Kennst du nur das Zauberwort …

Wolfgang Ernst untersucht die Wirkung von Zaubersprüchen auf das menschliche Gehirn

Von Sylvie DenkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvie Denke und Alissa TheißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alissa Theiß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ungewöhnlich, spannend und vielversprechend ist die Idee, historische Heilspruchtexte mit moderner Neurobiologie zu verknüpfen, zugleich aber auch gewagt, ist doch der Autor ausgebildeter Psychiater und Neurophysiologe und kein Literaturwissenschaftler. Dennoch stößt er vor in die Gebiete der Philologie, wobei er sich zeitlich weder auf eine bestimmte Epoche beschränkt noch geografisch auf einen eingegrenzten Raum. Mittelalterliche Europäer, mexikanische Maya, alte Ägypter und Mesopotamier werden auf den Plan gerufen, um – ja warum eigentlich? Um zu beweisen, dass Heilsprüche und Zauberformeln eine Wirkung auf das menschliche Gehirn haben können, was mit modernen Methoden der Neurobiologie und Sprachwissenschaft belegbar wurde; und um zu zeigen, dass es Heilsprüche und Zauberformeln nahezu in allen Kulturen und zu allen Zeiten gegeben hat. Wolfgang Ernst hat sich zum Ziel gesetzt, die „Funktion mittelalterlicher und archaischer Heilsprüche, die in Akutsituationen eingesetzt wurden“, zu analysieren und vertritt seinen Standpunkt vehement, indem er postuliert: „Nur die Kombination historischer, neurobiologischer und philologischer Elemente ist in der Lage, ein Licht auf die Anwendung von Heilspruchtexten in den Kulturen zu werfen und Distanz zu einem ausgelaugten Begriff wie Magie zu nehmen.“ Ein buntes Potpourri aus Soziologie, Ethnologie, Sprechakttheorie und den Arbeiten über Magie von Claude Lévi-Strauss dienen dem Psychiater als Voraussetzung für seine Untersuchungen und versprechen spannende Ergebnisse.

Ernst arbeitet bei seiner Untersuchung der Wirkung von Heilsprüchen mit der Struktur Heilkundiger – Empfänger – kulturelles Umfeld analog zu Lévi-Strauss’ Konzept von einem „Gravitationsfeld“, womit dieser die Beziehung zwischen Zauberer, Bezaubertem und der öffentlichen Meinung beschreibt. Als neuronale Grundlagen für die Wirksamkeit von Magie und Placebo nennt Ernst Aufmerksamkeit, Erwartung und Perzeption.

Thematisch untersucht Ernst die kognitiven und emotionalen Auswirkungen der Behandlung von Patienten durch Labeling von Gefühlen, konfliktprovozierende Darbietungen von sprachlichen Inkongruenzfiguren, gezielt regressionsfördernde Imaginierung sowie unterschiedliche Formen narrativer kathartischer Methoden. Zu letzteren zählen beispielsweise Texte, die zur Versenkung in die Leiden Christi dienen, um beim Meditierenden Reinigung und Buße zu erzielen, oder Texte zur Verbannung von Übel.

Gewagt scheint die Heranziehung von Redensarten, um neuronale Prozesse zu erklären und um die Theorie der Wirksamkeit von Spiegelneuronen zu untermauern: „Wer noch glaubt, daß Sprechen und Sprachverstehen das Eine und Hand und Handlung das Andere seien, der bedenke die Fülle der Redensarten um unsere Hand, die in allen menschlichen Bereichen vom Alltag und Rechtsbrauch bis zu Handel und Psychologie unser Leben bestimmen“, so der Autor.

Wenngleich auf dem Gebiet der Mediävistik bewandert und meist zielsicher die wichtigsten Publikationen zum Themengebiet herausgreifend, irritiert, dass als Beleg zu so sensiblen Themen wie den Artes illicitae lediglich Hilkert Weddiges Einführung in die Mediävistik angeführt wird. Auch das auf der gleichen Seite erfolgte Zitat aus einer Leipziger Zwischenprüfungsarbeit macht ein wenig stutzig.

Heute größtenteils überkommene Ansichten machen deutlich, dass der Autor nicht hundertprozentig in touch mit der neusten mediävistischen Forschung ist. So heißt es unter der Überschrift „Das europäische Mittelalter“, dass sich unsere Kenntnis dieser Epoche – neben Baukunst und Plastik – im Wesentlichen aus Handschriften- und Bildquellen speise. Der gesamte Komplex der Kulturgeschichte und Archäologie wird dabei ausgeklammert, obwohl dem Autor archäologische Quellen in den Abschnitten über Mesopotamien durchaus heranziehungswürdig erscheinen, um auf die vergangene Kultur zurückzuschließen. Prekär wird es für Mediävisten, wenn es bei Ernst heißt, dass sich „mündliche Laienkultur“ und schriftliche lateinische Kultur der Klöster gegenüberstanden und die klösterlichen Skriptorien manches aus der „Volkskultur“ aufgezeichnet und so bewahrt hätten, oder wenn er schreibt: „Und wissen wir doch auch, daß die Literatur des Hochmittelalters selten das ‚Ich‘ darbot, erst in seiner Spätphase“ oder dass es eine „im Hochmittelalter im allgemeinen zu beobachtende Rarität an außergewöhnlichen Sprachfiguren“ gegeben habe, was dann möglicherweise „dem an Metaphern und Analogien reichen Heilspruch und der Legende eine einst attraktive Stellung verliehen hat“. Als Anmerkung dazu sei hier kommentarlos nur der Name eines mittelalterlichen Autoren genannt: Wolfram von Eschenbach.

Ins Auge springt, dass Ernsts Welt nur aus Männern zu bestehen scheint. In seinem Buch ist von Heilern, Zauberern, Schamanen und Mönchsärzten zu lesen. Hebammen, Nonnen und heilkundige Frauen, selbst so bekannte Größen wie Hildegard von Bingen, kommen nicht vor. Erst wenn es um das Austreiben böser Geister geht, kommt der Autor auf imaginierte Hexen zu sprechen. Trotz der Bezugnahme auf die mittelalterliche Laienfrömmigkeit spielt noch nicht einmal die Gottesmutter Maria eine Rolle, es geht immer nur um die Leiden Christi, der als „einziges Leitmedium“ des Mittelalters etikettiert wird. Das erstaunt, besonders vor dem Hintergrund der überbordenden Vielzahl an Mariendarstellung und Mariengebeten, die uns aus der gesamten Epoche des Mittelalters überliefert sind.

Striche man sämtliche Passagen, die klingen, als sei der Autor dem 19. Jarhundert entsprungen – nicht nur Ethnologen dürfte beispielsweise die wiederholte Bezeichnung „Eingeborene“ für aboriginale Kulturen altertümlich erscheinen –, hätte man einen inspirierenden, prägnanten und zu Denkanstößen anregenden Aufsatz vor sich. Leider ist dies nicht der Fall und man quält sich durch Sätze wie: „Für den Mensch [!] des Mittelalters war die Nacht Abgrund und Nichts, Unwissen und Chaos, eine geheimnisvolle und numinose Macht.“

Dies ist aber nur die eine Seite von „Gehirn und Zauberspruch“. Aus neurophysiologisch-psychiatrischer Sicht bietet der Band interessante Ansätze: Der Psychiater und Psychotherapeut Ernst legt hier nämlich eine aus neurowissenschaftlicher Sicht recht differenzierte und wissenschaftlich fundierte interdisziplinäre Literaturstudie vor, in der Erkenntnisse der Neurophysiologie mit der Wirkweise von Zaubersprüchen in Analogie gesetzt werden.

Ernst beleuchtet zunächst die Beziehung zwischen der behandelnden Person und dem Behandler in ihrem sozialen Umfeld. Hier werden beispielsweise gut untersuchte neurophysiologische Mechanismen beschrieben, etwa die Prozesse, die im mütterlichen Gehirn durch das Schreien des Babys ausgelöst werden, über Spiegelneurone gesteuerte Empathie und ‚embodied simulations‘.

Es folgen unter anderem Erläuterungen zu den „hirnbiologischen Prämissen von Religiosität und Spiritualität“, so der Name eines Unterkapitels. Im Folgenden bezieht der Autor nicht nur neurophysiologische Erkenntnisse auf Zaubersprüche wie Segen, Gebete und Beschwörungen, sondern setzt letztere auch in Beziehung zu Verfahren, die in der modernen Psychotherapie eingesetzt werden – wobei hier immer wieder seine psychodynamisch-psychiatrische Perspektive deutlich wird.

Ernst beschreibt neuronale Prozesse, die der Emotionsregulation, Imagination, Regression und Katharsis zugrunde liegen, und bezieht dies auf heilkundliche Techniken in verschiedenen früheren und der heutigen westlichen Kultur.

Man spürt die Faszination des Autors für die Bereiche Medizingeschichte und Neurophysiologie. Aus den Zeilen sprechen umfangreiche Beschäftigung mit diesen Themen und weitreichende Kenntnisse. Vermutlich resultieren daraus die oft komplizierten Sätze, die diesem an sich inspirierenden Buch leider die aktivierende Kraft der beschriebenen Zaubersprüche nehmen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Wolfgang Ernst: Gehirn und Zauberspruch. Archaische und mittelalterliche psychoperformative Heilspruchtexte und ihre natürlichen Wirkkomponenten. Eine interdisziplinäre Studie.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
243 Seiten, 44,95 EUR.
ISBN-13: 9783631645918

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