Hinter dem Spiegel

Cornelia Funkes dritter Reckless-Band „Das Goldene Garn“ erzählt mit Lust die Geschichte weiter

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Verfilmung von Cornelia Funkes „Reckless“-Reihe wird es erst einmal nicht geben. „Tintenherz hat mich gelehrt, dass Filme aus Fliegenden Teppichen leicht Taschentücher machen und ich meine eigenen Geschichten selten wiedererkenne“, so die Autorin unlängst in einem Interview auf die Frage nach Filmplänen zur Buchreihe. In der Tat hatte schon so mancher Rezensent beim ersten Band „Das steinerne Fleisch“ festgelegte Drehbuchmuster in der Geschichte zu erkennen geglaubt. „Funkes Buch will eigentlich gar kein richtiges Buch sein, sondern eher eine Art Treatment, das bereitliegt für einen künftigen Film, und man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie der aussehen wird […]“, unkte Burkhard Müller 2010 in der „Süddeutschen Zeitung“ – und hatte Unrecht. Mit „Das Goldene Garn“ liegt nun der dritte Band vor, in dem die Brüder Jacob und Will Reckless unversehens in eine Parallel-Märchenwelt geraten. Den Zugang fand Jacob einst über den Spiegel im Zimmer seines Vaters und ist der „Spiegelwelt“ seither hoffnungslos erlegen, obwohl (oder gerade weil?) diese absolut unberechenbar und gefährlich ist. Denn wer die Gesetze der Märchen von Grimm & Co wie hier Cornelia Funke wirklich ernst nimmt, kann nicht leugnen, dass Begegnungen mit bösen Hexen, Feen, Blaubärten oder auch nur vergifteten Kämmen, Spindeln und Zaubertränken alles andere als harmlos sind. Ein Happy End für alle ist in Funkes Märchenwelt keinesfalls garantiert.

Dabei zeigt „Das Goldene Garn“ erneut, was die Bestseller-Autorin vielen anderen Fantasy-Autoren voraus hat: die Liebe zu ihren Figuren und das Talent sowie die spürbare Lust und Begeisterung, auch wirklich in Ruhe Geschichten zu erzählen. Die Handlung knüpft fast nahtlos an das Ende des zweiten Bandes an, als sich Jacob und die Gestaltwandlerin Fuchs in allerletzter Sekunde vor ihrem Widersacher aus den Reihen der sogenannten „Goyl“ –  steinernen Wesen, die die Märchenwelt in einen Krieg stürzten, – durch einen Spiegel in die reale Welt retten konnten. Während Jacob nun in New York versucht, eine magische „Superwaffe“ aus den Märchen in ein sicheres Versteck zu bringen, tritt mit dem „Spieler“, wie sich Norebo Johann Earlking aus dem zweiten Band nun nennt, eine Nebenfigur aus ihrem Schattendasein heraus und präsentiert sich als heimlicher Drahtzieher der gesamten Ereignisse. Denn die geheimnisvollen Erlelfen, zu denen der „Spieler“ gehört, wurden zwar einst durch die Feen aus der Märchenwelt ins Exil vertrieben, nun aber sehen sie ihre Chance, nach „acht Jahrhunderten in der falschen Welt“ endlich wieder dorthin zurückzukehren.

Jacob, Fuchs, sein Bruder Will und dessen Freundin Clara werden in der Folge zu Earlkings Marionetten im Spiel um die Macht in der märchenhaften Spiegelwelt. So wird beispielsweise der ahnungslose Will zum Werkzeug im Bestreben der Erlelfen, die Feen zu bekämpfen. Dass der „Spieler“, wie schon im zweiten Band zu erwarten war, irgendwann unnachgiebig von Jacob seinen Preis für die einstige Hilfe im Blaubartlabyrinth einfordert, sorgt nun in der Beziehung zwischen diesem und Fuchs für die notwendige Spannung und Dynamik. Aber auch die „Dunkle Fee“ rückt ins Zentrum der Geschichte, als sie, enttäuscht und verletzt von ihrem bisherigen Geliebten, dem Goylkönig Kamien, versucht, ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen und das „Goldene Garn“ ihrer Liebe zerschneiden zu lassen – und koste es sie auch ihre Unsterblichkeit.

Es geht Cornelia Funke also um nichts Geringeres als um Leben und Tod, um Liebe und Verrat – und damit die großen zeitlosen Themen der Literatur. Zu den Stärken von „Reckless“ gehört, dass die Autorin den verschiedenen Figuren Raum für deren Sicht der Dinge gibt. Hatte sie sich in den beiden ersten Bänden dabei noch auf eine Handvoll Figuren beschränkt, weitet Cornelia Funke nun die Erzählperspektiven aus. Der Leser erfährt jetzt auch, was den „Spieler“, die Dunkle Fee, den Goylkönig oder auch Jacobs Vater bewegt.

Vielleicht erschließen sich nicht immer alle Wendungen in der Geschichte auf Anhieb, am Ende aber ist klar: Es sind mehr als genügend neue Fährten für den vierten Band gelegt, der nach den Märchen der Brüder Grimm („Steinernes Fleisch“), den französischen Märchen („Lebendige Schatten“) und nun den russischen Märchen und der Welt der Baba Jagas („Goldenes Garn“) wieder in ein neues Märchenreich führen wird. Spannend wird es sein, wo genau der Weg hinführt: über den Atlantik nach Kanada, wohin es Jacobs Freund Chanute zieht, oder doch in den Südosten, wohin sich Fuchs’ Verehrer Orlando begibt?

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 19.1.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Cornelia Funke: Reckless – Das goldene Garn.
Mit Illustrationen der Autorin.
Dressler Verlag, Hamburg 2015.
480 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783791504964

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