1945 – der „bittere Sieg“

Polen und die Befreiung

Von Krzysztof RuchniewiczRSS-Newsfeed neuer Artikel von Krzysztof Ruchniewicz

Unter dem Datum 8. Mai 1945 notierte der aus Zamość stammende polnische Arzt Zygmunt Klukowski, Historiker und Mitglied des polnischen Untergrunds während des 2. Weltkrieges, in sein Tagebuch:

Die Deutschen haben kapituliert! In der letzten Zeit waren wir zu bereits zu der Überzeugung gekommen, dass dies ihre letzten Tage sind. Die Information über die endgültige Niederschlagung des Erzfeindes hat auf uns nun nicht mehr den besonderen Eindruck mehr gemacht, den wir uns erhofft hatten. Mit unseren Gedanken sind wir längst anderswo: kommt es zum Konflikt zwischen Russland und England und Amerika? Alles scheint dafür zu sprechen, dass dieser Konflikt unvermeidlich ist. In welcher schwierigen Situation befinden wir uns jetzt? Obschon – im Endergebnis könnte das Polen große Vorteile bringen.

Ähnliche Äußerungen finden wir in diesen Tagen zuhauf. Diejenigen, die die laufenden Ereignisse in eher weiter Perspektive gesehen haben, neigten nicht zu Euphorie über das Ende des Zweiten Weltkrieges, obschon sie wegen der Beendigung der deutschen Okkupation eine gewisse Erleichterung empfanden. Für Klukowski und für viele Polen war klar, dass der Krieg mit Deutschland zwar beendet, die Situation in diesem Teil Europas jedoch nach wie vor von Konflikt und Gewalt gekennzeichnet war.

Die Zukunft war unsicher, praktisch unvorhersehbar. Dieses Dilemma brachte der Tagebuchautor Klukowski einen Tag später zum Ausdruck. Unter dem Datum des 9. Mai  findet man folgenden Eintrag:

Um zwei Uhr weckte uns eine stürmische Schießerei – die Maschinenpistolen schossen serienweise aus unterschiedlichen Seiten, später waren einzelne Schüsse zu hören, Granaten, Serien aus den leichten Kanonen […]. Wir wussten nicht, was das bedeutet. Wir dachten, dass es sich vielleicht um einen größeren Überfall auf die Militär- und Flughafenobjekte handelte. Erst das Telefon von der Post klärte uns die ganze Sache auf: es waren die Salven auf den siegreichen Abschluss des Krieges mit Deutschland […]. Auf diese Weise wendete sich die große Karte der Geschichte. Es fällt schwer sich bewusst zu machen, dass ein großes, stolzes und – wie es schien – unbesiegbares Deutschland zu Füßen der Sieger liegt und um Erbarmen bettelt. Wir beginnen eine neue Zeit. Für uns ist das eine große Unbekannte. Vielleicht wird diese Phase schwieriger sein als die vorangeganene?!

Die Stimmung dieses Eintrags unterscheidet sich stark von der bedingungslosen, spontanen Freude der Bewohner Westeuropas, die in diesen Tagen massenweise auf die Straßen gingen und den Sieg mit Jubel und Gesang feierten. Woher kamen diese neuen Ängste?

Polen kam aus Krieg und Okkupation nur mit großen Verlusten und unklaren Perspektiven für die Zukunft heraus. Ungefähr sechs Millionen Staatsbürger hatten ihr Leben verloren, eine große Zahl von Menschen blieb körperlich, teilweise auch geistig für ihr weiteres Leben behindert. Die Waisenhäuser waren überfüllt. Über 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung hatte das Leben verloren – das jahrhundertalte Zusammenleben mit den polnischen Juden war praktisch beendet. Fast ein Drittel der polnischen Intelligenz war ermordet worden.

