Wolken, Spatzen und Zikaden

Alban Nikolai Herbsts subtiles Kammerspiel auf einem „Traumschiff“

Von Lothar StruckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Struck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er hat das „Bewusstsein“. Er ist einer von 144. Sie sind auf einem Schiff. Manchmal sind mehr als 400 Personen auf diesem Schiff, aber die 144, die das Bewusstsein haben, sind diejenigen, die das Schiff nicht mehr verlassen. 69 Jahre ist er alt, der Ich-Erzähler, der, wie der Leser erst gegen Mitte des Buches erfährt, Lanmeister heißt. Noch später fällt der Vorname Gregor. Lanmeister schweigt. Er ist „die Kathedrale, die von quasselnden Leuten entweiht wird“. Aber er schreibt. Und wie. Mehrere Kladden soll es schon geben. Es ist ein ausführlicher, voluminöser Brief. Die Adressatin ist Kateryna, die mit allerlei Kosenamen versehen wird, eine junge ukrainische, nur Englisch sprechende Klavierspielerin. Sie ahnt nichts von Lanmeisters Verehrung.

Alban Nikolai Herbst liefert in seinem Roman Traumschiff  ein subtiles Kammerspiel eines inneren Monologs. Die Kladden des Gregor Lanmeister sind weniger Tage- denn Logbücher mit den (vermeintlich) exakten Reisekoordinaten des Schiffes, die wie Überschriften die Ereignisse und Reflexionen bündeln und verorten. Passagiere kommen und gehen – sie werden keines Wortes gewürdigt –, aber die 144, von denen der Leser im Laufe der Aufzeichnungen einige näher kennenlernen wird, bleiben, wie Lanmeisters „Freund“, der Clochard oder Doktor Björnsen, Senhora Gailint, Tolstoi und dessen Frau, Doktor Samir, Mister Gilburn und seine Lady Porto, Tatiana, Patrick, Buffalo Bill, Madame Gellet. Namen, die an Internet-Avatare erinnern.

Die Aufzeichnungen vom Traumschiff beginnen mit dem Tod eines gewissen Monsieur Bayoun, der ihm, Lanmeister, das „Sperlingsspiel“, Mah-Jongg, vermacht hat. Es besteht aus 144 Steinen, und schon ist der Bezug zu den 144 „Bewusstseins“-Menschen da. Zunächst folgt der Leser noch den Beschreibungen des Meeres, der begleitenden Mantas, der Delphine, die zu Feen werden (die Magie der Delphine aus Meere wird fortgesetzt) und der Wolken. Stutzig wird man, wenn Lanmeister sich wundert, dass die „Kabine“ als „Zimmer“ bezeichnet wird oder der „Überseeclub“ als „Frühstücksraum“. Es gibt auch vier Kühlzellen an Bord für die Toten. Tatiana, die „Kellnerin“, will Lanmeister plötzlich waschen, später auch „unten herum“, was ihm peinlich ist. Damit wird langsam klar: Das Traumschiff ist in Wirklichkeit ein Alten- beziehungsweise Pflegeheim, die Schilderungen Lanmeisters vom Meer Illusion. Er wird diesen Ort nicht mehr verlassen. „Es zerfällt mich“, heißt es schon zu Beginn. Das Ende wird kommen, und das Ende der Reise ist der Tod.

Der Zerfall schreitet voran, ist allerdings ausschließlich physischer Natur. Bis zum Schluss bleibt Lanmeister auf seine Art geistig rege, ein präziser Beobachter, ein um-die-Ecke-denkender Intrigenvermuter, Zeichendeuter, Wolkenschauer, Mantabewunderer, Spatzenfütterer und Zikadenhörer. Lanmeister ist nicht dement oder geisteskrank. Fast scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Das Buch ist eine Hommage an eine unbändige Imaginationskraft, die allen (hässlichen) Details der realen Welt trotzt und mit der eigenen Phantasie sozusagen ersetzt. Lanmeisters Schiffsleben ist Feier der Sehnsucht gegen das, was man Realität nennt: „Sehnsucht ist so viel stärker als die Realität. Wird sie zu ihr, geht sie zugrunde.“ Dieser Eintrag ist die Lebensmaxime der letzten Monate (oder sind es nur Wochen?) des Protagonisten geworden.

