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Herbert Krafts „Lenz. Biographie“

Von Heinrich BosseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinrich Bosse

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dreißig Jahre nach der Lenzbiographie von Sigrid Damm (Vögel, die verkünden Land, 1985) hat Herbert Kraft einen neuen Versuch vorgelegt, Leben und Werk des unglücklichen Sturm-und-Drang-Dichters zu fassen. Krafts Buch ist darin paradox, dass es einerseits unsere Kenntnis des Dichters bereichert, andererseits wieder auf erstaunliche Weise verarmt.

Bereichernd sind zweifellos die Korrekturen und Ergänzungen gegenüber dem früheren Bild, das Sigrid Damm entworfen hatte. Das betrifft Kleinigkeiten, wie etwa die Frage, ob Lenz mit dem Schiff oder mit dem Postwagen nach Königsberg zum Studieren reiste, aber auch ganz neue Funde wie etwa zum Aufenthalt in Straßburg. Die Vorgänge in der Schweiz und Lenz’ rätselhafter „Unfall“ im Jahr 1777 sind dank der eingehenden Recherchen von Burghard Dedner und anderen (1999) weitgehend aufgehellt. Auch dass er 1792 auf dem Deutschen Friedhof in Moskau begraben wurde, wenngleich ohne Grabstein, ist dank Gesa Weinert (2006) gesichert. Die Edition der Moskauer Schriften durch Heribert Tommek (2007) macht nunmehr auf umfassende Weise das Spätwerk zugänglich. Herbert Kraft reiht sich in diese Bemühungen ein, indem er selbst einen Brief aus dem Jahr 1785 entdeckt und veröffentlicht hat, der ausführlich über Lenz’ schwierigen Zustand Auskunft gibt. Es ist der Zustand eines Dichters, der nach seinem Zusammenbruch in den Vogesen, von Georg Büchner als Novelle des Wahnsinns gestaltet, für immer beschädigt blieb und trotzdem nicht aufhörte zu schreiben.

Diese Seite von Lenz – ein Autor, der hartnäckig gegen das Zerbrechen seiner Autorschaft ankämpft – interessiert Kraft allerdings nicht. Er verwendet dagegen sehr viel Aufmerksamkeit auf die Orte, in denen Lenz sein kurzes Leben (1751-1792) verbringt. Dorpat (estnisch: Tartu), Königsberg, Straßburg, Riga, St. Petersburg, Moskau werden mit vielen zeit-, kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen Informationen näher vorgestellt. Am ausführlichsten wird die russische Osteeprovinz Livland charakterisiert, nämlich als Ort der schreienden Unfreiheit mit ihren deutschen Herren und den schollenpflichtigen estnischen und lettischen Bauern, einer Art Sklavenhaltergesellschaft (glaubt Kraft). Kant in Königsberg, so seine Deutung, erlöst Lenz von diesem Erbe und befreit ihn zum Dasein eines autonomen Subjekts, das für die Selbstbestimmung der anderen eintritt. Leicht zugespitzt: Dieser Lenz, ein idealistischer Aufklärer, könnte auch von Schiller in die Welt gesetzt worden sein.

Dass Lenz Gesellschaftskritik übt, entspricht dem Konsens der Forschung. Dass er aber in seinen Schriften nichts anderes tat oder tun wollte, ist eine Reduktion, die ihm nicht gerecht wird. Texte wie sein Lobgedicht auf Kant oder das Drama Die Soldaten passen exakt zur ideologischen Vorgabe, Texte wie Die Liebe auf dem Lande oder Der Engländer durchaus nicht. Sie entfalten ein Verhalten zwischen den Personen, das nicht nach dem Leisten der Emanzipation (Selbst- oder Fremdbefreiung) zu fassen, sondern vielschichtiger ist. Wo bleibt etwa der Materialismus der französischen Aufklärung, der Lenz und Goethe – entgegen Goethes Beteuerungen – in Straßburg faszinierte? Wo bleibt der Petrarkismus des 18. Jahrhunderts, dem Lenz mit seiner Sublimierungstheorie der empfindsamen Liebe einen ganz neuen Impetus gegeben hat? Wo bleibt die Biopolitik des aufgeklärten Absolutismus, der Lenz in seinem Soldatenehen-Projekt Vorschub leistet? Im Hinblick auf derlei aktuelle Themen der Literaturwissenschaft scheint Krafts Lenz immer noch im Jahr 1970 zu stecken.

