Den Kindern das Glück

Otar Tschiladse erzählt von seiner Heimat zwischen Mythos und Zeitgeschichte

Von Sylvia HeudeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Heudecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den drei Büchern seines 1973 erschienenen Romans Der Garten der Dariatschangi erzählt der georgische Romancier und Lyriker Otar Tschiladse den vertrauten Mythos um das Goldene Vlies, dessen Entwendung und die weitreichenden Folgen dieses Diebstahls. Tschiladse entfaltet die mythische Vergangenheit seiner Heimat, des antiken Kolchis. Machtpolitische Ambitionen der fürstlichen Herrscher – zu Beginn auf kretischer Seite König Minos, auf kolchischer sein Antipode Aietes – machen die Figuren in Der Garten der Dariatschangi zu Spielbällen des Geschehens. Und keiner dieser Figuren gelingt es, dem Schicksal dauerhaft die Stirn zu bieten.

Aufregend neu an Tschiladses Erzählung epischen Ausmaßes ist die Perspektive: Der Autor wählt den Blick der Kolcher, jenes Stamms, dem einst Medea zugehörte, und zu dessen Nachkommen er selbst zählt. Er verlässt damit die uns Westeuropäern geläufige griechische Sicht der Dinge und schildert das Geschehen aus kaukasischer Perspektive. Tschiladse betrachtet die Entwicklung Medeas, er stellt sie als ein Kind ihrer sagenumwobenen Heimat dar, bettet ihr Werden ins Beziehungsgeflecht der Familie ein und sucht nach den Gründen für ihren Verrat am Vater, der Jason in den Besitz des Golden Vlieses bringt und sie selbst zur Flucht nach Griechenland verleitet. Der scheiternde König Aietes gibt dem ersten Buch des Romans seinen Titel. Im zweiten Buch beleuchtet Tschiladse den Fall des kolchischen Herrscherhauses als von langer Hand geplante, schleichende Invasion des reichen Landes am Schwarzen Meer. Den endgültigen Niedergang der geschwächten eurasischen Macht bringt eine Eroberungsschlacht, in der viele vertriebene Kolcher um die Rückkehr in ihre Heimat kämpfen. Einer von ihnen, ein bullenstarker, gewissenloser Krieger, Ucheiro, gibt dem zweiten Buch den Namen. Noch bevor Ucheiro den Sieg und die Rückkehr in die Heimat feiern könnte, macht ihn ein unglücklicher Unfall zum Krüppel. Den Rest seines Lebens, lange Jahre, in denen seine beiden Kinder heranwachsen, verbringt der einst stolze Soldat als Invalide auf dem Krankenlager. Ganz zurückgezogen in sich selbst und gefangen in den Erinnerungen an seine blutigen Taten, versäumt Ucheiro die Erziehung seiner Tochter Popina und seines Sohnes Pharnaos. Pharnaos nun ist jener, dem das dritte Buch im Garten der Dariatschangi seinen Namen verdankt. Pharnaos’ Schicksal steht unter unheilvollen Vorzeichen, da die Mutter bei seiner Geburt starb. Der Tod ist Pharnaos Begleiter von Beginn an und stellt ihn in eine Schuld, aus der er sich ein Leben lang nicht befreien kann. Wie Aietes und Ucheiro vor ihm scheitert letztlich auch Pharnaos.

Tschiladse ist ein Mythenerzähler jener Art, der es gelingt, das Pathos tragischen Geschehens und die Übermenschlichkeit zentraler Figuren in einen modernen, dem Leser zugänglichen Ausdruck zu binden und beides dennoch zu bewahren. Das wird gerade im Buch „Aietes“ besonders deutlich, das die Flucht des Phrix auf einem Widder nach Kolchis zum Ausgang nimmt und die Geschichte des Goldenen Vlieses widergibt. Das Goldene Vlies verfügt auch in Tschiladses Erzählung über magische Kraft – aber seine Entstehung folgt einfachen physikalischen Erklärungen: Der fliegende Widder, von dem das Vließ stammen soll, ‚flog’ von einem Schiff ins Meer, um von Fischern gerettet zu werden. Das Gold, das seiner Wolle anhaftet, stammt aus den Gassen der kolchischen Hauptstadt, durch die der Widder geführt wurde. Zahllose Goldschmiede gingen dort ihrem Handwerk nach, die Luft war erfüllt von Metallstaub. So lässt Tschiladse den legendären Reichtum von Kolchis ins lesbare Bild finden. Und doch entreißt die Magie des Augenblicks die Erzählung immer wieder der Banalisierung. Etwa dann, wenn der Autor den Leser an den Gedanken des Widders teilhaben lässt und an seinen Beobachtungen der Menschen um ihn her. Zwischen psychologischem Realismus und mythischer Überhöhung bewegt sich Tschiladses Erzählen und erinnert immer wieder an den magischen Realismus südamerikanischer Prägung. Medea etwa wird vorgestellt als ein Kind, das durch seine späte Geburt unter den Geschwistern eine Sonderstellung einnimmt, die ihr das Erwachsenwerden schwer machen. Der Prinzessin fällt die Aufgabe zu, das heilkundige Wissen ihrer Tante Kamar weiter zu tragen. Dies wird für Medea in jenem Moment zur tödlichen Gefahr, als ihre weibliche Sexualität erwacht und sie sich mit einer unwiderstehlich attraktiven männlichen Traumgestalt vereinigt. Dieser Schemen tritt ihr wenig später in Gestalt des Jason gegenüber. Ihm verhilft sie mit zauberhaften Kräutermitteln zum Erfolg: Jason kann das Goldene Vlies an sich bringen und erfüllt damit seinen Part im kretischen Eroberungsplan von Kolchis. Medea trägt willenlos ihren Teil dazu bei. Inständig beschwört sie das Eingreifen einer überirdischen Macht – und begegnet doch nur der personifizierten Angst.

