Der hohe Ton des Funkenkönigs

Hartmut Abendscheins „Flarf Disco“ bewegt sich zwischen Musik und Lyrik

Von Julian GärtnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Gärtner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist eine Papierhülle schon Lyrik? Mit Flarf Disco tastet Hartmut Abendschein die Synergien zwischen moderner Lyrik und Popsong neu aus. Alle zwei Monate erscheint das Popkultur-Magazin Spex mit einer CD als Zugabe. Ausgehend von den Musiktiteln auf der Papierhülle arrangiert der Lyrikband 60 Popgedichte in sechs Zyklen.

Abendscheins „Flarf“ als gesampelte Lyrik

Flarf ist Googles Werk und Autors Beitrag, wie einmal die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ titelte. Man gebe zwei Begriffe in die Google-Suche ein, wähle einige Ergebnisse aus und forme sie zu Gedichten. Diese werden wiederum über Websites und Mailinglisten verbreitet und neuverwertet. Das ist das Grundkonzept des Flarf-Kollektivs rund um die New Yorker Gary Sullivan, Sharon Messmer und K. Silem Mohammad. In Anschluss an einen Wettbewerb hat sich Flarf Anfang des neuen Jahrtausends in den Vereinigten Staaten, mehr noch als in Deutschland, als Bewegung etabliert. Ein Beispiel: Aus den Suchbegriffen „Michael Jackson“ und „Latex“ wird bei Sharon Messmer „What in the latex-rainbow-Monistat hell / is that big-haired pensioner doing / wriggling around to ‚Don‘t Stop Till Get Enough‘ / in a skin-tight latex leotard?“ Irritiert fragt sich das frisch ergoogelte Ich, weshalb der Rentner im Latex-Anzug zu Jacksons Disco-Funk-Song tanzt. Zwar steht Flarf in der Spannung aus technischem Know-how und kreativem Prozess, doch würde man es sich zu einfach machen, Flarf als Algorithmen-Lyrik abzutun. Flarf ist ein Konzept – teils aleatorisches Spiel und teils komponierendes Prinzip – ähnlich wie der Remix in der Musik.

Vielleicht wäre es daher angemessen, über Hartmut Abendscheins Flarf Disco als gesampelte Lyrik zu sprechen. Er substituiert die technizistisch wirkende Google-Suche der New Yorker durch ein kompilierendes Textverfahren: Bei Abendschein sind es „[d]ie Spex-Beilagen-CDs und des Autors Beitrag“, so Benedikt Sartorius im Vorwort. Die konventionelle literarische Textproduktion, mit der das New Yorker Kollektiv brechen wollte und zu der Flarf nach mehr als zehn Jahren selbst geworden ist, wird neuerlich überschritten. Anders als beim Flarf-Kollektiv kommen die Ergebnisse nicht mehr aus einem amorphen Online-Textkorpus, sondern aus der kondensierten Pop-Sprache der Musiktitel. Abendscheins Texte übersetzen, konfigurieren, mixen und schneiden sie neu zusammen. Die eindeutige, paratextuell-materielle Notation der Titel zur Musik wird zugunsten sprachlicher Mehrdeutigkeit aufgelöst.

Am Beispiel „im raum bochum deiner ferienwohnung“

IM RAUM BOCHUM DEINER FERIENWOHNUNG
ist kaum zeit für eine lüge

den neunzehner bitte für
deine empfindlichkeit den ratso rizzo
brauche ich für deine liebe

ein funkenkönig friert
in meinem reich
ich bin kein einbrecher
alter freund
ich bin nur der möchtegern der l a
und das ist gut so

doch wär ich gern der könig
der chaoshorden
und tanzte schmutzig
zu meinem theremin

dann würde ich aus dem gefängnis ausbrechen
hinauf auf einen berg
in die verhüllung
zwischen stillstand und phantasie
ich wär gerne das system eines lands
das sich immer verändert

Im dritten Zyklus die erde umarmen beginnt ein Gedicht mit dem Vers-Zweizeiler: „im raum bochum deiner ferienwohnung / ist kaum zeit für eine lüge“. Das lyrische Ich spricht – halb feststellend, halb anrufend – ein Du im Enjambement an. Die Sprechsituation ist als raumzeitlicher Sonderbereich umschrieben, in der die spezielle Parzellierung des Raumes im Binnenreim auf die Knappheit der Zeit trifft. Im Terzett danach spricht das Ich, das hier erstmals als solches markiert wird, durch das Anakoluth mündlich-lebhaft und zugleich bittend-liebesbedürftig. Orthographie und Interpunktion werden nivelliert. Möglich ist, dass gerade die emotive Sprechweise des lyrischen Ichs hier die grammatischen Beziehungen unentscheidbar werden lässt: Die Gefühle des Dus bleiben unerreichbar für das Ich. Im folgenden Zweizeiler spricht es von einem „frierenden Funkenkönig“, der mehr als Neologismus ist: Neben der metaphorischen wird hier die lautliche Seite durch Alliteration betont. Ähnlich wie es Diedrich Diederichsen für die Pop-Musik sagt, könnte man hier von einer heteromännlichen Lyrik-Körperlichkeit sprechen, die durch eine Codierung der Stimme als weiblich und hoch – man denke an die Kölner Funkemariechen – überschritten wird. Nicht nur Liebe, Herrschaft und Tanz treffen hier aufeinander, sondern sie sind mit einem größeren semantischen Subtext unterlegt: Es sind die Musiktitel der 34. Spex-CD von 2003, um nur einige zu nennen: Ferienwohnung von Kamerakino, Ratso Rizzo von Laptop, und Bochum von Six By Seven. Das wäre dann die Transgression der Transgression.

Das Gedicht ist semantisch gegliedert: Die folgenden zwei Quartette und das Sextett beziehen sich ausschließlich auf die 82. Spex-CD, die 2009 erschienen ist. Die Rede des Ichs oszilliert – in Abwandlung von Wannabe in L.A. der amerikanischen Band Eagles of Death Metal von einer Beteuerung und Beschwichtigung hin zur Selbst-Affirmation, die ein bisschen an Klaus Wowereits berühmte Aussage „Ich bin schwul und das ist auch gut so“ anklingt. Im Konjunktiv II geht es weiter: Das Ich wäre gerne hierarchisch übergeordneter Musikherrscher und beteiligter Tänzer einer chaotisch-unorganisierten Masse zugleich. Das Du wird dann nicht mehr als Adressat angesprochen, als sich das Ich ins Phonotop seiner eigenen DJ-Phantasie zurückzieht. Mit Maximilian Lenz alias Westbam lässt sich das als metatextueller Kommentar zum Flarf lesen: „Warum die Arbeit eines DJ so gering schätzen, warum die eigene Autorität derjenigen des Komponisten unterordnen: Ein Mix, der sich komplett vom zugrundegelegten Musikstück emanzipiert, wird zur eigenen Komposition, der DJ wird zum Komponisten, sogar im Sinne des Autorenrechts.“

Das finale Sextett spielt Folgen durch, indem es – immer noch im Konjunktiv II – die Sprechsituation ins ungewiss Zukünftige verlegt. Warum aber zieht es das Ich in die Verhüllung? Zum einen wird der intime Sonderbereich vom Anfang als beengter Überwachungs- und Strafbereich lesbar, zum anderen kommt die Bewegung auf den hohen Berg gewissermaßen der erneuten Einengung durch die Verhüllung gleich. Die raumzeitliche Bewegung korreliert mit einer metaphysischen: Mit Giorgio Agamben ließe sich sagen, dass das Ich „als silberne[s] Figürchen [erscheint], das gegen seine Einkleidung erbitterten Widerstand leistet, als ein einzigartiges Sinnbild der Weiblichkeit, durch die die Frau zur hartnäckigen Hüterin der paradiesischen Nacktheit wird“. Die Verhüllung ist dabei immer noch ein transgressiver Zustand, eine Art metaphysisches Crossdressing zwischen Stillstand und Phantasie: „ich wär gerne das system eines lands / das sich immer verändert“, heißt es in leicht agrammatischer Weise. Man muss daraus nicht schließen, dass das Ich hier ein dynamisch-travestierendes System werden will. Man kann die Verse auch als simple Referenzen zu den Songs System von Tarek Lynns und This land will change von Viktor Marek verstehen. Vielleicht fängt die Papierhülle hier an, Lyrik zu werden.

„Flarf Disco“ braucht den Leser

Kennt man ein Flarf-Gedicht, glaubt man, alle Flarf-Gedichte zu kennen. Flarf ist immer dann in Gefahr monoton zu werden, wenn das technisch-syntaktische Moment droht, Selbstzweck zu werden. Abendscheins Flarf Disco aber sampelt Lyrik und versucht – etwa durch clever abgemischte Popsong-Referenzen – auf semantischer Ebene den Reiz zu verschaffen, der dem Konzept an sich viel zu schnell abgeht. Es braucht dazu den Leser, der idealiter Fan und Philologe zugleich ist. Das ist streckenweise vielleicht auch illusorisch: Die Popsongs wollen erst einmal erkannt sein, während die schier unendliche Menge der Gedichte kein Ende nimmt. Flarf Disco ist anstrengend, schweißtreibend und manchmal muss man verschnaufen oder ist aus dem Takt. Das gehört bei Abendschein mutmaßlich zu seinem speziellen Flarf. Nach Dirk Schroeder trägt er damit nicht nur zur Verbreitung eines interessanten Lyrik-Konzepts in Deutschland bei, er verändert es auch: Entlang des CD-Turms voller Spex-Papierhüllen zieht die Popmusik der 2000er-Jahre vorbei und kommt, in guter Lyrik verpackt, neu zu Gehör.

Titelbild

Hartmut Abendschein: Flarf Disco. Popgedichte.
edition taberna kritika, Bern 2015.
92 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783905846348

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