Polen war in den ersten Kriegsjahren von zwei Besatzungsmächten, NS-Deutschland und der UdSSR (1939–1941), okkupiert worden. Jeder dieser beiden Staaten hatte in den besetzten Gebieten eine andere gesellschaftliche und wirtschaftliche Politik umgesetzt, die aber in beiden Fällen von einer totalitären Ideologie getragen war. Gemeinsame Elemente waren der Terror und der Einsatz der Bevölkerung zur Zwangsarbeit. Der Großteil der Großstädte wurde zerstört. Die Hauptstadt Polens, Warschau, lag am Ende in Schutt und Asche, seine Bevölkerung ist getötet oder vertrieben worden. Als im Januar 1945 die sowjetischen und polnischen Einheiten in die Hauptstadt Warschau einmarschierten, begrüßten sie nur die Stille und die Leere der Ruinen. Erst allmählich begannen die Einwohner zurückzukehren. „Eine eigenartige, weitreichende Information über den Sieg erfuhr ich unter diesen Ruinen“, schrieb die Schriftstellerin Zofia Nałkowska  am 9. Mai 1945 in ihr Tagebuch, „die eine Stadt sind und Warschau sind – als wären sie mit feiner Hand von Utrillo gezeichnet, in einer leichten, buntstiftartigen, schwarz-weißen Todesskizze. Man kann die einstigen Straßen noch erkennen. Es reicht, von einer weit entfernten Perspektive aus hinzusehen, um zu denken, dass nichts passiert sei, dass diese Formen noch mit Leben gefüllt seien.“

Die Zerstörung Warschaus war nicht der einzige Verlust im urbanen und kulturellen Gewebe Polens. Unwiederbringlich verlor Polen zwei wichtige Metropolen im Osten, Wilno / Wilnius und Lwów / Lemberg, die in der polnischen Geschichte eine wichtige Rolle gespielt hatten. Der Verlust dieser wichtigen Zentren war die Bestätigung jener Annexionen, die die UdSSR in Umsetzung des Hitler-Stalin-Pakts mit der Aggression gegen Polen im September 1939 durchgeführt hatte. Das Territorium Polens hatte zuvor 388.000 km2 betragen. Die UdSSR okkupierte 1939 davon cirka 180.000 km2. Heute fällt es schwer, sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn Polen im Westen nach dem Krieg keine „Entschädigung“ von etwa 108.000 km2 auf Kosten Deutschlands bekommen hätte. Das Land wurde dadurch um ungefahr 200 bis 300 km von Osten nach Westen verschoben.

Um die Ausmaße dieser Veränderungen dem deutschen Publikum besser zu verdeutlichen, unternahm der bekannte polnische Zeithistoriker und Co-Direktor des Imre Kertész-Kollegs in Jena, Włodzimierz Borodziej, folgenden Vergleich:

Ein 1945 keineswegs abstraktes Gedankenspiel mag weiterhelfen: Es genügt sich vorzustellen, Stalin hätte beschlossen, die Slowakei zur 17. Sowjetrepublik zu machen. Der Rest der Tschechoslowakei hätte irgendwie entschädigt werden müssen, logischerweise mit deutschen, in diesem Fall also fränkischen bzw. bayerischen Gebieten. Bamberg, Nürnberg oder auch Regensburg wären heute tschechisch – genauso selbstverständlich, wie Stettin und Breslau heute polnisch sind.

Der Verlust der Gebiete im Osten und die Verschiebung Polens nach Westen übte auf die Nationalitätenverhältnisse in Polen einen enormen Einfluss aus. Die Juden waren größtenteils ermordet worden. Litauer, Weißrussen und die Ukrainer fanden sich größtenteils außerhalb der neuen Grenzen Polens in der UdSSR wieder (nominell in den nationalen sowjetischen Republiken). Aus unterschiedlichen Gründen blieb dort auch ein Teil der polnischen Bevölkerung hängen. Andere migrierten – manchmal freiwillig, oft gezwungen – in den Westen und wurden so Teil eines umfassenden Bevölkerungsaustausches.

Die in Polen verbliebenen Vertreter nationaler Minderheiten, darunter über 500.000 Ukrainer, wurden in den folgenden Monaten jenseits des Bug und San über die neue Ostgrenze Polens deportiert. Ein ähnliches Schicksal traf die Deutschen, die aus dem Gebiet Polens und der sogenannten „Wiedergewonnenen Gebiete“ (der ehemaligen deutschen Ostgebiete) vertrieben beziehungsweise ausgesiedelt wurden. Ungefähr 3,5 Millionen Deutsche mussten Polen verlassen.

Zum ersten Mal in seiner Geschichte war Polen dadurch zu einem national homogenen Staat geworden. Zwangsaussiedlung als Instrument der Homogenisierung war jedoch nicht grundsätzlich neu. Das Vorbild waren NS-Deutschland und die UdSSR sowie ihre Politik der „ethnischen Säuberungen“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wendete sich diese Politik gegen die Deutschen. Unter dem Eindruck der Kriegserfahrungen hielt man die zwangsweise Abschiebung unerwünschter Minderheiten für notwendig. Polnische Proteststimmen gegen diese Politik und die Art und Weise ihrer Umsetzung sind nicht bekannt. Hass und nationale Feindschaft feierten so auch nach dem Kriegsende noch Triumphe. Nicht nur die deutsche Bevölkerung hat diese Periode negativ in Erinnerung, diese Politik betraf auch andere Nationalitäten (wie die Ukrainer). Aber auch die aus den ehemals polnischen Ostgebieten umgesiedelten Polen hatten oft Gewalt seitens der Sowjetmacht erlebt. Die Angst vor dieser bebte noch lange nach.

Infolge des Zweiten Weltkrieges veränderte sich ebenso die internationale Rolle Polens grundlegend, wie es zuvor niemand aus dem Kreis der polnischen Eliten hatte voraussehen können. Von Anfang an hatte Polen der Anti-Hitler-Koalition angehört; trotz der vollständigen Okkupation seines Territoriums hatte im Land ein Untergrundstaat mit eigenen Strukturen existiert. Im westeuropäischen Exil waren polnische Exil-Streitkräfte entstanden, die während des Krieges an unterschiedlichen Fronten mitgekämpft hatten. Im Laufe des Krieges hatte Polens Bedeutung als Verbündeter jedoch stetig abgenommen. Mit dem Beitritt der UdSSR zum Krieg gegen Hitler und zur Anti-Hitler-Koalition wurde Polen schließlich ein Opfer auch der Politik der Alliierten. Nach 1943 hörte Polen auf, politisch eine selbständige Rolle zu spielen. Für die Westmächte verwandelte es sich in eine unbequeme Last.

Auf krasse Weise wurde diese Situation im Jahre 1945 sichtbar, als das Schicksal Polens auf der Kippe stand. Polen war kein Teilnehmer der großen internationalen politischen Konferenzen, vom Subjekt wurde es schon in Teheran zum Objekt der Entscheidungen. Dieser Rückgang der Bedeutung Polens für die Westmächte war Folge einer wirksamen,  rücksichtslosen und gezielten Politik Josef Stalins. Seit 1943 hatte er ein eigenes polnisches politisches System im nun sowjetischen Exil aufgebaut, das in Opposition zu der bestehenden, legalen Struktur der polnischen Exilregierung in London stand. Der sich in die Länge ziehende Krieg erleichterte dann die Realisierung der expansiven Pläne Stalins. Der Westen war bereit, einen hohen Preis zu zahlen, um das Blut seiner Armeen zu schonen. Immer größere Verluste Polens im Kampf mit den deutschen Okkupanten schwächten zugleich das Land, während der neue Hegemon dieses Teils von Europa an der Front immer näher rückte.

