit des Naturrechts an die Seite zu setzen sei. Wörtlich heißt es in diesem Zusammenhang: „Ich beschäftige mich jetzt häufig mit dieser herrlichen Wissenschaft, und finde, um es noch einmal zu sagen, daß diese – und die Rechtlehre, wie sie werden kann und muß, die einzigen, in diesem Grade vollkommenen reinen Wissenschaften sind im ganzen Gebiete des menschlichen Geistes.“ Solcher Hochschätzung der Rechtslehre und des Naturrechts entspricht die Verehrung Rousseaus, den er in seiner Lyrik wiederholt feiert. Dagegen wird den Gesetzen in späterer Zeit nicht mehr vorbehaltlos vertraut. Gesetze und Staatsformen können sich vom Lebensstrom entfernen; sie können erstarren. „Dies erfährt Kreon in der ,Antigonae’, als er zu sehr Gottes Wesen als das eines Eingesetzten ehrt und ein Edikt absolut setzt […]“, führt Jochen Schmidt in einem Beitrag zu Hölderlins Spätwerk aus und fährt fort: „Kreon ist der Vertreter des Gesetzes, der positiven Vorschrift, Antigone dagegen wurzelt in der Sphäre […] der ungeschriebenen Gesetze des Herzen.“ Solchen Gegensätzen im Denken Hölderlins entspricht bei Kleist die Zurücksetzung schriftlich fixierten Rechts gegenüber dem Positivum der Unmittelbarkeit der Mündlichkeit und des personalen Bezugs.

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Schriftlich fixiertes Recht ist herrschendes Recht, wie es von vorhandenen Institutionen ausgeübt wird, die sich zu seiner Durchsetzung der Gewalt bedienen, über die sie verfügen. Diesen Institutionen gegenüber verhält sich Kleist von Anfang an misstrauisch und nicht selten ablehnend. Die in seinen Dramen wie in seinen Erzählungen erkennbare Gesellschaftskritik ist in hohem Maße Institutionenkritik, und sie ist es von Anfang an. Sie äußert sich wiederholt entschieden und radikal; so in einem 1801 in Paris geschriebenen Brief. Der Verlobten in Frankfurt an der Oder wird mitgeteilt:

Manches, was die Menschen ehrwürdig nennen, ist es mir nicht, vieles, was ihnen verächtlich scheint, ist es mir nicht. Ich trage eine innere Vorschrift in meiner Brust, gegen welche alle äußern, und wenn sie ein König unterschrieben hätte, nichtswürdig sind. Daher fühle ich mich ganz unfähig, mich in irgend ein konventionelles Verhältnis der Welt zu passen. Ich finde viele ihrer Einrichtungen so wenig meinem Sinngemäß, daß es mir unmöglich wäre, zu ihrer Erhaltung oder Ausbildung mitzuwirken. Dabei wüßte ich doch oft nichts Besseres an ihre Stelle zu setzen.

Veraltete Institutionen werden abgelehnt, aber neue sind nicht in Sicht. Fünf Jahre später hat sich in diesem Punkt kaum etwas geändert, wenn es im Brief an den Freund Rühle von Lilienstern heißt: „Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben.“ In solcher Kritik an den Institutionen des Rechts, der Justiz und der bestehenden Staatsformen unterscheidet sich Kleist grundlegend von der Literatur des 19. Jahrhunderts und der beginnenden Moderne, die eine nennenswerte Kritik dieser Art nicht kennt. In dem von Jörg Schönert herausgegebenen Sammelband Literatur und Kriminalität  wird diese fehlende Kritikfunktion ausdrücklich vermerkt: „Im Untersuchungszeitraum werden gesellschaftliche Basiswerte durch die Literatur im allgemeinen nicht kritisiert. Dagegen wird punktuelle Kritik an der Praxis der Rechtspflege geübt, für deren Fehlleistungen jedoch zumeist Einzelpersonen verantwortlich sind, nicht aber Defekte der Institutionen.“ Bei Kleist kann von fehlender Kritik im Gebiet des Rechts und der Justiz nicht die Rede sein. Am Ende des schrecklichen Geschehens in der Penthesilea steht der Staat der Amazonen zur Disposition, aber der Staat der Griechen nicht minder. Im Findling erscheint die ausübende Justiz des Kirchenstaates in höchst zweifelhaftem Licht, erst recht im Staat des sächsischen Kurfürsten, in dessen Ränken und Intrigen sich Kohlhaas verstrickt. Vielfach lässt die Kritik an den Institutionen der Kirche und ihrer Geistlichkeit nichts zu wünschen übrig. Aber vielfach werden auch Justiz und Kirche gemeinsam von Kritik nicht verschont, wenn sich Juristisches und Religiöses eigentümlich vermischen. Das betrifft vor anderem die Ausübung der Todesstrafe und ihre Vollstreckung.

Theologie und Jurisprudenz vermischen sich in Theorie und Praxis der Hinrichtung, im Ritual, das aus ihrer Geschichte nicht wegzudenken ist. „Das Fest der Martern“ lautet beziehungsreich eine Kapitelüberschrift in Michel Foucaults Buch Überwachen und Strafen, in dem der sakrale Charakter der Hinrichtung anschaulich beschrieben wird. Die Hinrichtung wird als eine Art Opferhandlung verstanden, wie sie ein Schweizer Rechtsphilosoph (Otmar Scheiwiller) deutet; vom Verbrecher sagt er: „Er ist nicht ein unnützes Glied der Gesellschaft, das wir abschlachten und mit der Miene des Ekels und der Verachtung wegwerfen, nein, er ist uns ein heiliges Opfer, das der sittlichen Ordnung Sühne leisten muss“. Nicht minder vermischen sich Juristisches und Theologisches im Gottesurteil, als einem Denkschema, das man auf die Welt des Mittelalters nicht beschränkt sehen muss. Auch später, noch im 18. Jahrhundert, konnte der Verurteilte begnadigt werden, wenn die Hinrichtung nicht gelungen war. Foucault folgert: „Noch lag in der Hinrichtungszeremonie eine Spur von Gottesurteil und Kampfgericht, wobei der Scharfrichter der Vorkämpfer des Königs war.“ Mit dem durch das Christentum legitimierten Gottesurteil des Mittelalters ist der Gedanke des Gottesgerichts verwandt, wie er noch in moderner Theologie fortwirkt, wenn vom „biblischen Gedanken des Gottesgerichts“ (Emil Brunner) gesprochen wird oder wenn Vorgänge des Weltlaufs als Gericht Gottes gedeutet werden. Die biblischen Bilder solcher Gottesgerichte heißen Sodom und Gomorrha. Beide Städte werden in Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili erwähnt, ganz im Sinne eines solchen Gottesgerichts und solchen Denkens. Die Gewalttätigkeiten als Folge solchen Denkens werden durch Sprache herbeigeführt. Es ist ein im Eifer handelnder Priester, der mit seiner Rede und seiner Beredsamkeit nach der Naturkatastrophe die menschliche Katastrophe herbeiführen hilft:

Er schilderte, was auf den Wink des Allmächtigen geschehen war; das Weitgericht kann nicht entsetzlicher sein; und als er das gestrige Erdbeben gleichwohl, auf einen Riß den der Dom erhalten hatte hinzeigend, einen bloßen Vorboten davon nannte, lief ein Schauder über die ganze Versammlung. Hierauf kam er, im Flusse priesterlicher Beredsamkeit, auf das Sittenverderbnis der Stadt; Greuel, wie Sodom und Gomorrha sie nicht sahen, straft‘ er an ihr; und nur der unendlichen Langmut Gottes schrieb er es zu, daß sie noch nicht gänzlich vom Erdboden vertilgt worden sei.

Solchen Gottesurteilen und solchen Gedanken der Gottesgerichte entzieht Kleist den theologischen Boden. Er zieht Gott sozusagen aus dem juristischen Alltagsverkehr. Sein Gott ist ein deus absconditus, und dies von Anfang an, wie schon das erste seiner Dramen zeigt. An der Figur des auf Vermittlung bedachten Sylvester wird es vor anderen deutlich:

                 Ich bin dir wohl ein Rätsel?
Nicht wahr? Nun, tröste dich, Gott ist es mir.

Er sieht sich unvermögend, das Unbegreifliche zu begreifen, obgleich er es begreifen möchte; denn er möchte wissen, was Gott nun eigentlich ‚will:

       […] Gott der Gerechtigkeit!
Spricht deutlich mit dem Menschen, daß ers weiß
Auch, was er soll!

Aber die Figuren in Kleists dichterischer Welt erfahren gerade nicht, wie Gott denkt, urteilt und straft. Die Eindeutigkeit, die sie sich erhoffen, wird ihnen versagt. Auch außerhalb der Dichtung sind solche Vorstellungen bezeugt, wenn es 1806 in gleichlautenden Briefen an Karl Freiherrn von Stein zum Altenstein und an den Freund Otto August Rühle von Lilienstern heißt: „Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht; es ist ein bloß unbegriffener!“ Wenn man solche Denkschemata und Glaubensmodelle als Rechtstheologie bezeichnen kann, so betreiben nicht wenige Texte Kleists eine Entmythologisierung dieser Theologie, und sofern sich diese auf Todesstrafe und Hinrichtungen beziehen, wird Kritik in zweifacher Weise vernehmbar: als Kritik an den Institutionen der Kirche und der die Herrschaft ausübenden Geistlichkeit. Sodann aber am Widersinn solchen Denkens, sofern es sich um christliches Denken handelt.

Solchen Widersinn deckt zumal die Erzählung Der Findling auf. Dem Kaufmann Piachi ist der Umgang seines Adoptivsohnes mit den Mönchen des Karmeliterklosters suspekt, weil er zu Recht befürchtet, dass sie es in erster Linie auf sein Vermögen abgesehen haben. In demselben Staat herrscht ein Gesetz, so erfahren wir, „nach welchem kein Verbrecher zum Tode geführt werden kann, bevor er die Absolution empfangen“. Die Art, wie der von seiner Rache besessene Kaufmann sie verweigert, bringt die amtierende Justiz in Verlegenheit, und mitten im Bereich des Hinrichtungszeremoniells wird Komik vernehmbar, denn die Anstrengungen, die man macht, damit dem Gesetz Genüge geschieht, nehmen sich verzweifelt aus. In diesem Zusammenhang wird gesagt, dass einer der Priester dem Verurteilten die Schrecken der Hölle schildert; er schildert sie „mit der Lunge der letzten Posaune“, wie es in einem schon fast humoristischen Ton heißt, während der andere ihm „die Wohnungen des ewigen Friedens“ pries. Der Widersinn von gesetzlich geregelter Absolution und staatlichem Töten ist evident, und um einen solchen ist es Kleist offensichtlich zu tun. Im Erdbeben in Chili wird der Widersinn in der Handhabung der Todesstrafe mit außerordentlich kritischer Schärfe beleuchtet, und spätestens hier sollte sich die Legende von der Gelassenheit und dem unbeteiligten Vortrag erledigen; denn die Rede von den frommen Töchtern der Stadt ist ironische Rede des Erzählers, der von außen her urteilt, indem er so spricht, wie er spricht. Auf zwei Begleiterscheinungen im Hinrichtungszeremoniell ist die hier geübte Kritik in Formen ironischer Rede vor allem gerichtet: auf die abgestuften Todes- oder Tötungsarten, die es gibt, ehe in den meisten europäischen Staaten nach der Französischen Revolution gleicher Tod für alle gesetzlich eingeführt wird; und auf das öffentliche Schauspiel der Hinrichtung, wie es sich bis ins 20. Jahrhundert hinein zu erhalten vermochte.

