Macht und Gewalt im Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

Zum Tagungsband „Power and Violence in Medieval and Early Modern Theater“ herausgegeben von Cora Dietl, Christoph Schanze und Glenn Ehrstine

Von Rostislav TumanovRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rostislav Tumanov

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ein anderes Thema hat die Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahren so intensiv beschäftigt, wie die Gewalt. Die Erforschung historischer Theatertexte und Aufführungspraktiken bildet hier keine Ausnahme. Eine aktuelle Entwicklung in diesem Forschungszweig ist die Beschäftigung mit dem Verhältnis von theatral dargestellter und real in der Gesellschaft ausgeübter Gewalt.

Auch der vorliegende Band ist in diesem Kontext zu sehen. Ihre Inspiration zieht die Publikation, so das Vorwort, aus den Ergebnissen des ersten Kolloquiums der Sektion Deutschland/Österreich/Schweiz der Société Internationale pour l’Étude du Théâtre Médiéval, das 2012 stattfand. Das Ergebnis dieses Kolloquiums war, dass man die Darstellung von Gewalt im mittelalterlichen Spiel und Theater am besten über den Konnex der lateinischen Begriffe potestas, vis und violentia begreifen kann. Alle drei Termini lassen sich im Deutschen mit verschiedenen Bedeutungen des Wortes Gewalt übersetzen. So ist unter potestas eine Form herrschaftlicher Macht zu verstehen, mit der das Vorrecht einhergeht, legitimierte Gewalt gegen andere auszuüben. Bei vis handelt es sich um eine solche Form erlaubter Kraft- oder Gewaltausübung, die entweder durch potestas sanktioniert oder durch ein Regularium, wie beispielsweise den ritterlichen Ehren- und Verhaltenscodex, normiert ist. Als violentia ist schließlich die exzessive, unerlaubte, keinen Regeln gehorchende Gewalt zu verstehen.

Das Ziel der Beiträge des Tagungsbandes ist es, die Interaktionen und Beziehungen zwischen den Elementen dieses Begriffstripels auszuloten. Die szenische Darstellung von Gewalt soll demnach nicht als ein losgelöstes Phänomen begriffen werden. Vielmehr gestaltet sich diese als Ausdruck von Machtstrukturen und erlaubt es, die Legitimität dieser Machtausübung zu diskutieren.

Die im Band versammelten Beiträge konzentrieren sich auf Quellen, die zwischen 1470 und 1570 in den deutschsprachigen Teilen Europas entstanden sind. Diese zeitliche Rahmensetzung erlaubt es, neben katholischen auch frühe protestantische Dramen zu betrachten. In diesen wird ebenfalls Gewalt dargestellt, doch kommt ihr dabei offenbar eine andere Bedeutung und Funktion zu.

Um dem Thema und der Quellenlage besser gerecht zu werden, liegt der Publikation eine explizit interdisziplinäre Herangehensweise zu Grunde. Dabei soll Theater- und Literaturgeschichte mit kunst-, musik- und sozialhistorischen sowie theologischen und liturgiewissenschaftlichen Ansätzen zusammengebracht werden.

Ein Problem, das der gesamten kulturwissenschaftlichen Gewaltforschung eigen ist, betrifft auch diesen Band: Die konkrete Definition dessen, was nun eigentlich als Gewalt verstanden wird, ist gar nicht so leicht zu treffen. Auch die gerne angenommene Unterscheidung von körperlicher, verbaler und struktureller Gewalt erweist sich als problematisch, da die Übergänge oft fließend sind. Die Autor_innen treten dieser Schwierigkeit jedoch grundsätzlich effektiv entgegen, indem sie die für ihre Beiträge jeweils gültige Begriffsdefinition klar formulieren.

Bereits der erste der zehn in dieser Publikation versammelten Beiträge kann den thematischen Ansatz des Buches und dessen Komplexität anhand konkreter Beispiele verdeutlichen. Die Autorin Jutta Eming untersucht hier die Rolle, die Darstellungen von Gewalt gegen Christus in Passionsspielen spielen können. Bisher war es Konsens, solchen Szenen primär drei Funktionen zuzusprechen: Das Publikum sollte zuallererst Mitleid mit dem geschundenen Sohn Gottes spüren und zugleich eine negative Einstellung gegenüber seinen Peinigern einnehmen. Schließlich konnten sie durch die Betrachtung dargestellter Gewalt eigene unterdrückte Fantasien und Begehren gewissermaßen harmlos ausleben. Ohne diese Überlegungen in Frage zu stellen, weist die Autorin auf ihre Begrenztheit hin. Die Schächer, die Christus martern, agieren nämlich als Vertreter einer weltlichen potestas. Somit ist es nicht die Gewaltausübung als solche, die falsch ist, denn sie ist ein Privileg jeder machthabenden Instanz. An der Rechtmäßigkeit dieses Privilegs als solchem besteht auch kein Zweifel. Das eigentlich Falsche liegt demnach nicht darin, dass Gewalt im Namen der potestas ausgeübt wird. Es ist vielmehr die Tatsache, dass sie sich gegen ein Ziel richtet, dass nicht nur unschuldig, sondern auch der Sohn des einzig wahren Gottes ist. Eming unterstreicht ihre These anhand einer Szene aus einem Passionsspiel, in dem Gott selbst seine potestas durch die Androhung und Veranlassung von Gewalt ausdrückt.

Ebenfalls bemerkenswert ist der Beitrag Heidy Grecos. Hier kann die Autorin zeigen, wie die Aufführung des Donaueschinger Passionsspiels in Luzern konkret auf Gewaltakte rekurrierte, die im Rahmen des Rechtsvollzugs in der Stadt wirklich praktiziert wurden.

Nicht alle Artikel des Bandes sind jedoch dem im Prolog formulierten Ansatz in gleichem Maße verbunden. So beschäftigt sich beispielsweise der Beitrag von Stefan Engels nur recht beiläufig mit der Frage nach der Darstellung von Gewalt und ihrer Verknüpfung mit sozialen Machtstrukturen. Stattdessen liegt der Schwerpunkt seines Textes auf der Frage wie und in welchem Kontext ein bestimmter Marienklage-Gesang zur Aufführung kam.

Diesem kleinen Kritikpunkt zum Trotz bleibt jedoch die allgemein hohe Qualität der in diesem Buch enthaltenen Artikel zu betonen. Eine gewisse Grundkenntnis der Thematik und Erfahrung in der Lektüre wissenschaftlicher Fachliteratur vorausgesetzt, eignet es sich gut zur vertiefenden Lektüre.

Schließlich soll noch angemerkt werden, dass das Vorwort und fünf der Artikel in englischer, die restlichen fünf Artikel in deutscher Sprache verfasst sind.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Cora Dietl / Christoph Schanze / Glenn E. Ehrstine (Hg.): Power and Violence in Medieval and Early Modern Theater.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014.
237 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783847103165

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