Weimar in Davos

Was wir schon immer von den Klassikern wissen wollten und was nun in den Dichterjahrbüchern steht

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dichtergesellschaften sind das Salz im deutschen Literaturbetrieb. Sie halten das Andenken der Alten Meister aufrecht und stellen deren „Gebrauchswert“ (Brecht) auf den Prüfstand. Dem dienen, neben diversen Veranstaltungen, vor allem Publikationsreihen. Das Goethe-Jahrbuch ist neben dem Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft wahrscheinlich das prominenteste – Band 131 ist für das Jahr 2014 erschienen. Doch auch die Archive lassen sich nicht lumpen. Seit den frühen 1970er-Jahren erscheinen die Thomas-Mann-Studien, herausgegeben vom Thomas-Mann-Archiv der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich – der 49. Band ist 2015 erschienen. Dies bietet Anlass zu einer kleinen Betrachtung in grundsätzlicher und vergleichender Absicht.

Zunächst sollte mit einem Vorurteil aufgeräumt werden. Zuviel Forschung stärke das Mittelmaß und verwässere die Qualität, heißt es hier und da (Spiegel online, 8.1.2014). Wozu solle man auch noch Jahrbücher, Almanache und Zeitschriften lesen? Eine Entgegnung darauf ist gar nicht so schwer: Das Gute wird sich schon seinen Weg bahnen. Dem dienen professionelle Herausgeber, peer reviewing, variierende Wiederholung reifer Erkenntnis. Im günstigsten Fall kommt der publizierende Forscher dem Ideal nahe, das die Schweizer Mitte des 18. Jahrhunderts als die Hauptaufgabe des Künstlers betrachteten: „durch wohlerfundene und lehrreiche Schildereyen die Phantasie des Lesers angenehm einzunehmen, und sich seines Gemüthes zu bemächtigen“. Dazu können Jahrbücher und Studien dienen.

Das Goethe-Jahrbuch hat gewichtige 300 Seiten und ist mit dem Vorstand der Goethe-Gesellschaft wissenschaftlich exzellent besetzt (Jochen Golz, Albert Meier, Edith Zehm). Es enthält Vorträge, Abhandlungen, Dokumentationen und Miszellen sowie Rezensionen zu der neueren Autorenphilologie und eine Chronik der Aktivitäten der örtlichen Goethe-Gesellschaften, die nicht nur in den Metropolen sitzen.

Kai Spanke (Berlin) knöpft sich Johann Wolfgang von Goethes Iphigenie auf Tauris (1787) vor, ein „Drama der Kontemplation“, und spitzt seine Erkenntnisse auf den Wandel der menschlichen Selbstinterpretation von einer Präsenz- zur Sinnkultur zu. Die vorneuzeitliche Präsenzkultur – der Begriff der Präsenz, der auf die Theologie des christlichen Abendmahls zurückgeht, wird von Hans Ulrich Gumbrecht revitalisiert – bindet Zeit an den Raum, verschafft epiphanische Erlebnisse diesseits des Sinns und ist Teil einer zyklischen Ordnung. Die moderne Sinnkultur hingegen verzeitlicht den Raum, setzt den Geist vor den Körper und ist Teil einer linearen Ordnung. Iphigenie sei nun, so Spanke, ein „geistig definiertes Subjekt“, das zwischen Mythos und Erkenntnis steht. Sie biete zwei Lesarten des Fluchs an, der auf ihrer Familie lastet: Die mythische Lesart beruht auf dem Göttergebot des Menschenopfers. Die anthropologische Lesart steht im Zeichen des mündigen Subjekts. Spanke zeigt, wie Iphigenies Reflexionen über ihre Familiengeschichte den Wechsel von der Präsenzkultur zur Sinnkultur abbilden. Mit Thoas’ berühmtem letztem Ausruf („Lebt wohl!“) bleibe der Präsenz-Mythos auf Tauris bestehen; indem der König seine Priesterin davonziehen lasse, komme jedoch ihre neue Sinnkultur von Aufklärung und Introspektion zum Durchbruch – „Zeitenwende auf Tauris“ also.

Es fehlt hier der Platz, um auf die anderen Beiträge auch nur in annähernd würdigendem Maße einzugehen. Erwähnt seien nur Imelda Rohrbachers Ausführungen über das szenische Präsens in den Wahlverwandtschaften als die epische Aneignung einer bei Christoph Martin Wieland erprobten novellistischen Form (nach Klaus Manger) und Thomas Höffgens Aufsatz über die bislang vernachlässigte Ballade „Die erste Walpurgisnacht“ (1799). Rolf Selbmanns kluge Neulektüre von Goethes Aufsatz „Glückliches Ereigniß“ (1817) weist nach, dass Goethes vermeintlich taggenaue (20.7.1794) Erinnerung an die so kreative Dichterfreundschaft mit Friedrich Schiller eine Rückschau des nachklassischen Autors auf den Klassiker und also eine Selbstrevision seines Bildungsbegriffs ist.

Und was sagen die Forscher zu dem „Repräsentanten“ Goethes im 20. Jahrhundert? Der Band der Thomas-Mann-Studien fasst die Vorträge der zehnten Davoser Literaturtage zusammen, die vom 6. bis zum 10. August 2012 im Hotel Schatzalp stattfanden. Diese Literaturtage sind 1994 aus der Verbindung von Medizin und Literaturwissenschaft hervorgegangen. Alle zwei Jahre etwa trafen sich Germanisten und Mediziner an dem literarischen Ort, an dem Thomas Manns Zauberberg (1924) spielt. Immer war dieser Roman, in dem das Medizinische weit mehr als nur Begleitakkord ist, präsent, bis zur vorläufig letzten Tagung, deren Vorträge nun unter dem passenden Titel „Lebenstraum und Todesnähe“ in gedruckter Form vorliegen.

Auch hier sei nur ein Beitrag beispielhaft skizziert. Helmut Koopmann befragt Hans Castorps Träume. Was geschieht im Roman – und bei der Interpretation –, wenn Träume den Helden heimsuchen, die nicht in erster Linie Zeichenwelten des Verfalls enthalten, das große Thema seit den Buddenbrooks? Castorps Träume seien konstruktiv, argumentiert Koopmann – sie sind „Deutung und Prophetie“, greifen in die lineare Zeitfolge ein und bauen damit jene „Allzeitigkeit“ auf, die das große Thema des Romans ist: die Neuordnung der epischen Zeit. Mit Scharfsinn und stupender Kenntnis schält Koopmann Castorps Träume aus ihrem rhetorischen beziehungsweise bildungsbürgerlichen Kleid und enthüllt ihr enormes Interpretationspotenzial. Der Leser, auf diese Fährte geführt, kann so aufmerksam gemacht werden für die Regie der Zeit und die dichte Leitmotivik im Roman: Als Hans Castorp aus dem Schneetraum erwacht, wohl das eindrücklichste Traumerlebnis im Zauberberg, merkt er, dass die Uhr, die zuvor stillzustehen schien – „auch sie träumt gewissermaßen“, kommentiert Koopmann feinfühlig –, doch geht. 

Es lohnt, die klassischen Werke Goethes und Manns aus der Perspektive dieser Deutungsalmanache wiederzulesen. Besonders dann, wenn diese Texte von Nachwuchsforschern in einem eigens für sie geschaffenen Rahmen (wie etwa dem „Symposium junger Goetheforscher“ oder im Falle der Werner-Keller-Stipendiaten) mit frischen Fragen traktiert werden. Und übrigens hat auch die „Goethe’sche Sphäre“ in den Zauberberg hineingewirkt, wie Jutta Lindner in einem inspirierenden Beitrag schreibt.

Titelbild

Jochen Golz / Albert Meier / Edith Zehm (Hg.): Goethe-Jahrbuch 2014.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
315 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783835315099

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Titelbild

Helmut Koopmann / Thomas Sprecher (Hg.): Lebenstraum und Todesnähe. Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt, M. 2015.
190 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783465038771

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