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Zur Bezeichnung der unterschiedlichen Tötungsarten gibt es einen semantischen Reichtum der Begriffe, der betroffen macht. In einer kritischen Untersuchung zur Todesstrafe führt Dieter Keller aus:

Es schadet nichts, sich die verschiedenen Hinrichtungsarten einmal vor Augen zu halten: Kreuzigen, Gabeln, Herabstürzen vom Felsen, Erdrosseln im Kerker, Ersticken im Schlamm, Totgeißeln, Steinigen, Eiserne Jungfrau, Enthaupten, Erhängen, Rädern, Vierteilen, Lebendigverbrennen, Lebendigvergraben, Ertränken oder Säcken, Pfählen, in Öl sieden, Erwürgen oder Garottieren, Erschießen, Eingießen von flüssigem Blei in den Mund […].

Diese Aufzählung ist so eindrucksvoll wie schrecklich. Auch Foucault führt auf, was alles es gibt, indem er aus einem 1762 in Frankreich erschienenen Traktat der Verbrechen zitiert:

Die Todesstrafe umfaßt alle Arten des Todes: die einen werden zum Tod durch Erhängen verurteilt; anderen wird die Hand abgeschlagen oder die Zunge abgeschnitten oder durchbohrt und dann werden sie erhängt; für schwerere Verbrechen werden andere bei lebendigem Leib gerädert und ihnen dann die Glieder zerschlagen; wieder andere werden so lange gerädert, bis sie eines natürlichen Todes sterben; andere werden erdrosselt und anschließend gerädert; wieder andere werden bei lebendigem Leibe verbrannt oder zuerst erdrosselt und dann verbrannt; einigen wird die Zunge abgeschnitten oder durchbohrt und sie werden dann lebendig verbrannt; andere werden mit Pferden gevierteilt; wieder anderen wird der Kopf abgeschlagen und zertrümmert.

Das ist „Wirklichkeitsliteratur“, die das Dichterische hinter sich lässt. Wenn man indessen bedenkt, dass Kleist als Dichter der Dichtung einiges schuldet, so zeigt sich rasch, dass sein Werk einer solchen Wirklichkeitsliteratur nicht so fern steht. Über das erste ergangene Urteil im Verfahren gegen Michael Kohlhaas wird gesagt: „so ward er verurteilt, mit glühenden Zangen von Schinderknechten gekniffen, gevierteilt, und sein Körper, zwischen Rad und Galgen, verbrannt zu werden“. Es kommt schließlich nicht ganz so schlimm, aber doch noch immer schlimm genug. Was Littegarde und Friedrich von Trota im Zweikampf zu erwarten gehabt hätten, wenn es nicht anders gekommen wäre, ist dieses: „Inzwischen war, vor dem zu Basel von dem Kaiser eingesetzten Tribunal, gegen Herrn Friedrich von Trota sowohl, als seine Freundin, Frau Littegarde von Auerstein, die Klage wegen sündhaft angerufenen göttlichen Schiedsurteils eingeleitet, und beide, dem bestehenden Gesetz gemäß, verurteilt worden, auf dem Platze des Zweikampfs selbst, den schmählichen Tod der Flammen zu erleiden.“ Dass hier eine Tötungsart als schmählich bezeichnet wird, zeigt an, dass es andere gibt, die als weniger schmählich, als weniger entehrend angesehen werden. Der Tod durch das Schwert – und später durch das Fallbeil – gilt als eine „ehrenhafte“ Tötungsart und als ein „Fortschritt“ in der Geschichte der Todesstrafe obendrein. Entsprechende Abstufungen kennt auch Kleist. Im Erdbeben in Chili wird das zunächst verhängte Urteil des Feuertodes durch einen Machtspruch des Vizekönigs – nicht des regierenden Erzbischofs – in eine Todesstrafe durch Enthauptung umgewandelt – „zur großen Entrüstung der Matronen und Jungfrauen von St. Jago“. Auch im Michael Kohlhaas gibt es Abstufungen dieser Art und gibt es die ehrenhafte Tötungsart im Akt der Vollstreckung, wenn es heißt:

Demnach traf es sich, daß grade am Tage der Ankunft des Kämmerers, das Gesetz über ihn sprach, und er verurteilt ward mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht zu werden; ein Urteil, an dessen Vollstreckung gleichwohl, bei der verwickelten Lage der Dinge, seiner Milde ungeachtet, niemand glaubte, ja, das die ganze Stadt, bei dem Wohlwollen, das der Kurfürst für den Kohlhaas trug, unfehlbar durch ein Machtwort desselben, in eine bloße, vielleicht beschwerliche und langwierige Gefängnisstrafe verwandelt zu sehen hoffte.

Todesstrafen, die weniger ehrenrührig sind, und solche, die eine gewisse Humanisierung gewährleisten, gibt es ja in der Tat. Man spricht in solchen Fällen gern von milden Todesstrafen, und sehr viel kommt darauf an, ob man solche Redeformen und Rechtfertigungen wörtlich nimmt oder den Widersinn in der Denkungsart vernehmbar macht, der hier vorliegt. In dem kurzen Beitrag Ein Wort über das Alter der Guillotine rechtfertigt Lichtenberg die damals neue Tötungsart:

Der Lyoner Arzt Jean Baptiste Guillotin wird gewöhnlich, und wie ich glaube, mit Recht, für den Erfinder der berüchtigten Maschine gehalten, durch die er selbst am 14. März 1794, weil er einer verdächtigen Korrespondenz mit Turin beschuldigt wurde, sein Leben endigen mußte. Des Mannes Absicht war gut, denn, wenn doch einmal Köpfe abgeschlagen werden sollen, so ist nicht leicht eine vollkommenere Maschine zu dieser Absicht möglich, als die Guillotine.

Die Rechtfertigung wird hier mit dem Vorbehalt versehen, der mit dem Nebensatz – „wenn doch einmal Köpfe abgeschlagen werden sollen“ – auch sprachlich unüberhörbar zum Ausdruck gebracht wird. Auch in Kleists Michael Kohlhaas ist von Milde des Urteils die Rede – „seiner Milde ungeachtet“ –‚ aber der Widersinn ist gleichwohl vernehmbar, wenn gesagt wird, dass niemand an die Vollstreckung des Urteils glaubte.

Eine zweite Begleiterscheinung betrifft das Schauspiel, das man veranstaltet, wenn Hinrichtungen stattfinden. Der kritische Ton ist kaum zu überhören, wenn Kleist im Erdbeben in Chili schildert, was geschehen soll und fast geschehen wäre:

Man vermietete in den Straßen, durch welche der Hinrichtungszug gehen sollte, die Fenster, man trug die Dächer der Häuser ab, und die frommen Töchter der Stadt luden ihre Freundinnen ein, um dem Schauspiele, das der göttlichen Rache gegeben wurde, an ihrer schwesterlichen Seite beizuwohnen.

Dass wir es mit keinem unbeteiligten Erzähler zu tun haben, deutet sich in der Wendung von der göttlichen Rache an, die den Widersinn offenkundig macht; und alles spricht dafür, dass auch die „schwesterliche Seite“ und die „frommen Töchter“ nicht wörtlich, sondern ironisch aufzufassen sind. Zur Hinrichtung gehört der prozessionsartige Hinrichtungszug, ein Zeremoniell, in dem sich religiöse Feier mit strafrechtlicher Jurisprudenz verbindet. Auch das Vermieten der Fenster wird von der geschichtlichen Wirklichkeit bestätigt. Casanova handelt davon in seinen Memoiren. Bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts werden solche Schauspiele veranstaltet, und noch im 20. Jahrhundert sind sie bezeugt.

Auch die Hinrichtung des Rosshändlers Kohlhaas in Kleists Novelle hat man sich als eine Art Schauspiel zu denken, obgleich ihm der Racheakt als sein letzter Akt deutlich untergeordnet wird: das Geschehen, dass er in Anwesenheit des sächsischen Kurfürsten den Zettel verschlucken wird, um diesem wehzutun. Der öffentliche Charakter des Schauspiels wird daher eher beiläufig erwähnt: „Eben knüpfte er sich das Tuch vom Hals ab und öffnete seinen Brustlatz: als er, mit einem flüchtigen Blick auf den Kreis, den das Volk bildete, in geringer Entfernung von sich [ … ] den wohlbekannten Mann mit blauen und weißen Federbüschen wahrnahm“. Als eine „poetische Zutat“, die vermutlich in keiner historischen Quelle zu belegen sein dürfte, hat man anzusehen, was im Zusammenhang dieser Hinrichtung außerdem geschieht: dass der Verurteilte in einen Sarg gelegt und „anständig“ auf einem Friedhof begraben wird; und während dies alles geschieht, „rief der Kurfürst die Söhne des Abgeschiedenen herbei und schlug sie, mit der Erklärung an den Erzkanzler, dass sie in seiner Pagenschule erzogen werden sollten, zu Rittern“. Wir sind damit als Leser zu Zeugen einer der merkwürdigsten Hinrichtungen geworden, die man sich denken kann, und spätestens hier stellt sich die Frage, wie wir sie verstehen sollen; wie man die Todesstrafe zu verstehen hat, die vollstreckt wird, und mehr noch: wie Kleist selbst sie verstanden hat, wenn sie so dargestellt wird, wie es der Fall ist.

Das betrifft die Schlüsselfrage, wie man sie bezeichnet hat: diejenige „nach der Schuld oder Unschuld des Helden und damit, in Folge davon, nach der Angemessenheit seiner Bestrafung: rechtfertigen seine kriminellen Handlungen die gerichtliche Verhängung der Todesstrafe?“ (Adolf Fink) Kleist ist als Erzähler kein Historist; das Historische ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zu erzählerischen Zwecken. Darüber hinaus bedeutet die Feststellung, die Todesstrafe werde zu Recht verhängt und vollstreckt, wenigstens partiell das Einverständnis des Interpreten mit ihr, der solches womöglich auch dem Dichter Kleist unterstellt. Eben diese Unterstellung, hier werde zu Recht zum Tode verurteilt, geschieht nicht zu Recht, sieht man auf den Verlauf der Handlung. Dass sie sich von der künstlerischen Form her rechtfertigen lässt, steht auf einem anderen Blatt. Es steht fest: Dieser Rosshändler hat sich schrecklicher Gewalttaten schuldig gemacht; er hat getötet, das Land mit Brandschatzung überzogen und einen lediglich privaten Krieg entfacht, auf den damals wie heute vielerorts die Todesstrafe zu erkennen war oder zu erkennen wäre. Aber gegen die Verhängung der Todesstrafe und gar gegen ihre Vollstreckung spricht, dass ihm Amnestie zugesichert ist – nicht bloß freies Geleit; und nicht irgendeine Amnestie, sondern eine solche, die ihm feierlich angelobt worden war:

Kohlhaas fragte: ob er ein Gefangener wäre, und ob er glauben solle, daß die ihm feierlich, vor den Augen der ganzen Welt angelobte Amnestie gebrochen sei? worauf der Freiherr sich plötzlich glutrot im Gesichte zu ihm wandte, und, indem er dicht vor ihn trat, und ihm in das Auge sah, antwortete: ja! ja! ja! – ihm den Rücken zukehrte, ihn stehen ließ, und wieder zu den Nagelschmidtschen Knechten ging. 

Das schlechte Gewissen dieses Freiherrn wird damit zum Ausdruck gebracht. Der Einwand, dass das Urteil vom Kaiser selbst gesprochen werde, der an eine Amnestie nicht gebunden sei, kann nicht verfangen, da dieses Urteil ohne die Machenschaften im Umkreis des sächsischen Kurfürsten nicht zustande gekommen wäre. Diese Machenschaften sind weitreichend. Sie schließen Rechtsverdrehungen, „Wendungen arglistiger und rabulistischer Art“, Verschleppungen der Rechtssache und anderes ein. An diesen Machenschaften sind die Herren Hinz und Kunz, die negativen Jedermanns im Gebiete des Rechts, maßgeblich beteiligt. Kohlhaas gerät in die Mühlen einer Justiz, die Recht manipuliert. Er ist für seine Rechtsbrüche im Grunde schon bestraft, ehe er bestraft wird. Sein Wille ist längst gebrochen, und seine Seele ist von Gram sehr gebeugt: er will daher mit seinen Kindern das Land verlassen; und keineswegs ist er von Rache besessen, sondern mehrfach zu Vergebung bereit. Andererseits ist das Vorgehen der Gegenpartei nicht frei von Rachemotiven, indem man sich der Mittel des Rechts bedient. Dass nach der erfolgten Mordbrennerei und nach der zeitweiligen „Verrückung“ vieles für den Rosshändler spricht und vieles gegen seine Verfolger, bestätigt unmissverständlich der brandenburgische Kurfürst, wie er hier geschildert wird: Als er von den Unziemlichkeiten des Erzkanzlers und von dessen Verwandtschaft Kenntnis erhält, lässt er ihn entsetzen. Dem Rosshändler Gerechtigkeit zu verschaffen, ist er entschlossen; und dem sächsischen Hofe wird mitgeteilt, „daß man die Vollstreckung des […] Todesurteils für eine Verletzung des Völkerrechts halten würde“. Das ist, obgleich nicht ganz ungetrübt, die lichte Seite dieser Rechtsgeschichte. Schließlich bestätigen die Begleitumstände der Hinrichtung, dass hier Recht nicht durchweg zu Recht gesprochen wurde: Entgegen sonnigem Gebrauch wird Kohlhaas, wie ausgeführt, anständig begraben, und seine Söhne werden zu Rittern geschlagen, womit partiell das Rechtsvergehen und partiell sein berechtigtes Vorgehen anerkannt werden. Damit sind aber auch der Erzählschluss und die hier vollstreckte Todesstrafe künstlerisch gerechtfertigt. Wo das Recht verdreht wird, ist der Rückfall in den „vorrechtlichen“ Zustand der Rache die Folge; bei Kleist schon dort, wo man, wie in der Familie Schroffenstein oder im Findling, das Recht über alles setzt und ihm übermäßig vertraut; und ein solcher, der dem Recht, so wie es gehandhabt wird, über Gebühr vertraut, ist auch dieser Kämpfer ums Recht in Kleists Erzählung. Mit der gebrechlichen Einrichtung der Welt ist er nicht hinreichend, sondern nur teilweise vertraut. Aber solche Kenntnis kann nicht dazu verleiten, dass Rechtsbrüche und Rechtsverdrehungen ungeahndet bleiben: in der Art, wie Kohlhaas glanzvoll zum Tode verurteilt wird, wird ihm wenigstens partiell das Widerstandsrecht zuerkannt, das die Bereitschaft zum Tode einschließt. Es ist eine Art tragischer Gebrochenheit, die mit dem Erzählschluss zum Ausdruck gebracht wird. Ein Einverständnis Kleists mit der Todesstrafe ist aus diesem Schluss nicht herauszulesen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag basiert auf einem etwas gekürzten und geringfügig modifizierten Abschnitt aus Walter Müller-Seidel: Todesarten und Todesstrafen. Eine Betrachtung über Heinrich von Kleist. In: Kleist-Jahrbuch (1985), S. 7-38. Die Fußnoten und Zitatbelege wurden nicht übernommen. Der vollständige Aufsatz erscheint voraussichtlich 2016 in einer von Gunter Reiß herausgegebenen Sammlung von Aufsätzen Müller-Seidels, die dieser zu Lebzeiten unter dem Titel „Rechtsdenken im literarischen Text. Zur deutschen Literatur von der Weimarer Klassik zur Moderne“ zur Veröffentlichung vorgesehen hatte. Wir danken den Urheberrechtsinhabern für die freundliche Genehmigung zur Publikation in literaturkritik.de.