Wani, Haupstadt von Kolchis, beheimatet den Hain der Dariatschangi. „Der Duft des Gartens strömte bereits auf dem Meer den Wani ansteuernden Schiffen entgegen, er umschlang sie mit unsichtbaren Armen und zog sie zu sich heran“. In diesem Paradiesgarten blüht und reift alles zur selben Zeit und wiegt den Menschen, der sich hingibt, im Glück der Erfüllung. Doch ist der Garten nur jenen zugänglich, die unschuldig wie die Kinder sind – oder wie Medea die Geheimnisse der Natur kennen, sie respektieren und beschützen. Medeas Verrat trägt zur Zerstörung des Gartens bei. Jedoch ist ihr Verrat nicht geplant, er ergibt sich zwangsläufig aus dem fatalen Zusammenspiel von Gelegenheit und Wissen. Das Erwachen der Sexualität bedeutet den Austritt aus dem Paradies der Kindheit. Nicht per se, quasi als Naturgewalt, sondern als Moment, in dem die korrumpierte Welt der Erwachsenen Zugriff auf die heranreifende nächste Generation erhält. Das zeigt im zweiten Buch des Romans auch die Geschichte um die unschuldige Kinderliebe zwischen Pharnaos und Ino. Die Missbilligung dieser Liebe durch die Erwachsenenwelt treibt die beiden innig Verbundenen auseinander und lässt sie sich selbst langsam, aber zuverlässig zugrunde richten. Und so verschwindet auch der Garten der Dariatschangi.

Der Zwangsläufigkeit des Geschehens setzt Tschiladse die Kraft der lyrischen Sprache und ihre Bilder entgegen. Mit den ersten Worten berichtet der Roman vom Verschwinden des Meeres. Lag Wani seit Menschengedenken am Wasser und verdankte ihm Reichtum und Ruhm, so zieht es sich nun immer weiter zurück und hinterlässt einen stickig-stinkenden Sumpf. Die Symbolkraft des Meeres als lebenserhaltendes und zugleich verderbendes Element spiegelt sich in verschiedenen Personen des Epos. An einer Stelle heißt es etwa, „Medea ähnelte dem Meer.“ Die Sprache packt die skandalös ungerechte Kraft des Schicksals, so dass das Grauen und zugleich die Hoffnung sagbar wird. Tschiladses schriftstellerischer Erfolg begann in der Poesie. Ihren spezifischen Ausdruck nimmt er mit hinein in die Welt des Epischen und vermag gerade dadurch, dem Geschehen gerecht zu werden und den Leser anzurühren. Zärtlich nähert sich Tschiladse jenen letztlich fragilen Figuren, die ihm am Herzen liegen. „Aietes war bedrückt, der Kummer seiner Tochter kletterte ihm auf den Schoß wie ein fremdes, verlassenes Kind, und unwillkürlich saß er starr, um dem Kind nicht mit einer unvorsichtigen Bewegung wehzutun.“ Die Dichtung des Garten der Dariatschangi überträgt Kristiane Lichtenfeld virtuos ins Deutsche. Als erfahrene Übersetzerin aus dem Georgischen ist sie zutiefst vertraut mit dem kulturellen Hintergrund, der Otar Tschiladses Schreiben durchdringt.

Das epische Panoptikum, das Tschiladse im Garten der Dariatschangi entlang der frühgeschichtlichen Vergangenheit seines Heimatlandes und der Erfahrungen seiner Bevölkerung entfaltet, erweist sich vordergründig als von der Willkür des Schicksals bestimmt. Ihm zu entrinnen erfordert übermenschliche Anstrengung. Doch bei genauer Lektüre Tschildases wird deutlich, dass es weniger die göttlichen Mächte sind, die den Lauf der Dinge bestimmen. Am Anfang des Untergangs von Kolchis steht eine imperiale Eroberungsentscheidung, getroffen von einem Herrscher aus machtpolitischem Kalkül. Mit Täuschung, Blendung, Intrige, Waffengewalt, Brutalität und schließlich auch immer wieder einer gehörigen Portion Glück wird die Eroberung des reichen Landes im Osten Realität. Doch heißt das Ergebnis neben dem politischen Machtzuwachs des Westens nur Unglück und Elend für die Menschen, die dort leben. Dem Garten der Dariatschangi kommt eingedenk der geo- und kulturpolitischen Hintergründe somit durchaus das Siegel des Schlüsselromans zu.

Otar Tschiladse gilt als einer der wichtigsten georgischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. In den 1990ern stand er zweimal auf der Liste der Nobelpreiskandidaten. Er zählt ganz zu Recht zu den modernen Klassikern der Weltliteratur. Geboren wurde Tschiladse 1933 im ostgeorgischen Sighnaghi, einer properen Kleinstadt. Bis zu seinem Tod im Jahr 2009 veröffentlichte er sechs Romane. Als Schriftsteller und Essayist engagierte sich der Autor entschlossen für die Unabhängigkeit Georgiens von Russland. Im Garten der Dariatschangi liefert Tschiladse ein Meisterstück seiner Kunst: Wie seinen anderen literarischen Arbeiten auch ist dem Roman die politische Dimension eingeschrieben. Doch hier nicht im Geringsten auf Kosten der literarisch-ästhetischen Weltaneignung, sondern als bereichernde Zugabe.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Otar Tschiladse: Der Garten der Dariatschangi.
Übersetzt aus dem Georgischen und mit einem Nachwort von Kristiane Lichtenfeld.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015.
664 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783882210309

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