…und nun folgt der achte Streich: Strich und Strich sind sich nicht gleich!

„Poetik der Linie“: Stefan Börnchens theoretische Verortung eines spannenden Phänomens in bildender Kunst und Comic

Von Ulrike PreußerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Preußer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem nur gut sechzig Seiten umfassenden Text legt Stefan Börnchen eine überaus kenntnis- und verweisungsreiche, dabei stets unterhaltsame Studie vor, die die Gestaltungskraft der Linie – nicht nur bei Max und Moritz – in den Blick nimmt.

Mathematische Erhabenheit im Kantschen Sinne kann der Verfasser bereits in den einleitenden Worten zu seiner Poetik der Linie der Darstellung des Struwwelpeters zuschreiben: Das überwältigende Ausmaß an Haaren und Nägeln, das sich der Zählbarkeit entzieht, führt ihn zu diesem Schluss. Die Illustrationen von Max und Moritz erscheinen im Verhältnis dazu reichlich brav. Ihre Taten jedoch beweisen demgegenüber ein hohes Maß an Sprengkraft, wie es die mit Flintenpulver präparierte Pfeife Lehrer Lämpels insinuiert, und rücken sie damit in die Nähe des Dynamisch-Erhabenen nach Kant. Insofern sprengen Max und Moritz inhaltlich betrachtet jegliche Ordnung – vor allem die in Lehrer Lämpels Heim. Formal aber bedient sich Wilhelm Busch einer Darstellung, die in besonderem Maße an Ordnung orientiert ist, wie es die „[r]adikale radiale [An-]Ordnung […] [der] Explosionslinien“ beim Entzünden der Pfeife deutlich werden lässt.

Das hier gewählte Beispiel lässt bereits erahnen, dass die Linie als arbiträres Zeichen einen großen Bedeutungsspielraum besitzt: Sie kann ebenso eine Explosion, eine den Rahmen sprengende Unordnung (Struwwelpeter) wie auch eine Gloriole oder eine Monstranz bezeichnen. Diesen Interpretationsspielraum versucht Börnchen auszuloten. Zunächst trägt er dazu Theorien aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen und Alltagspraktiken zusammen, die die Beschaffenheit und Funktion der Linie präzisieren und skizziert dabei mythologische, paläolithische, ästhetische, physignomische, populärkulturelle, comicsemiotische und transzendentale Ansätze. Anschließend geht er auf „praktische[] Anleitungen“zum Umgang mit der Linie ein und nimmt dabei sowohl den nicht-fiktionalen, theoretisch-didaktischen Comic in den Blick, der seine eigenen Gestaltungsmittel reflektiert, als auch die theoretischen Annäherungen bedeutender Maler der Kunstgeschichte wie Albrecht Dürer, Paul Klee und Wassily Kandinsky.

Das Kapitel „Todes-Streich und Todes-Strich“ dreht sich um das, was man aus dem „alte[n], praktische[n] Strich“ alles machen kann – und was vor allem Wilhelm Busch des Öfteren daraus gemacht hat. Die Beispiele, die Stefan Börnchen anführt, demonstrieren anschaulich, dass sich in Wilhelm Buschs Werk die etymologische Nähe zwischen „Streich“ und „Strich“ auch immer wieder konzeptionell zeigt. So werden seine Protagonisten mit verschiedenen Gegenständen durchbohrt oder geschlagen, die oft „bis auf den spitzen geraden Strich reduziert“ sind – oder aber von tatsächlichen Bleistiften, die auf ihre zeichnerischen Möglichkeiten verweisen, entseelt. Darüber hinaus lenkt Börnchen den Blick auf den Einsatz von bisweilen unnatürlich geraden Linien, wie z.B. in Max‘ und Moritz‘ erstem Streich, in dem die Fadenfalle für die Hühner mit überaus geraden, dadurch auffällig künstlich wirkenden gekreuzten Strichen wiedergegeben wird. Börnchen zeigt genau beobachtend, beschreibend und Querverbindungen zu einer mittelalterlichen Eulenspiegel-Darstellung herstellend auf, dass dadurch die Gemachtheit des Gegenstands – der Strich – in den Mittelpunkt rückt und insofern ein autofunktionaler Effekt entsteht. Den Hühnern bringen die unnatürlich geraden, solcherart hervorgehobenen Striche den Tod. So gefährlich die gerade Linie für die gezeichneten Körper bei Wilhelm Busch ist, so schön und gut kann im Verhältnis dazu die geschwungene Umrisslinie der Figuren sein. Kann, wohlgemerkt. Während eine geschwungene, runde Konturierung auf gutes Befinden hinweist, ist die gezackte Umrisslinie – die ja auch mit dem geraden Strich arbeitet – ein Index für erneute Gefahr.

Diese herausgegriffenen Beispiele können nur einen kleinen Einblick in die Semantisierung des Liniengebrauchs geben, die Börnchen so anschaulich erörtert und abschließend in einen Dialog von Kandinskys bekannten theoretischen Schriften mit Buschs Max-und Moritz-Streichen münden lässt.

Dieser kurze kompakte Text sollte von einer breiteren Leserschaft wahrgenommen werden: Er bietet ohne Zweifel viele anregende Ansätze für die Comicanalyse, vor allem in Bezug auf die genauere Erfassung von Erzählstrategien. Darüber hinaus beweist der Autor aber auch einen anschaulich vermittelten, intelligenten Blick auf ein vermeintlich selbsterklärendes Phänomen, das sich nicht nur in Bildgeschichten wiederfinden lässt, sondern weite Teile der bildenden Kunst durchzieht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Stefan Börnchen: Poetik der Linie. Wilhelm Busch, „Max und Moritz“ und die Tradition.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2015.
63 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-13: 9783865254344

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