Ein buntes Sammelsurium

Vladimir Vertlibs Roman „Lucia Binar und die russische Seele“ bietet ein humoristisches und kurzweiliges Lesevergnügen

Von Silke SchwaigerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silke Schwaiger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wenn ich jetzt sterbe, dann kann ich damit leben.“ Einen wohl besseren ersten Satz hätte sich Vladimir Vertlib für den Einstieg in seinen neuen Roman „Lucia Binar und die russische Seele“ nicht einfallen lassen können. Er charakterisiert nur allzu treffend seine Ich-Erzählerin und Hauptfigur Lucia Binar. Der Autor stattet die 83-Jährige mit viel Humor, Lebensweisheit, Sympathie und einer guten Prise Zynismus aus. Die rüstige Dame, die seit Kindheitstagen in der Großen Mohrengasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk wohnt, hat – wie ihr Stadtteil – bereits einiges an Geschichte hinter sich:

Als unsere Straße mit Hakenkreuzfahnen beflaggt wurde, war ich fünf Jahre alt. Als die letzten Juden unseres Viertels deportiert wurden, war ich neun, als die ersten Bomben fielen, war ich zehn, als der Kampf um Wien tobte und der Krieg bald danach zu Ende ging, war ich zwölf, als Österreich wieder frei wurde, war ich zweiundzwanzig, als die ersten Gastarbeiter in unsere Gegend kamen, war ich dreiunddreißig. Dann wiederholte sich manches, was ich von früher kannte.

Eines Tages steht ein „androgynes Wesen“, Mitglied des Vereins „Straßennamen gegen Rassismus“, vor ihrer Tür und bittet um eine Unterschrift für die Umbenennung der Großen Mohrengasse in die Große Möhrengasse. Für Lucia steht jedoch fest: „In der Großen Mohrengasse wurde ich geboren. In der Großen Mohrengasse werde ich sterben.“   

Lucias Verbleib im Haus ist aber mehr als unsicher, denn der Hausbesitzer, Herr Diplomingenieur Wilhelm Neff (alias „Willi“ oder „Häuser-Willi“) plant dessen Neusanierung. Um die Wohnungen später teuer weitervermieten zu können, muss er die alten Mieter erst vertreiben. Dafür ist ihm jedes Mittel recht …

Vertlib durchsetzt seine Erzählung mit Anspielungen auf einen österreichischen (Wiener) Kontext. „Häuser-Willi“ etwa lässt in die Große Mohrengasse Obdachlose und Punks einziehen und hofft, dass diese die letzten HausbewohnerInnen vertreiben mögen. Vertlib spielt dabei auf die Hausbesetzung „Pizzaria Anarchia“ 2014 in Wien an. Der Hauseigentümer, so hieß es in einzelnen Medien,  holte sich „Störenfriede“ ins Haus, die die letzten (Alt-)Mieter hinausekeln sollten, damit der Bau gewinnbringend saniert und danach teuer weitervermietet werden könne. Mit einer Solidarisierung der beiden Gruppen gegen die geplante Gentrifizierung rechnete der Eigentümer jedoch nicht – daher kam es schließlich zur polizeilichen Zwangsräumung des Hauses. Der Roman ist in Bezug auf die spezifisch „österreichischen“ (oder eigentlich Wien-spezifischen) Verweise unglaublich vielschichtig. Viele humorvolle Anspielungen erschließen sich erst aus diesem Kontext heraus. Eine Bewohnerin des Hauses etwa beschwert sich bei Lucia, sie hätte von „Häuser-Willi“ ein wenig lukratives Wohnungsangebot bekommen: „Transdanubien, am Arsch der Welt, aber mit künstlichem See. Als ob eine Pfütze mein Herz erfreuen würde. Der Willi hat dort rechtzeitig und wahrscheinlich sehr billig einige Grundstücke erworben.“ Boshafte Menschen mögen dies vielleicht als Persiflage auf Wiens neu errichteten Stadtteil „Seestadt-Aspern“ lesen.

Der Romanbeginn liest sich – wie vom Autor gewohnt – leichtfüßig und humoristisch. Die Erzählung ist allerdings komplexer als die erste Schilderung vermuten lässt. Da eines Tages Lucias „Essen auf Rädern“-Lieferung ausbleibt, ruft sie die Nummer des „Sozialen Notrufs“. Doch eine genervte Telefonistin, Elisabeth, gibt ihr den Rat, sich doch über das Wochenende mit dem Verzehr von „Mannerschnitten“ oder Knäckebrot zu retten. Lucia, von der dreisten Antwort verärgert, macht sich gemeinsam mit Moritz, so der Name des „androgynen Wesens“ und Straßennamen-Aktivisten, auf die Suche nach Elisabeth.

Den Haupterzählstrang um Lucia Binar und die Suche nach Elisabeth, der eigentlich bereits genug Stoff für einen Roman bietet, versucht Vertlib mit einem zweiten zu verknüpfen. Es bleibt dabei jedoch, wie gesagt, bei einem Versuch, denn die beiden Erzählstränge geben den Anschein, als handle es sich um zwei nebeneinanderherlaufende Romane. Die Verbindung zwischen den beiden Haupterzählungen ist die Figur Elisabeths.

In der zweiten Erzählhandlung geht es um den ehemaligen russischen Lehrer Alexander, der bei einem Liftumfall eine Elisabeth (Lucias Elisabeth) kennenlernt. Elisabeth, die sich in Alexander verliebt, ist alleinerziehende Mutter; ihr Mann verstarb bei einem Autounfall. Alexander, „baschkirischer Herkunft. Sein Vater war zur Hälfte Tschuwasche und zur Hälfte Deutscher gewesen“, erzählt Elisabeth aus seiner Vergangenheit. Beim Begräbnis seiner Tante lernte er Viktor Viktorowitsch (Michail Bulgakows Voland lässt grüßen!) kennen. Die Begegnung mit dem Fremden, der wie viele andere Figuren mit Mehrfachidentitäten ausgestattet ist und für die anderen Charaktere eher ambivalent bleibt, sollte für Alexander, und so später auch für Elisabeth, weitreichende Folgen haben. Das breite Spektrum an Figuren und Erzählungen, die zum Teil in der Gegenwart und in der Vergangenheit angesiedelt sind, werden schließlich gegen Ende des Romans zusammengeführt. Höhepunkt und Romanende ist eine Séance des russischen Maestro Viktorowitsch. Ein Programmpunkt dieser magischen Vorstellung ist die bereits im Romantitel angekündigte „russische Seele“.

Vertlibs Roman ist durchzogen von intertextuellen literarischen Referenzen. Dem Buch voran etwa stellt er drei Zitate – von William Shakespeare, Ossip Mandelstam und Zehra Çırak. Sie scheinen, da prominent platziert, tonangebend, wenngleich sich deren Bedeutung auch nach der Romanlektüre nicht ganz zu erschließen vermag. Auch Lucia etwa ist passionierte Lyrik-Leserin und zitiert gerne mal – aus ihrem Gedächtnis, daher mit einigen kreativen Veränderungen – eine ihrer LieblingsdichterInnen, zu denen etwa die polnischen Literaten (und LiteraturnobelpreisträgerInnen) Wisława Szymborska und Czesław Miłoszo zählen. Lyrik ist für sie Teil des Alltags, eine Art „Lebenshilfe“, auf die sie nicht nur in schwierigen Situationen gerne zurückgreift. Darüber hinaus liest sich der zweite Romanteil stellenweise als eine Persiflage auf Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“. Einige von Vertlibs Romanfiguren mögen deshalb so manchen LeserInnen vertraut erscheinen.

Der Roman ist ohne Zweifel komplex und vielschichtig, nicht zuletzt durch die vielen Intertexte und Anspielungen, die Vertlib in seinen Text mit einfließen lässt. Lucia Binar als literarische Protagonistin ist einfach grandios und vieles an Humor kommt durch ihren einzigartigen Blick auf die Welt zustande. Wie in anderen von Vertlibs Büchern geht es auch in diesem Roman um Identität und Zugehörigkeit – verhandelt werden diese vor dem Hintergrund einer Frau, die scheinbar die Welt nur aus der Perspektive ihres Viertels kennenlernte, gleichwohl aber ist ihr Blick offener, vorurteilsfreier und breiter als der von manch anderer Figur im Roman. Dennoch funktioniert Vertlibs Narration nur bedingt: Die humoristische Leichtigkeit, die der Romanbeginn verspricht, verfliegt im Laufe der Lektüre. Ein Zuviel an Figuren und Handlung wird aufgeboten, die nur – so scheint es – mit viel Mühe miteinander verbunden werden konnten. Wahrscheinlich ist dies auch der Grund, warum der Deuticke Verlag im Klappentext lediglich den ersten Handlungsstrang, die Lucia Binar-Erzählung, ankündigt – die fiktive „russische Seele“, der zweite Erzählstrang, bleibt unerwähnt. Vertlibs Erzählen wirkt zu konstruiert, zu gewollt und bildet mehr ein buntes Sammelsurium an Geschichten und Handlungen, denn ein großes Ganzes. Größere, gesellschaftskritische Themen, die im Roman angesprochen werden, wie Political Correctness, Rassismus oder Sexismus, wirken stellenweise affektiert. Macho Branko etwa wird während der magischen Séance von Viktor verwandelt: „Du bekommst die einmalige Chance, das Leben aus der Perspektive einer Frau zu erleben, nachdem du es schon als Mann mehr schlecht als recht kennengelernt hast. Ist das nicht wunderbar? Eine Bewusstseinserweiterung“. Und die Moral von der Geschichte: Er verspricht, in Zukunft Frauen mit Respekt zu behandeln und rücksichtsvoller zu sein.

Schade, eine wunderbare Protagonistin und ein starker Einstieg – der erste Satz hält aber nicht, was er suggeriert. Was bleibt, ist der schwerfällige, bemüht bedeutungsschwere Schlusssatz:

Während Elisabeth sich langsam erhob, schaute sie das erste Mal in den großen Wandspiegel, der das hellgrüne Wohnzimmer zu vergrößern schien und seine morbide Eleganz ins scheinbar Unendliche prolongierte, und als sie die Silhouette der Innenstadt im rötlichen Sonnenlicht betrachtet, wusste sie plötzlich, dass sie als nächstes weder beten noch hoffen oder über die Bedeutung von Bildern und Worten nachdenken, sondern in eine Konditorei gehen würde, um Alexander einen Punschkrapfen und einen Rehrücken zu kaufen, damit für ihn der Samstag im Bett nicht allzu bitter verlaufen und sein Genesungsprozess rasch voranschreiten würde.  

Titelbild

Vladimir Vertlib: Lucia Binar und die russische Seele. Roman.
Deuticke Verlag, Wien 2015.
319 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552062825

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