Herbert Kraft selbst ist, wie übrigens nicht wenige Literaturwissenschaftler, ebenfalls im vorigen Jahrhundert stehen geblieben, was seine Vorstellungen von Sozialgeschichte angeht. Die ständische Gesellschaft besteht für ihn eigentlich nur aus (unterdrückten) Bauern, (unterdrückendem) Adel und den Bürgern dazwischen, die sich je nachdem verhalten. Dass der abendländische Riss durch die Arbeitswelt – hie edle Kopfarbeit, da unedle Handarbeit – auch das Bildungswesen spaltet, in lateinische vs. deutsche Schulen, ist ihm unbekannt. Von dem für Lenz so bezeichnenden akademischen Prekariat der Hofmeister, der armen Studenten, Gesellschafter oder ‚philosophischen Reisenden’ ohne Geld kann er sich daher kein Bild machen, was umso gravierender ist, als Lenz selber ja dazu gehört. Jener Jacob Lenz, der in Straßburg einen Degen führt, genau so wie die Adligen, deren Gesellschafter er ist, erscheint bei ihm abwechselnd als Hofmeister, Diener oder Offiziersbursche. Und, trotz aller französischen Adelserziehung, wie sie Elisa von der Recke in ihrer Autobiographie berichtet, gar als Dolmetscher für die beiden Herren von Kleist.

Zur Funktion des Gesellschafters im 18. Jahrhundert gibt es praktisch keine Literatur, einmal abgesehen von Goethes Wilhelm Meister und von Lenz’ Die Freunde machen den Philosophen. Das ist bedauerlich, weil das Zusammenspiel der beiden Dichter in Weimar ohne soziologische Zuordnung kaum verständlich wird. Goethe war Gesellschafter am Hof, bis er im Juni 1776 Geheimer Legationsrat wurde; Lenz war sowohl Gesellschafter wie Anti-Gesellschafter – drei Monate bei Hof, dann allein in Berka, fast zwei Monate bei Frau von Stein, dann wieder allein in Berka. Goethes Statuswechsel und Lenz’ zweite Vereinsamung machen seine „Eseley“ nicht ganz so rätselhaft, wie es meist dargestellt wird. Ohne diese Konstellation überhaupt zu bedenken, erklärt Kraft, dass Lenz ein Spottgedicht auf Anna Amalia verfasst habe; Goethe wird entlastet, er habe mit der Ausweisung nichts zu tun gehabt. Das rechnet der Verlag zu „den vielen neuen Einsichten in das Leben und Schreiben dieses rätselhaften Dichters“, doch dem kann ich mich nicht anschließen.

Die symbiotisch-ambivalente Beziehung zu Goethe stellt Herbert Kraft eher über die Interpretation von Texten dar als über das Erzählen oder Analysieren von Situationen. So erhält seine Lebensgeschichte gewissermaßen zu viel Papier und zu wenig Leben. Darunter leidet eines der wichtigsten Themen, das Verhältnis zwischen Lenz und seinem Vater. Das Drama dieser persönlichen und pastoralen Vater-Sohn-Beziehung bleibt unbesprochen. Dass der Vater die Krankheit seines Sohnes nicht anerkennen und ihn auch nicht bei sich zu Hause pflegen lassen wollte, ist ein Familienskandal, der doch mehr erzählerische Aufmerksamkeit verdient hätte, als Kraft sie ihm gibt. Seine akademische Zurückhaltung hat etwas Normalisierendes, und das macht, dass diese Neuerscheinung zu Jacob Lenz letztlich nicht so viel Erhellendes bringt, wie man sich wünschen würde.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Herbert Kraft: J.M.R. Lenz. Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
361 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783835316478

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