Schon im Juli 1944 gelang es Stalin, in Chelm die Keimzelle eines künftigen kommunistischen Polens zu etablieren. Von internationaler Anerkennung hielt er nicht viel, er setzte auf eine Politik der Schaffung vollendeter Tatsachen. Ein großer Schlag für die polnische Frage auf internationaler Ebene war die Niederlage des Warschauer Aufstandes und der Tod von fast 200.000 Menschen (in den Ruinen der Hauptstadt blieben die Leichen von etwa 18.000 getöteten Aufständischen sowie der zwischen 150.000 und 200.000 zivilen Opfer zurück). Dieser groß angelegte Akt des militärischen Widerstands gegen die Deutschen erwies sich als sinnlos, weil die Rote Armee am gegenüberliegenden Ufer der Weichsel abwartete, bis die Deutschen den Aufstand niedergeschlagen hatten, um dann von ihnen die besiegte, weitgehend zerstörte und entleerte Stadt zu übernehmen.

Auch verschiedene Formen vereinbarter Zusammenarbeit mit der Roten Armee bei militärischen Aktionen erwiesen sich als sinnlos, wovon sich die Divisionen der im Untergrund gebildeten polnischen Heimatarmee in den Kresy, den polnischen Ostgebieten, sehr schnell überzeugen konnten: Sie kämpften letztlich nur für Stalin, der keine seiner Zusagen einhielt.

Mit der Roten Armee kooperierte immerhin die polnische Kościuszko-Division, die in der UdSSR formiert worden war. Nach dem Überschreiten der ursprünglichen polnischen Ostgrenze von 1939 wurden zusätzliche Einheiten aufgestellt. Sie sollten als Nachweis für die Existenz von Milieus dienen, die sich für eine enge Zusammenarbeit mit der UdSSR einsetzten. Sie nahmen an den Kämpfen um Kolberg, Bautzen und schließlich Berlin teil. Vom militärischen Gesichtspunkt aus spielten diese Einheiten keine große Rolle. Es ist allerdings betonenswert, dass die einfachen Soldaten tapfer und mit Aufopferung gekämpft haben, ohne zu wissen, für welches politische Projekt ihre Anstrengung und ihr Opfermut missbraucht wurde. „Die Sowjets machten alles“ schlussfolgert Jan Szkudlinski, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Museums des Zweiten Weltkrieges in Danzig, „um den Polen und der Welt zu zeigen, dass nun sie Polen regieren, dass die legale polnische Regierung auf den von der Roten Armee besetzten Gebieten tätig ist und nicht in London. Die Teilnahme der polnischen Einheiten an der Eroberung Berlins war ein Element dieser Kampagne. Man muss die politische Frage von der Teilnahme der einfachen Soldaten unterscheiden, die an dem Kampf gegen die Deutschen seit 1939 teilgenommen haben. Für sie war das ein großer Sieg.“

Von Monat zu Monat begann die Gruppe der polnischen Kommunisten unter dem Schutz der Bajonette der Roten Armee und des NKWD ihre Macht in Polen stärker zu festigen. Schnell wurde ein Terrorapparat geschaffen und die ersten grundlegenden politischen Reformen durchgeführt. Die politischen Gegner und die alten Eliten wurden eliminiert. Die Konferenzen der großen Drei erst in Jalta, dann in Potsdam, bestätigten die Politik Stalins in Ostmittel-Europa. Obschon Polen zu den Sieger-Staaten gehörte, nahm es an der UNO-Gründungskonferenz in San Francisco am 27. Juni 1945 nicht teil (erst einige Monate später konnten die Vertreter der Vorläufigen Regierung der Nationalen Einheit die UNO-Charta unterschreiben). Die Abwesenheit Polens auf dieser wichtigen internationalen Konferenz war eine Bestätigung der unklaren Situation Polens: Die polnische Exilregierung hatte die Anerkennung der Westmächte verloren. An der schließlich zunächst gebildeten neuen Koalitionsregierung in Warschau waren in Übereinstimmung mit den Beschlüssen von Jalta neben den Kommunisten und ihren Satelliten zwar durchaus einige wichtige Exilpolitiker beteiligt, an ihrer Spitze der ehemalige Premierminister Stanislaw Mikołajczyk. Die Praxis zeigte trotz dieses Scheins einer breiten Vertretung der polnischen Exilregierung jedoch bald, dass die Macht in Polen in den Händen der Kommunisten war, die durch Moskau unterstützt wurden.

Symbolischer Ausdruck des Verlustes der internationalen Position Polens war das Fehlen von Vertretern der polnischen Exil-Armee im Westen während der Siegesparade in London im Jahre 1946. Obschon der Westen sich immer mehr von den Nachkriegszielen des Kremls distanzierte, vertrat er nach wie vor die Meinung, dass eine öffentliche Betonung des polnischen Beitrags zum Sieg über NS-Deutschland eine unnötige Provokation Stalins darstellte.

Die polnische Gesellschaft war im Frühling des Jahres 1945 kriegsmüde. „Rückkehr zur Normalität“ war ein verbreiteter Traum. Allerdings gab es oft keinen Weg zurück. Millionen von Menschen hatten ihre Angehörigen verloren, ihre Häuser und Wohnungen waren zerstört, oft fehlten alle Einnahmequellen, viele hatten den Verlust ihrer Heimat zu beklagen. Auf den Straßen waren Aus- und Umsiedler, Marodeure, Schieber, aber auch verzweifelte Durchschnittsbürger in großer Zahl unterwegs, die nach einem neuen Leben suchten. Die Staatsorgane, soweit sie bereits wieder existierten, waren schwach und oft korrupt.

Die schwierige Situation, in der sich die Polen 1945 wiederfanden, macht ein Gedicht des Dichters und Auschwitz-Häftlings Tadeusz Borowski deutlich. Seine Sprache ist von Siegeseuphorie weit entfernt:

Und wir – einzeln, bei Nacht und Nebel
Über die grüne Grenze auf verbotenem Weg
Träumen wir uns ins Heimatland
Nach Hause zu den Gräbern
Wir suchen und finden niemanden
Wir schauen und schauen in fremde Gesichter
Wir schweigen, doch jeder weiss es
Ja …
Leise flüstert jemand: NKWD
Angst

Marcin Zaremba, ein Zeithistoriker der mittleren Generation, nutzte dieses Gefühl tiefer Angst, ja Furcht als Leitmotiv eines Buches über diese Zeit. Auf  überzeugende und erschütternde Art und Weise zeigt er die Einstellungen der Polen in dieser Umbruchszeit. Erst nach vielen Jahren nahm die Kriegs- und Nachkriegsangst wieder ab. An deren Stelle traten aber neue Ängste, die mit dem Leben im sogenannten Realsozialismus verbunden waren.

Obschon die polnischen Kommunisten die Macht übernommen hatten, ist es ihnen nie gelungen, ein gut funktionierendes System zu etablieren und das Versprechen von Gleichheit und Gerechtigkeit einzulösen. Das Modell des sowjetischen Kommunismus erwies sich als Vereinigung von politischer Unterdrückung und beklagenswerter wirtschaftlicher Unfähigkeit. Trotz des Verlustes der Souveränität leistete die polnische Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten in fast schon regelmäßigen Abständen Widerstand gegen die Politik der Machthaber, wobei jedoch der militärische Kampf gemieden wurde. Die von wirtschaftlichen Misserfolgen geschwächte kommunistische Macht fühlte sich dadurch schließlich zu einer gewissen Liberalisierung der Politik gezwungen. Sie konnte jedoch auch jederzeit Gewalt anwenden. In ihrer Propaganda wurden noch in den 1980er-Jahren antideutsche und antifaschistische Parolen forciert, um so etwas wie gesellschaftlichen Zusammenhang zu schaffen.

