Bruchstücke einer großen Theorie

Pierre Bourdieus gesammelte Aufsätze zum künstlerischen Feld

Von Jan BehrsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Behrs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt verschiedene Gründe, zum vorliegenden Band zu greifen: Zum einen handelt es sich um Band 12.2 einer großangelegten Gesamtausgabe der Schriften Pierre Bourdieus (die bereits vor einigen Jahren im Konstanzer Universitätsverlag zu erscheinen begann und nun als preiswerte Paperback-Variante bei Suhrkamp angeboten wird), zum anderen erweckt er schon aufgrund seines thematischen Zuschnitts und der Tatsache, dass er einzeln verkauft wird, den Eindruck, dass er als Sammlung von Texten zum Thema „Kunst und künstlerisches Feld“ auch für sich stehen soll. Aus dieser doppelten Zuordnung ergeben sich unterschiedliche Anforderungen: Die für eine Werkausgabe maßgeblichen Kriterien wie Vollständigkeit, Nachvollziehbarkeit der Editionsregeln und Verlässlichkeit der Textgestalt können im Rahmen der Rezension eines Einzelbandes nicht überprüft werden, zumal dieser nur wenige Angaben zur Architektur der gesamten Werkausgabe und zu den Editionsprinzipien macht. Es wird also im Folgenden versucht, den Band aus der Perspektive von Einzelbandleserinnen und -lesern zu beurteilen, die sich nicht für die Gesamtheit der Bourdieu’schen Schriften interessieren, sondern für das hier behandelte Spezialthema (ein weiterer Band zur „Ökonomie symbolischer Güter“ ist bereits erschienen; einer zu „Kultur und kultureller Praxis“ ist bei Suhrkamp für September angekündigt und in der UVK-Ausgabe bereits bei literaturkritik.de rezensiert worden).

Solchen Leserinnen und Lesern wird allerdings abverlangt, ihr Lektüreverhalten anzupassen: Wie bei einer Werkausgabe nicht anders zu erwarten, ergeben sich thematische Doppelungen und Wiederholungen. Viele der hier präsentierten Texte sind zudem bereits an anderer, nicht unbedingt entlegener Stelle gedruckt, so etwa der lange Aufsatz „Das literarische Feld“, der bereits 1997 auf Deutsch in einem einschlägigen Sammelband erschien und zwei Jahre später in leicht überarbeiteter Form als Kapitel von Bourdieus kunsttheoretischem Hauptwerk, den Regeln der Kunst, wieder auftauchte. Diese Texte kann man selbstverständlich auch ein drittes Mal mit Gewinn lesen, wichtiger scheinen aber die deutschen Erstveröffentlichungen, die der Band glücklicherweise ebenfalls zu bieten hat. Diese Premieren sind keine Sensationen, können aber sehr wohl dazu beitragen, Bourdieus Blick auf Kunst und Kultur deutlicher und differenzierter hervortreten zu lassen. Grob lassen sich drei Gruppen von Texten unterscheiden: Erstens Arbeiten zur Literatur, zweitens solche zur Kunstgeschichte und drittens die Texte, die in grundsätzlicherer Form versuchen, eine Art Gebrauchsanweisung für die Feldtheorie zu geben.

Für die Literaturwissenschaft bedauerlich ist, dass die Texte der ersten Gruppe am wenigsten Interesse beanspruchen können. Das liegt nicht an der Qualität der hier vorgelegten Arbeiten: Mit Gustave Flaubert hat Bourdieu ein – ebenfalls bereits aus den Regeln der Kunst bekanntes – treffendes Anwendungsbeispiel für seine Theorie gefunden, auf das er immer wieder zurückkommt. Insbesondere in dem 1975 erschienenen und bisher nur auszugsweise auf Deutsch vorliegenden Aufsatz „Die Erfindung des Künstlerlebens“ glückt ihm eine überaus schlüssige Interpretation von Flauberts Éducation sentimentale, die genau das tut, was ihrem Autor zufolge auch generell beim Umgang mit Literatur gefordert ist: Der Aufsatz beleuchtet den Roman zusammen mit seinen sozialen Kontexten (denen des Autors und denen der fiktiven Welt), ohne dabei jemals zu simplifizieren. Die Probleme aller – wie Bourdieu das nennt – „ökonomistischen“ Theorien (wie etwa der marxistischen Überbautheorie) werden gekonnt vermieden, und am Ende gelingt ein Musterbeispiel einer soziologischen Analyse von Literatur. Gerade weil das bei diesem einen Roman so wunderbar funktioniert und weil Bourdieu in allen seinen Texten ein nicht zu überlesendes Pathos des Grundsätzlichen pflegt, fragt man sich, ob und wie das hier angewandte Verfahren auf Texte anderer Autoren und Epochen übertragbar ist: Wie sähe eine Gegenwartsliteraturwissenschaft à la Bourdieu aus, wie eine Frühe-Neuzeit-Forschung? Der Band liefert auf diese Fragen keine Antworten, weil sich der Meister scheinbar fast ausschließlich mit Flaubert beschäftigt hat.

