Unverhoffte Umrisse

Hans Ulrich Gumbrechts Blogs halten die Konturen einer flüchtigen Gegenwart fest

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gegenwart ist breit. Das sagt Hans Ulrich Gumbrecht, Literaturprofessor an der Universität Stanford. „Breit“ bedeutet: Was wir als Gegenwart erfahren, spielt sich in nebeneinander gestaffelten, ineinander verflochtenen Simultanräumen ab, in Technik, Wissenschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur, Ökonomie, Sport. Es ist persönliche „Präsenz“ erforderlich, um diese Gegenwart zu erfahren: intellektuelle Geistesgegenwart, Antennen für die latenten (das heißt nicht sichtbaren, aber in der „Stimmung“ der Zeit fassbaren) Themen der Zeit, Vertrautheit mit den sozialen Medien. Diese Theorie der breiten Gegenwart hat Gumbrecht in einer Reihe von Büchern ausgearbeitet, die in der Fachwelt für Aufsehen – und Widerspruch – gesorgt haben. Mit den Blogs „Digital/Pausen“, die seit 2011 auf der Website der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erscheinen, hat Gumbrecht diese Theorie nun endlich in eine breitere Öffentlichkeit gebracht.

Und das seinerseits raffiniert latent. Denn natürlich geht es hier in erster Linie nicht um Theorie. Die Blogs, über 200 sind es inzwischen (im Juli 2015), kommen als geistige Logbücher unserer Zeit daher, in der, wie Gumbrecht schreibt, aus den Notwendigkeiten Möglichkeiten (Geschlecht ist kein Schicksal mehr) und aus den Unmöglichkeiten Möglichkeiten (Unsterblichkeit ist eine Maximalherausforderung der Medizin) geworden sind. Die Blogs halten diese Zeit fest, kurz und konzentriert. Es sind Probiersteine der Urteilskraft, mediale Denkbilder, digitale Pausen eben inmitten der technologischen Beschleunigung der Kommunikation.

Gemeinsam mit der Verlegerin Anne Hamilton hat Hans Ulrich Gumbrecht aus dem online abrufbaren Vorrat eine Auswahl von 25 Texten getroffen. Sie liegt unter dem Titel „Digital_Pausen“ als Buch vor. Klug ist diese Auswahl und listig, denn sie macht Lust auf mehr. Allein schon der Gliederung in die Abschnitte „Das größere Ganze“, „Das eigenartig Politische“, „Nation aus Provinzen“ und „Schönheit aus Momenten“ wegen. Dahinter stehen hochanregende Texte über den Ort des Menschen im Universum (das Bewusstsein!), über das Privileg der Jugend auf Anmut, über die Frage nach dem Recht des Stärkeren in einer „friedensbereiten Gegenwart“ oder über die moderne Entkopplung des Schicksals von der Selbstbestimmung des Menschen.

Hier – um nur dieses Beispiel zu nennen – wird der Blogger zum Querdenker. Schicksal ist nicht bloß die Katastrophe, die Menschen trifft – und die dann oft in der Logik der Kontingenzbewältigung als „menschliches Versagen“ erklärt wird. Schicksal ist auch das Garn der antiken Parzen, um „unseren Hals geschlungen […] wie bei einer von Michael Corleone ausgedachten Mafia-Exekution“. Wer will, kann dieses Garn  getrost weiterspinnen: Das Schicksal als Mafia im Universum der Kontingenz, der unentwirrbare Zusammenhang von eigenen Entscheidungen und Aktionen mit fremdbestimmten Ereignissen. Auch in diesem Denkreiz liegt eine Tugend dieser Blogs.

Besonders ans Herz gelegt sei dem Leser das Vorwort des Buches, das nicht im Internet zu finden ist. Hier erzählt Gumbrecht, wie er dazu kam, diese „Umrisse einer Gegenwart“ von „Themen, Ideen und Intuitionen“ aufzuzeichnen, und was dabei mit ihm und dem Medium geschah. Wir erfahren, dass dieser Blogger weder schnell noch leicht (sondern wöchentlich zehn Stunden und für eine Manuskriptseite eine Stunde lang) schreibt und dass er dieses regelmäßige Schreiben als monastische Übung betrachtet – und eben nicht als digitale Zockerei. Der Blog als gemeinsamer Laufsteg für Internet und Wissenschaft: hier ist das auf gewitzte Weise gelungen.

Nur eines wird dieses Buch, dem es so virtuos gelingt, Friedrich Hölderlin und Herbert Grönemeyer, Bochum und Honoré de Balzac, Elite und Fußballstadion fast im Westentaschenformat zusammenzubringen, wohl nicht können: so viele Leser zu finden wie der (im Buch enthaltene) Blog, der mit 50.000 Clicks die Hitparade der Online-Leser anführt. Kein Zweifel, diese Blogs im Buch sind eine wunderbare Einladung zum Mit- und Selbstdenken.

Titelbild

Hans Ulrich Gumbrecht: Digitale_Pausen. Konturen einer flüchtigen Gegenwart.
zu Klampen Verlag, Springe, Deister 2015.
198 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783866745001

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