Dabei ist Lanmeisters „Bewusstsein“ ausschließlich auf den Augenblick, die Gegenwart beziehungsweise das, was er dafür hält, ausgerichtet. Es findet keine Suche nach einer verlorenen Zeit statt. Erinnerungen gibt es nur sporadisch, sind eher störende Interferenzen, welche die Erscheinungen verschleiern. Lanmeister schweigt; seine Kommunikation mit den Figuren auf dem Schiff ist stets nonverbal. Seine Lebensgeschichte wird von ihm äußerst bruchstückhaft überliefert. Er wuchs bei der Großmutter auf und galt in der Familie als „Russenkind“ (offensichtlich hat eine Vergewaltigung der Mutter im Krieg beziehungsweise kurz danach stattgefunden). Es gab eine Ehe mit Petra, die später geschieden wurde. Und da ist Sven, der Sohn, an den er sich nur ungenau erinnert. Die Familie ist ihm entrückt. Dagegen werden Äußerungen anderer Personen wiedergegeben, die auf Lanmeisters umfangreichen „Besuch“ hinweisen, den dieser jedoch nicht erkennt beziehungsweise ignoriert. Hier liegt der Verdacht nahe, dass es sich um eine partielle retrograde Amnesie des Logbuchschreibers handelt.

Dennoch sollte es der Leser aufgeben, den Erscheinungen, Bildern und Sehnsüchten der Hauptfigur einen naturalistischen Hintergrund zuzuweisen beziehungsweise die Figur zu pathologisieren. Lanmeister versucht bis zum Schluss, sich seine Welt zu erhalten, und nur wenn man sich in diesen Mikrokosmos hineinbegibt und sich darauf einlässt, kann man die zart-spröde Kunst von Herbsts Prosa genießen.

Das Traumschiff ist ein Totenschiff. Lanmeister weiß, dass er dem Tod nahe ist. Freunde kehren nicht mehr wieder. Als sein Ableben bei Teneriffa nicht wie erwartet eintritt, wird die nächste Station, Lissabon, in einem grandiosen Erzählstrom als „Sterbestadt“ beschworen. Dann heißt es: „Dass Sterben so laut ist, wer hätte das gedacht? Dass es klingt.“

Man kann jetzt versuchen, Etiketten für eine erste Einordnung dieses Romans zu finden. Vergleiche à la Zauberberg, Vicky Baums Menschen im Hotel oder eine moderne Version des Mythos des Fliegenden Holländers bemühen wollen. Aber das sind Oberflächlichkeiten. Herbsts „Traumschiff“ ist eine rührende Geschichte von der Verkapselung im Älterwerden, vom mutwilligen und am Ende erfolgreichen Ausblenden der als zu komplex sich anfühlenden Realität hin zu Träumen und Sehnsüchten, die das Leben trotz „schrecklichem Stuhl“ und Bettlägerigkeit  noch wertvoll erhalten. Es ist auch eine Geschichte einer unerreichbaren Liebe. Und es ist ein trotziges Plädoyer für das Leben in Würde bis zur Erschöpfung. „Welch ein gutes Gefühl, Erschöpfung, Erschöpftsein“ findet Lanmeister  einmal. Damit wird das sich abzeichnende Sterben, wenn nicht erträglich, so doch etwas weniger bedrohlich.

Der Roman ist nicht immer frei von Längen, manche rhetorische Pirouette wirkt übertrieben, ja manieriert. Gerade deswegen darf man Traumschiff nicht schnell herunterlesen, sondern muss es bedacht und mit Pausen genießen. Idealerweise sollte es Alban Nikolai Herbst mit seiner sonoren Stimme sofort als Hörbuch einlesen. Bis dahin muss der Leser viel Konzentration und Hingabe bei der Lektüre aufwenden. Etwas, was heutzutage fast schon als exotisch angesehen wird. Aber es lohnt sich.

Titelbild

Alban Nikolai Herbst: Traumschiff. Roman.
Mare Verlag, Hamburg 2015.
319 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783866482159

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