Was im Hinblick auf die Literatur fehlt, wird in den Aufsätzen zur Kunstgeschichte zumindest ansatzweise geliefert: der Versuch einer Ausweitung des Untersuchungsgebiets, vom Paradebeispiel zu den Mühen der Ebene. Insbesondere ein weiterer deutscher Erstdruck, „Die Institutionalisierung der Anomie“ von 1987, liest sich mit Gewinn: Bourdieus Gegenüberstellung des in Ausbildung, Produktion und Distribution an den Staat gebundenen Akademismus und einer um 1870 entstehenden, die Eigenlogik des Kunstfelds betonenden Avantgarde macht unmittelbar anschaulich, wie die Kunstwissenschaft die sozialen Bedingungen nicht nur der Kunstproduktion, sondern auch des Geschmacks einfangen und mit einem historischen Index versehen kann, ohne dabei das Einzelwerk zu vergessen. Das ist weit entfernt von vornehmer soziologischer Äquidistanz: Die Sympathien des Verfassers liegen recht eindeutig auf der Seite des aufkommenden Impressionismus, und deswegen kommt der Akademismus, der „art pompier“, als Gegenspieler nicht nur schlecht weg, sondern erscheint auch simpler und einheitlicher, als er vermutlich war. Trotzdem bieten der Artikel und ein in Vortragsform verfasstes und daher sprachlich zugänglicheres Gegenstück, „Die impressionistische Revolution“, nicht nur weitere kunstsoziologische Kabinettstücke, sondern auch Ansätze zu einer Theorie der künstlerischen Innovation. Das macht die kunsthistorischen Aufsätze wesentlich offener für Anschlussverwendungen als die literaturwissenschaftlichen Arbeiten. Es ist daher bedauerlich, dass die zahlreichen Beiträge Bourdieus zu Ausstellungskatalogen von den Herausgebern nicht als „Schriften“, sondern als „Interventionen“ klassifiziert und deswegen zwar im editorischen Bericht erwähnt werden, aber nicht Teil der Werkausgabe sind.

Zur Explikation einer in ihren Geltungsansprüchen weitreichenden Methode wie Bourdieus Feldtheorie scheinen Artikel von 20 bis 30 Seiten Länge eher ungeeignet, und die hier vertretenen programmatischen Aufsätze, die die erwähnte dritte Gruppe der präsentierten Texte bilden, werden kaum die Lektüre der großen Theoriewälzer (Die Regeln der Kunst und Die feinen Unterschiede) ersetzen können. Insbesondere der (bereits auf Deutsch vorliegende) Text „Für eine Wissenschaft von den kulturellen Werken“ von 1994 und die (in abgewandelter Form in die Regeln der Kunst integrierten) „Kritischen Vorbemerkungen und methodologischen Grundsätze“ zum Konzept des literarischen Felds von 1984 können aber durchaus auch einzeln gelesen werden und dann als (stilistisch allerdings nicht unbedingt niedrigschwelliger) Einstieg in das Bourdieu’sche Theoriegebäude dienen. Aufschlussreich sind die hier versammelten theoretisch angelegten Aufsätze noch aus einem anderen Grund: Von der ersten kunstsoziologischen Äußerung des noch jungen Autors an frappiert der überaus selbstbewusste, gegenüber konkurrierenden Ansätzen sarkastische Tonfall, mit dem Bourdieu sich an die Errichtung einer Methode macht. Die Absicht, zum „Diskursbegründer“ im Sinne Michel Foucaults zu werden, ist in allen Texten selbst dort zu finden, wo zur konkreten Gestalt des Diskurses noch gar nicht viel zu erfahren ist. Der daraus entstehende Anschein von äußerster Souveränität, die gelegentlich auf unvorteilhafte Weise ins Herrische umschlägt, ist ebenso gewöhnungsbedürftig wie eindrucksvoll; der damit einhergehende Sound hält die Aufsätze zusammen und gibt dem Sammelband auf diese Weise zusätzliche Geschlossenheit.

Auf andere Art und Weise erfüllt das umfangreiche Nachwort von Ulf Wuggenig denselben Zweck: Indem es den Aufsätzen einen Platz in der Architektur des Gesamtwerks zuweist, verstärkt es bei den Leserinnen und Lesern den sicherlich verkaufsfördernden Eindruck, keine bloßen Einzeltexte vorliegen zu haben, sondern, mit Johann Wolfgang von Goethe zu sprechen, „Bruchstücke einer großen Konfession“. Inwieweit das den Realitäten des wissenschaftlichen Publikationszirkus entspricht, denen auch ein Bourdieu sich beizeiten zu unterwerfen hatte, sei dahingestellt. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass mit den hier versammelten Texten viel anzufangen ist, egal ob man sie als Bausteine einer Großtheorie oder als – zuweilen brillante – Einzeluntersuchungen betrachtet. Dass das Nachwort zudem ausgiebig auf die Forschung zur Feldtheorie als Kunsttheorie eingeht und sich dabei nicht auf die eher unterentwickelte deutschsprachige Debatte beschränkt, sondern auch die Diskussionen im französisch- und englischsprachigen Raum kenntnisreich dokumentiert, erhöht den Wert der Sammlung zusätzlich.

Titelbild

Pierre Bourdieu: Schriften. Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches Feld. Schriften zur Kultursoziologie 4.
Herausgegeben von Franz Schultheis und Stephan Egger.
Übersetzt aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Michael Tillmann u.a.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
546 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518297261

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