Das Jahr 1945 dauerte so in Polen auf unterschiedlichen Ebenen viele Jahrzehnte lang an. Vor diesem Hintergrund muss das Jahr 1989 als ein großer Erfolg der polnischen Gesellschaft gesehen werden, wurde in diesem Jahr doch endlich jenes Ziel erreicht, um das seit 1939 gekämpft worden war – ein freies Polen. Auf friedliche Art und Weise ist es gelungen, die kommunistische Regierung abzulösen. Der polnische Kommunismus ging mit dem ganzen Nachkriegssystem in die Rumpelkammer der Geschichte ein. Polen erlangte die Unabhängigkeit und seine Rolle in Europa nimmt wieder an Bedeutung zu. Dank des Einsatzes unzähliger Personen, wie zum Beispiel des erst kürzlich verstorbenen Władyslaw Bartoszewski, und Institutionen wie unter anderem der Katholischen Kirche war es noch in der Zeit der kommunistischen Volksrepublik gelungen, einen konstruktiven Dialog mit den ehemaligen Feinden, den Deutschen, aufzunehmen und mit ihnen nach Wegen der Versöhnung und Verständigung zu suchen. Heute grenzt Polen an Nachbarn, mit denen es keine offenen Grenzfragen gibt, mit den meisten von ihnen arbeitet es freundschaftlich zusammen. Die letzten 25 Jahre waren, wenn es auch Schatten gegeben hat, die glücklichste Periode in den letzten 200 Jahren der Geschichte Polens.

Das Jahr 1945 muss aus polnischer Sicht als „bitterer Sieg“ betrachtet werden. Man darf aber die Bedingungen nicht vergessen, mit denen Polen zu kämpfen hatte und dass die deutsche Okkupation, hätte sie angehalten, in letzter Konsequenz die biologische und kulturelle Vernichtung der Nation bedeutet hätte. Auf eine ausgewogene Art und Weise schrieb darüber der vor wenigen Monaten verstorbene Zeithistoriker Jerzy Holzer:

Man kann die Situation Polens nach Kriegsende als das kleinere Übel bezeichnen; in bestimmten historischen Konstellationen ist sogar das Erreichen des kleineren Übels ein Erfolg. Häufig sind Meinungen zu hören, die diesen Erfolg gering schätzen, aber für die polnische Nation war nichts wichtiger als die Erhaltung ihres Lebens und ihre Befreiung aus physischer Unterdrückung und drohender Vernichtung, teils bereits umgesetzt durch die deutschen Besatzer, teils von ihnen geplant für die Zukunft.

Es ist nicht leicht, auf die Frage zu antworten, ob Polen aus dem Krieg als Sieger oder Verlierer hervorgekommen ist. Die Historiker meiden eine eindeutige Antwort, sie versuchen eine möglichst ausgewogene Bilanz von Gewinnen und Verlusten zu ziehen. Zweifelsohne jedoch prägt das Jahr 1945 noch das heutige Polen enorm, sein Territorium, seine Bevölkerung, aber auch die politischen Programme und Ideen.

Zitierte Literatur

Borodziej Włodzimierz, Die enthauptete Nation, „Damals“, 2015, Nr. 4.

Holzer Jerzy, Polska 1945. Wojna wygrana czy przegrana? Od wojny do wolności. Wybuch i konsekwencje II wojny światowej 1939-1989, pod red. Marka Andrzejewskiego, Grzegorza Berendta, Tomasza Chicińkiego, Andrzeja Trzeciaka, Gdańsk-Warszawa 2010.

Klukowski Zygmunt, Zamojszczyzna 1944-1959, t. 2, Warszawa 2007.

Nałkowska Zofia, Dzienniki 1945-1954, T. 1, opr., wstęp i komentarz Hanna Kirchner, Warszawa 2000.

W rogatywkach z orłem bez korony. Polacy w operacji berlińskiej. Adam Leszczyński rozmawia z dr. Janem Szkudlińskim, „Gazeta Wyborcza“, 1.05.2015.