Gesang für einen Ketzer

Siegmund Kopitzki nimmt Rainer Maria Rilkes „Spuren“ in Konstanz in den Blick

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit beinahe 30 Jahren gibt das Deutsche Literaturarchiv in Marbach die Reihe „Spuren“ heraus. Es handelt sich dabei um ansprechend gestaltete Hefte, die Begegnungen von Autoren mit baden-württembergischen Orten nachzeichnen. Dass Friedrich Hölderlin beinahe die „Hälfte des Lebens“ in einem Turm am Tübinger Neckarufer zubrachte, ist bekannt, dass Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen den Mummelsee im Schwarzwald porträtierte und Hermann Hesse seine Heimatstadt Calw und das Kloster Maulbronn, aus dem er als Schüler entlaufen war, immer wieder neu in seine Erzählungen einbaute, gehört zur literarischen Allgemeinbildung. Aber wer weiß schon, dass Arthur Rimbaud 1875 nach Stuttgart reiste, Marie Luise Kaschnitz vor den Toren von Freiburg aufwuchs, oder dass Anton Tschechow im selben badischen Kurort starb, in dem Hermann Broch später eine Zentralfigur seiner Schlafwandler ermorden ließ? Ihnen allen setzen die „Spuren“ auf nur je 16 Seiten ein Denkmal, angereichert mit Illustrationen und Autographen, die meist aus den reichen Marbacher Beständen stammen.

Nun also Rainer Maria Rilke und Konstanz. Obwohl der 1875 in Prag geborene Dichter als ausgesprochen weitgereist gilt, würde man ihn nicht gerade mit dem Bodensee in Verbindung bringen. In Konstanz war er tatsächlich nur ein einziges Mal: Im Frühling 1897 besuchte er die Eltern eines anderen angehenden Dichters, Wilhelm von Scholz (1874–1969), mit dem er sich während seiner Münchner Studienzeit angefreundet hatte. Scholz entstammte nicht irgendeiner Familie, sein Vater war preußischer Finanzminister gewesen und hatte sich als Altersruhesitz ein Schloss am Konstanzer Seeufer erworben. Rilke und der junge Scholz tauschten Exemplare ihrer Bücher, und der Besuch im Anwesen der Familie gehörte zu den Höhepunkten der Beziehung zwischen beiden Dichtern, obwohl Rilkes Freund dabei abwesend war.

Rilke hielt sich gerade fünf Tage in der Stadt auf, doch die waren äußerst produktiv, denn in dieser Zeit entstanden nicht weniger als fünf Gedichte. Wie in seinen frühen Jahren üblich, waren sie in besonders hohem Ton gehalten. Sie bilden den Höhepunkt von Siegmund Kopitzkis lesenswerter Darstellung, besonders die lange „Vision“, in der Rilke eine Verbindung zwischen dem See und seiner Geburtsstadt zieht, und zwar in Gestalt des Reformators Jan Hus, „sternumlaubt, / herrlich ein Heldenhaupt / mit dem Ketzerhut“. Hus wurde bekanntlich 1415 auf dem Konstanzer Konzil als Ketzer verbrannt, aber Rilke sah in ihm weniger eine religiöse Gestalt als ein Symbol für die nationale Emanzipation innerhalb der Habsburger Doppelmonarchie, für die er durchaus Sympathie empfand: „Wolltest du alle Gefühle der Čechennation in Eines fassen und personifizieren“, so schreibt er an den in München gebliebenen Scholz, „riesig müßte der Reformator in dem Kampfe der Nachfahren ragen“.

Die Freundschaft zwischen Rilke und Scholz war nicht von Dauer, und in diesem „Spuren“-Heft spielt der letztere auch nur eine Nebenrolle. Dabei wäre er eine eigene Darstellung wert, spielte er doch in den nächsten Jahrzehnten eine wichtige Rolle im literarischen Leben. Aus heutiger Sicht allerdings keine rühmliche – 1933 bezog er begeistert Position für den Nationalsozialismus und rückte von ihr, anders als etwa Gottfried Benn, auch nicht wieder ab. So verteidigte er die Bücherverbrennungen entschieden gegen Kritiker wie Romain Rolland und bezog offen antisemitische Positionen. Sein Ruf erholte sich nach dem Krieg nie wieder ganz. Trotzdem starb er hochgeehrt mit 94 Jahren, bis in die 1960er-Jahre immer wieder mit literarischen Ehrungen ausstaffiert – eine Karriere, die Kopitzki gemeinsam mit Manfred Bosch in dem Band Wettlauf mit dem Schatten (2013) dokumentiert hat. Ob Rilke noch einmal nach Konstanz gereist ist, ist nicht belegt. Siegmund Kopitzkis Heft über seine erste und wahrscheinlich einzige Reise in die Stadt ist jedenfalls sehr zu empfehlen.

Titelbild

Siegmund Kopitzki: Rilke in Konstanz.
Spuren 104.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2015.
16 Seiten, 4,50 EUR.
ISBN-13: 9783944469072

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