Rückkehr ohne Bleiberecht

Giorgio Chiesuras Roman „Hingabe“ erzählt vom Schicksal eines KZ-Rückkehrers auf dem schmalen Grat zwischen Wahnsinn und Sinnlichkeit

Von Sarah WiesenthalRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Wiesenthal

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die explizite Darstellung des Zusammenspiels von Sex und Gewalt im Faschismus Kontroversen auslöst, bewies Pier Paolo Pasolini bereits 1975 mit seinem Film Die 120 Tage von Sodom. Auch die Inszenierung eben dieses vom Marquis de Sade entwickelten und von Pasolini aufgegriffenen Stoffes durch Johann Kresnik an der Berliner Volksbühne im Mai diesen Jahres rief zwiespältige Reaktionen hervor, zumal das Stück wegen seiner schockierenden Szenen erst ab 18 Jahren freigeben war.

Giorgio Chiesuras Roman Hingabe lässt aufgrund seiner Auseinandersetzung mit Fragen von Schuld, Täter- und Opferschaft, Erotik, Pornografie, Unterwerfung und Gewalt sofort an Pasolinis Werk denken. Dabei nähert sich Hingabe dem Thema zunächst auf eine sehr viel subtilere, ruhigere und einsamere Art und Weise, ohne dabei aber an Eindringlichkeit, Intensität und Entsetzen auf Seiten der Leser einzubüßen.

Ich-Erzähler ist ein aus den deutschen Lagern in seine Heimat, eine norditalienische Kleinstadt im Veneto, zurückgekehrter Jude, ein ehemaliger Kapo. Einziger Überlebender der gesamten Familie und somit auch einziger Erbe, wird er plötzlich zum Besitzer eines immensen Reichtums bestehend aus Geld, Häusern und Ländereien. Anstatt jedoch nach und nach in sein ehemaliges Leben vor dem Krieg zurückzufinden, wie es die Bewohner der Kleinstadt erwarten, tritt dem Protagonisten immer deutlicher die Unmöglichkeit von Leben schlechthin vor Augen. Er zieht in das ehemalige Landgut seiner ermordeten Verwandten und entlässt sämtliche Pächter und Verwalter. Er kümmert sich nicht um die Ländereien, das Haus und sich selbst und verwahrlost immer mehr.

Dahingegen kehrt in seinem Inneren keine Ruhe ein, befindet er sich doch noch immer inmitten des „Orkans“ wie er das Erlebte bezeichnet. „Groll“ wird ihm von Stadtbewohnern vorgeworden, Rachsucht und „Unerbittlichkeit“. Wie wenig all dies zutrifft, wie sehr es allein das äußere Verhalten des Protagonisten beschreibt und keine Ahnung vom Sturm in ihm hat, verdeutlicht der Erzähler, wenn er in seiner wilden und verzweifelten, aber gleichzeitig nüchternen, erstaunlich klaren Sprache sagt: „es war einzig und allein und vollständig eine unermessliche, unfassbare, unerträgliche Schande, die in meinem ganzen Innern brüllte, mich zerquetschte und verkrümmte. Und jetzt können wir fortfahren“. Unendliche Scham ist eines der großen Themen dieses Romans und seines Protagonisten. Wie lässt es sich leben mit dieser immensen untilgbaren Scham für die Dinge, die er tun musste, um zu überleben? Die „unermessliche Scham vor dem, auf was zu sein uns der Orkan reduziert hatte, vor dem, was sie uns angetan und was zu tun sie uns gezwungen hatten“. Eingebrannt ist dem Protagonisten also neben dem ganzen erlebten Grauen, dem Leid und den Entbehrungen vor allem die Scham. Sie klebt an ihm und erscheint als ein perfider Schachzug seiner Peiniger, ihm noch nach seiner Befreiung das Leben auf alle Zeit unmöglich zu machen.

Kurzzeitige Erleichterung verschafft dem Protagonisten einzig das Erfassen und Erleben seiner Umgebung mittels einer Fotokamera. Von früher mit der Technik vertraut, gibt sie ihm nun die Möglichkeit, zu überleben, als würde diese Technik für die lebensrettende Distanz zwischen ihm und den Dingen sorgen, eine Distanz, in der die Scham – wenn sie auch nicht verschwindet – zumindest erträglich wird. Chiesura greift neben den nüchternen Schilderungen gern auf Tiermetaphern und Bilder zurück, um das Grauen zu veranschaulichen. So fotografiert der Protagonist widerwärtige Insekten und Tiere sowie „nur das, was tot, vertrocknet, gequält, erfroren, schmutzig, hässlich“ ist. Er tapeziert die Wände seines Hauses mit grotesken Vergrößerungen dieser ekelerregenden und abstoßenden Welt.

Mit Pasolini, auf den auch der Klappentext des Romans zu Recht verweist, verbinden Chiesura neben der zentralen Darstellung des Zusammenwirkens von Unterwerfung, Sex und Gewalt weitere Themen. Wie der Filmregisseur zögert auch Chiesura nicht, ekelerregendste physische und psychische Prozesse bis ins kleinste Detail zu schildern und den Leser mit der expliziten Darstellung von Sadismus, Körperöffnungen und -flüssigkeiten an die Grenzen des Erträglichen zu bringen. Gleichzeitig eint beide Autoren die Hoffnung auf seelische Reinigung durch den Kontakt zur ursprünglichen bäuerlichen Welt. Was Pasolini an Ursprünglichkeit in den römischen Vorstadtjungen findet, ist bei Chiesura das Bauernmädchen Tonina, welches eines Tages unverhofft in das Leben des Erzählers tritt.

Angepriesen von einer märchenhaften Alten beginnt sie nach anfänglicher kategorischer Weigerung des Protagonisten, sich um dessen Haushalt zu kümmern. Dass er dies letztlich zulässt, verdankt Tonina vor allem der Tatsache, dass er bei ihrem Anblick Begehren verspürt hat. Ein Gefühl, von dem er bis dahin überzeugt war, ihm auf ewig entsagen zu müssen, da die immense Scham es verhinderte. Die unverhoffte Freude weicht jedoch einem jähen Entsetzen, als der Protagonist feststellt, dass er sie nicht berühren kann, ohne einen furchtbaren, schmerzhaften Ausschlag zu kommen. Allein durch die Linse der Kamera ist es ihm möglich, ihr näher zu kommen.

Der Erzähler beginnt Tonina regelmäßig und ausgiebig zu fotografieren und dadurch sein Begehren auszuleben, in der verzweifelten Hoffnung irgendwann von seiner Berührungsunfähigkeit geheilt zu werden. Nähert sich der Protagonist seinem Lustobjekt zunächst unsicher und gehorcht sie ihm anfänglich vor allem widerwillig und trotzig, beginnt sich zwischen den beiden immer mehr eine Form der Liebe und der Hingabe zu entwickeln, die sich als äußerst vielschichtig erweist. Hingabe kann man die stoische Akzeptanz nennen, mit der sich Tonina jeder Laune ihres neuen, seltsamen Hausherren fügt. Hingabe die Haltung, mit der sie jede seiner Anweisungen befolgt, jede Verrenkung, jede neue Position akzeptiert. Hingabe schließlich auch den Umgang mit ihrem eigenem Körper. Ganz langsam wandelt sich die Hingabe, die zunächst nicht mehr als Schicksalsergebenheit in das Recht des Stärkeren und Mächtigeren ist, zu einer umfassenderen, sexuellen Hingabe, als sie ihren ersten Orgasmus erlebt und unter Anleitung des Protagonisten beginnt, nach und nach ihren Körper zu entdecken und Lust an ihm zu finden. Auch der Erzähler entdeckt zum ersten Mal in seinem Leben die weibliche Anatomie in all ihren Facetten. Er erlebt diesen Prozess wie im Wahn, vergeht zwischen Lust und Selbstkasteiung, zwischen Angst und dem unstillbaren Verlagen, sie zu berühren. Tonina scheint von seiner inneren Pein wenig mitzukommen und ist vielmehr verwundert, warum er sich nie nimmt, was ihm doch so viel Lust zu bereiten scheint.

Diese unverfälschte, ursprüngliche bäuerliche Hingabe, eine Hingabe ohne Hintergedanken und Manipulationsabsicht, war es auch, die Pasolini im römischen Lumpenproletariat suchte und zeitweise zu finden glaubte. Zwar hatte er zu Zeiten von Die 120 Tage von Sodom dieser Vorstellung schon abgeschworen, daran zeigt sich aber, dass die Parallelen zwischen Chiesura und Pasolini weiter reichen als über die bittere Erkenntnis vom perfiden Zusammenhang zwischen Sex und Gewalt. Ebenso ist ihnen der Traum von einer Heilung über das Ursprüngliche gemein. Während der frühe Pasolini der korrumpierten, konsumverseuchten modernen Gesellschaft über den sexuellen Kontakt mit der naturverbundenen Ursprünglichkeit der Vorstadtjungen zu entkommen versuchte, berauscht sich Chiesuras Erzähler an der Lebendigkeit und sich hingebenden ursprünglichen Sexualität Toninas.

Dabei sitzt er permanent der Illusion auf, Macht über sie zu haben. Sollte er sie jemals gehabt haben, geht sie verloren, sobald sich Tonina ihrer eigenen Reize und Anziehungskraft als Frau bewusst wird. Sie beginnt, heimlich Männer zu treffen und verlangt nach allerlei Schmuck und modischer Kleidung, die der Protagonist ihr nur widerwillig und aus Angst vor ihrem endgültigen Verlust zustimmt, zumal sie sein Bild von ihr als keusches, naturverbundenes Bauernmädchen zerstören, welchem er ganz bewusst nur traditionelle Bauerntracht als Kleidung zugestanden hatte.

Als Tonina von einem Tag auf den anderen verschwindet, zeigt sich, dass es eigentlich der Erzähler ist, der vom Wesen des Mädchens vollkommen abhängig geworden und ihm hingegeben ist. Verzweifelt begibt er sich sogar in das nahegelegene Städtchen, um nach Tonina zu suchen. Dort sieht er sich entsetzt einer vollkommen übersexualisierten Welt gegenüber. In Parks, auf Plakaten und in Zeitschriften, überall schlagen ihm Sex und nackte Frauen entgegen – widerwärtig, vulgär, abstoßend, in billigen Posen, ohne etwas mit seiner reinen Tonina gemein zu haben. Auch in der Beschreibung dieser Welt des leicht konsumierbaren Sexes, der jegliche Erotik abhandengekommen ist, scheint Pasolini anzuklingen mit seiner Kritik an der Konsumgesellschaft und der Suche nach ursprünglichen, sakralen Ritualen.

Tonina kehrt nicht zurück und der Wahn des Protagonisten steigert sich. Er engagiert neue Fotomodelle, allesamt grelle, vulgäre, geld- und rumgierige Mädchen aus der Stadt. Er beginnt sie, in einem alten Stall zu fotografieren, in der Gruppe nackt, auf allen Vieren, rasiert, übereinandergestapelt, im Kreis kriechend. Mit Farbe gibt er ihren Gesichtern ein leichenhaftes Aussehen, Licht und Schatten setzt er ein, um sie dürrer, knochiger, toter wirken zu lassen, fotografiert sie aus Winkeln, die ihre Knochen grotesk hervorstehen lassen und die Augen trüb und wie in Höhlen liegend zeigen. Er trinkt immer mehr, erkennt seinen Wahn, seine Obsession, seine Verzweiflung, seine Lust und trinkt noch mehr. Meisterhaft lässt Chiesura Täter- und Opferschaft in diesem Roman ineinander verschwimmen. „Ich konnte nicht begreifen, ich forschte nicht nach, weshalb Sex, Tod und Verzweiflung in mir so sehr verschmolzen, dass sich das eine mit solcher Selbstverständlichkeit zum anderen wandelte.“ „Bin ich etwa nicht, solange ich lebe, immer und ausschließlich ein Kapo?“ Sätze wie diese verdeutlichen das ganze Elend des Protagonisten. Er selbst ein Opfer, das zu einem Täter wurde und daran verzweifelt.

Im Kleinen und mit den abstrusesten Mitteln wiederholt der Protagonist das Lager in seinem Kopf, dem er nicht entkommen kann. Besessen von Körpern und Fleischlichkeit setzt er die Folter, der er ehemals ausgesetzt war, nun als eine Form der Selbstkasteiung fort. Wiederholung als Antwort auf die Unentrinnbarkeit der Erinnerung und des Erlebten. Sein Treiben findet ein jähes Ende, als die Modelle sich beschweren, dass er alle Fotos für sich behält und ihnen dadurch die Möglichkeit nimmt, als Model berühmt zu werden. Ihrer Meinung nach stelle er auf seinen Fotos antike Orgien nach. Erschütternd ist diese Reaktion –und ebenso drastisch reagiert der Protagonist darauf. Er zerstört die Fotos und kann sich nur gerade eben zurückhalten, wilde Hunde auf seine Modelle loszulassen. Entsetzt fliehen die jungen Frauen. Die Tatsache, dass sich die Mädchen bei Chiesura in ihrer Gier nach Ruhm und Geld freiwillig in die größtmögliche Erniedrigung begeben, während die jungen Menschen in Pasolinis Film zum Zweck der Grausamkeiten gefangen gehalten werden, treibt die Konsumkritik auf eine makabere Spitze.

Kurz nach der Flucht der Modelle kehrt Tonina zu dem Protagonisten zurück. Strahlender als je zuvor, ein Bild der Lebendigkeit und des Glücks mit kugelrundem Bauch. Lächelnd stimmt sie letzten Fotografien zu, bei der sich dem Protagonisten die unvermeidbare Analogie zwischen Tonina und den ermordeten Frauen im KZ aufdrängt, in deren bereits toten Körpern noch das ungeborene Leben zuckte.

Chiesura gelingt es, in Hingabe darzustellen, inwiefern die Hauptperson trotz ihres Überlebens des Konzentrationslagers ein Todgeweihter ist und bleibt. Meisterhaft veranschaulicht er den Kontrast zwischen Tonina als Verkörperung der Liebe, der Sinnlichkeit, der Erotik, der Mutterschaft und damit des absoluten Lebens und dem des Protagonisten, der krank ist, unfähig zu lieben und zu leben, ein innerlich Abgestorbener, gleichwohl besessen von dem Gedanken, zu den Freuden des Lebens zurückzukehren. Obwohl Tonina ihm allein durch ihre Existenz immer wieder vor Augen führt, wovon er ausgeschlossen ist, übt sie eine ungeheure Faszination und Anziehungskraft auf ihn aus. Am Ende jedoch ist er gezwungen, einzusehen: Trotz der rein objektiv möglichen Rückkehr ins Leben und in die ehemalige Heimat gibt es für ihn kein Bleiberecht.

Liebe als das Versprechen auf Leben, grenzenloses Grauen und Gewalt als der Stempel, der dem Protagonisten für immer eingebrannt wurde – Wie lassen sich diese beiden Themen verbinden? Der italienische Romantitel Devozione kann sowohl mit dem Begriff „Hingabe“ als auch mit dem Begriff „Unterwerfung“ übersetzt werden. Interessanterweise eröffnet gerade die Skala von Haltungen zwischen Hingabe und Unterwerfung den Spielraum für die unterschiedlichen Formen des Umgangs mit und der Verbindung von Sexualität und Gewalt. Damit erklärt sich auch, wie Hingabe trotz all des Grauens, der Scham und der Entsetzlichkeit ein erotischer Roman ist. Während sich Pasolinis Film vor allem aufgrund der ekelerregenden und schockierenden Bilder eines ganzen Systems an Unterdrückung, Sadismus und Gewalt einprägt, tut Hingabe dies mit der Intensität und Eindringlichkeit, mit der der Versuch eines einzelnen KZ-Rückkehrers geschildert wird, ins Leben zurückzukehren. Chiesuras Roman ist entsetzlich, schockierend und dennoch sehr bewegend. Er ist eine eindringliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dessen Grauen, ein Grauen, welches gerade durch die Sehnsucht und das unstillbare und gleichzeitig unmögliche Verlangen nach Leben und Liebe am deutlichsten beschrieben wird.

Kein Bild

Giorgio Chiesura: Hingabe. Roman.
Aus dem Italienischen von Monika Lustig.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2015.
248 Seiten, 23,95 EUR.
ISBN-13: 9783905951356

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch