Göttliche Vorsehung und menschliches Streben

Yen-Chun Chens Studie zu komplementären Erzählsträngen im Rappoltsteiner Parzifal

Von Anna-Lena LiebermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna-Lena Liebermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „Ritter, Minne und der Gral. Komplementarität und Kohärenzprobleme im ,Rappoltsteiner Parzifal‘“ legt Yen-Chun Chen eine längst überfällige Arbeit zur Ehrenrettung des „Rappoltsteiner Parzifal“ vor. In ihrer Dissertation geht sie dabei den Phänomenen der Rekontextualisierung nach, die zwangsläufig zu Problemen bei einer solch voluminösen Kompilation aus Wolframs von Eschenbach „Parzival“, den drei ersten altfranzösischen „Continuations“ Chrétiens de Troyes „Conte du Graal“, der sogenannten „Elicudation“, einigen Strophen mittelhochdeutscher Minnelieder sowie einem von Philipp Colin verfassten Epilog führen.

Bei ihrem Vorgehen ist es Chen wichtig, den Kompilatoren um Philipp Colin und Claus Wisse kein mechanisches Vorgehen beim Übersetzen und Zusammenfügen zu unterstellen, wie in älterer Forschung stets getan. Vielmehr betont sie, dass die Bearbeiter bewusst Episoden auswählten, Textstellen hinzudichteten, glätteten oder strichen und schreibt somit allen Beteiligten ein gewisses Talent und den Willen zur Arbeit am Text zu. Damit hebt sie die enorme Eigenleistung des Bearbeiterteams hervor.

In ihrer Untersuchung bedient sich Chen des Modells der narrativen Kohärenz und des modernen Modells der Komplementarität (komplementär = ergänzend, vervollständigend), um komplexe literarische Phänomene zu beschreiben. In ihrem zweiten Kapitel leitet sie die von ihr verwendeten Begrifflichkeiten her: Zunächst recht knapp ihre Verwendung des Begriffs der narrativen Kohärenz, etwas zu detailliert dagegen zeigt sie verschiedene Blinkwinkel auf Komplementarität aus verschiedenen Disziplinen auf, bis hin zur Verwendung des Begriffs bei Niels Bohr in der Quantenphysik. Die Begründung schließlich, warum ein Annähern an den Text über die Begriffe der Inkohärenz und der Komplementarität erfolgen sollte, ist einleuchtend: durch die uneinheitliche Raum-Zeit-Struktur sowie weitere handlungslogische Widersprüche entstehen an verschiedenen Stellen gedoppelte (fiktive) Wahrheiten. Ein solch künstlich erzeugter und zu einer Einheit erklärter Widerspruch erinnert an eine moderne Wahrheitsauffassung, die als ‚komplementär‘ bezeichnet wird.

Chen schließt sich mit ihrer Arbeit dem Bestreben neuerer mediävistischer Studien an, die in mittelalterlichen Schriften weitverbreiteten Widersprüche als ein geistiges Merkmal der Epoche anzuerkennen.

Ihre sechs Analysekapitel widmen sich nacheinander den verschiedenen Textteilen, die der „Rappoltsteiner Parzifal“ vereint: Chrétiens „Perceval ou le Conte du Graal“, Wolframs „Parzival“, der „Première Continuation“, der „Seconde Continuation“, der „Troisième Continuation“ und dem „Rappoltsteiner Parzifal“, wobei sie sich bei letzterem auf die in Eigenleistung der Kompilatoren entstandenen Textteile beschränkt. Nacheinander behandelt sie die diversen Vorlagen unter Berücksichtigung des neuen Kontextes, den sie im „Rappoltsteiner Parzifal“ erhalten.

Als Vorführbeispiel für Komplementarität in Chens Verständnis wählt die Rezensentin die Parzival-Gawan-Handlung. Zwar werden die Handlungsstränge der beiden Helden im Erzähltext getrennt voneinander erzählt, doch durchdringen sie einander an manchen Stellen gegenseitig. Chen nennt Verweise zwischen Figuren und Episoden, die ein quasi-kausales Abhängigkeitsverhältnis suggerieren. Parzivals Weg gestaltet sich christlich-religiös, Gawans gegenteilig, nämlich weltlich. Zudem verweist Chen auf direkte und indirekte Eingriffe der Helden in den jeweils anderen Handlungsstrang. Die Wege der beiden Helden verlaufen entgegengesetzt, dennoch brauchen sie einander, um ihr Ziel zu erreichen, sie durchdringen einander, ergänzen einander: dies ist Chens Komplementaritätsbegriff.

Als weitere komplementäre Paarungen beschreibt Chen Parzival und Sigune, Parzival und Trevrizent, Parzival und Condwiramurs, Gott und Mensch sowie Gral und Ritter. Aber auch Artusreich und Gralsreich, Rittertum und Religion, Providenz und Wille weisen komplementäre Züge auf, genauso wie ganz allgemein das Nebeneinanderstehen alternativer Wahrheiten. Komplementär zueinander stehen auch die auf ewig verlorene Unschuld der Feen aus der „Elucidation“ und die Heilung des Fischerkönigs mit dem Wiederaufblühen des Landes.

Das Kapitel über den titelgebenden Text, den „Rappoltsteiner Parzifal“, fällt ein wenig aus der Reihe. Hier untersucht Chen den Prolog, die Minnestrophen, die einzige Miniatur in der Karlsruher Handschrift V (Badische Landesbibliothek, Codex Donaueschingen 97) und den Epilog, wobei sie sich auf Inkohärenzen und die Einordnung in den Gesamtkorpus konzentriert.

Auch in den anderen Kapiteln arbeitet Chen neben der Komplementarität Kohärenzprobleme heraus, die sich zwangsläufig aus einer Zusammenstellung solcher Art ergeben, wie das gleichzeitige Verheiratet-Sein und Nicht-Verheiratet-Sein von Parzival und Condwiramurs, Parzivals zweite Minnedame, doppelte Erzählungen, wie die vom Aufbau von Belrapeire, oder die zweifache Erlösung des Fischerkönigs Anfortas.

In ihrer Schlussbetrachtung führt Chen ihre Beobachtungen zusammen und stellt fest, dass die Kompilatoren an einigen Stellen die sinnwidrigen Varianten bevorzugten, wenngleich die Möglichkeit bestanden hätte, ohne großen Aufwand die Widersprüche zu beseitigen. An wenigen Stellen entschieden sich die Bearbeiter allerdings dazu, Unlogisches zu glätten, um Kohärenz zu stiften. Dies geschah entweder in Eigenleistung, wie im Prolog, oder aber mithilfe eines Abgleichs der verwendeten Vorlage mit weiteren Textzeugen. Weiter arbeitet Chen heraus, dass die Kompilatoren die Widersprüche meist bevorzugten, selten sogar bewusst erzeugten. Darüber hinaus strichen Colin und Wisse auch Verse, die nicht ihren Vorstellungen entsprachen, um beispielsweise eine spezifische, positive Haltung gegenüber höfischem Rittertum zu generieren.

Insgesamt ist Chens Dissertation ein gelungenes Werk, das veraltete Forschungsmeinungen hinter sich lässt, um die Eigenleistungen der Kompilatoren zu würdigen und den „Rappoltsteiner Parzifal“ als eigenständiges Kunstwerk anerkennt. Neben den Betrachtungen zur Komplementarität gibt die Studie zusätzlich einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum Textkorpus, beinhaltet eine Liste aller Überlieferungsträger des „Conte du Graal“, seiner „Continuations“ und der „Elucidation“ sowie ein Überschriftenverzeichnis für den „Rappoltsteiner Parzifal“. Da ist es sehr bedauerlich, dass ein letztes nötiges Lektorat wohl leider ausgeblieben ist.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Yen-Chun Chen: Ritter, Minne und der Gral. Komplementarität und Kohärenzprobleme im ‚Rappoltsteiner Parzifal‘.
Studien zur Historischen Poetik Band 18.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2015.
370 Seiten, 74,00 EUR.
ISBN-13: 9783825364373

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch