Nonkonformismus

Tatjana M. Popovic hat Rosa Mayreders Novelle „Sonderlinge“ unter dem Titel „Traugott Wendelin“ neu herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der berühmte französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal vertrat bekanntlich die wenig philanthropische These, „dass das ganze Unglück der Menschen aus einem einzigen Umstand herrühre, nämlich dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können“. Rund zweieinhalb Jahrhunderte später sah dies ein wohl kaum über die Grenzen seines Heimatörtchens hinaus bekannter Gerichtspräsident ganz ähnlich, indem er „die Quelle aller menschlichen Übel“ in der Geselligkeit gefunden zu haben glaubte. Mit diesen aparten Auffassungen können sie beide zweifellos als Sonderlinge gelten.

„Sonderlinge“ lautet auch der Titel einer Novelle Rosa Mayreders. Dabei handelt es sich nicht um irgendeine Veröffentlichung aus dem ebenso umfangreichen wie vielseitigen Œuvre der österreichischen Autorin und Feministin. Denn nach eigenen Angaben trat sie mit ihr überhaupt „zum ersten Mal als Schriftstellerin vor die Öffentlichkeit“. Die Kurzgeschichte erschien 1896 in dem Novellenband „Aus meiner Jugend“ unter dem Verfasserinnennamen Rosa Mayreder-Obermayer. Im gleichen Jahr legte Mayreder allerdings noch eine zweite Publikation vor, das Libretto zu Hugo Wolfs komischer Oper „Der Corregidor“. Die kleine Erzählung aber hatte sie, wiederum nach eigenen Angaben, sogar schon 14 Jahre zuvor verfasst. Da war sie gerade einmal 22 oder 23 Jahre alt gewesen. Dies mag erklären, warum Darstellungsweise und Formgefühl noch nicht ganz ausgereift waren und die Handlung der Novelle, insbesondere das Zusammentreffen der Figuren, zuweilen recht konstruiert wirkt.

Von dem im Titel ihres Debüts genannten Menschenschlag der Sonderlinge gibt es in der Kurzgeschichte so einige. Sie alle sind männlichen Geschlechts und einer von ihnen ist der besagte Gerichtspräsident. Denn anders als Pascal ist er keine historische, sondern eine literarische Gestalt. Der namenlos bleibende Herr ist von ungepflegtem Äußeren und lebt seiner Ideologie gemäß – nur der sei ein „ganzer Mann, der es verstehe, sein Privatleben so einzurichten, wie es ihm angenehm und bequem sei“ – ganz zurückgezogen mit seiner 17-jährigen Tochter Merene und einer Haushälterin in einem äußerlich heruntergekommenen Haus. Dass er tatsächlich nur sich und seinen Geschlechtsgenossen die Freiheiten seiner Maxime zuspricht, zeigt sich bereits eine Seite später, als er seiner Tochter mit den Worten „du weißt, ich kann es nicht leiden, wenn du ungefragt sprichst“, herrisch über den Mund fährt. „Denn für die einzig richtige und natürliche Auffassung in der Behandlung der Weiber“ hält der Mann, dessen Misanthropie nur noch von seiner Misogynität übertroffen wird, „die orientalische; wer es nicht verstehe, unbeschränkter Herr in seinem Hause zu sein, der sei in Schwächling oder ein Narr“.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht allerdings eine andere Figur: Dr. Traugott Wendelin, kürzlich zugezogen und seither am Gericht des kleinen Ortes tätig. Ihn begleitet die Erzählstimme über das ganze Büchlein hinweg und geht dabei sogar so weit, ihn in Szenen, in denen seine Anwesenheit ganz und gar unpassend wäre, als Lauscher an die Wand zu stellen. Dabei wirft sie auch gerne einmal einen tieferen Blick in sein Innenleben. Wohl aus diesen Gründen hat sich Tatjana Popović, die Herausgeberin der Neuausgabe, auch dafür entschieden, Mayreders Novelle unter dem Titel „Traugott Wendelin“ zu veröffentlichen.

Darüber, wie das Übel in die Welt kommt, ist der Titelheld mit seinem Vorgesetzten ein wenig uneins, vertritt er doch nicht nur das „Ideal des korrekten Normalmenschen“, sondern ist der festen Überzeugung, die „Quelle aller menschlichen Übel“ sei darin zu finden, „daß die meisten Menschen so wenig korrekt und so wenig normal“ sind. Um nicht von seinem Ideal abzuweichen, befleißigt er sich nach Kräften einer „ängstlichen Disziplin des Leibes und der Seele“. So war der 25-Jährige denn auch „niemals verliebt gewesen, ja hatte noch nicht einmal einen Rausch gehabt“.

Traugott Wendelins größtes Trachten besteht also darin, selbst so normal wie nur irgend möglich zu sein. Dieses Bestreben macht ihn allerdings gerade zum größten Sonderling von allen, was auch sein früherer Mitschüler Alfons ganz ähnlich sieht, bei dem es sich gewissermaßen um den Counterpart zu Traugott und darum selbst wiederum um einen Sonderling handelt. Wie der Gerichtspräsident kleidet er sich nach seinem eigenen Geschmack, nur lässt er sein Äußeres dabei nicht verwahrlosen. Zwar ist er sich seiner „eigenen Unfähigkeit“, Besonderes zu leisten, ebenso bewusst wie Traugott sich der seinen. Im Unterschied zu diesem, der damit durchaus recht zufrieden lebt, leidet er heftig unter diesem Ungenügen. Und da er sich aufgrund einschlägiger Erfahrungen nicht im Stande sieht, seine „fixe Idee vom reinen Menschtum“ zu verwirklichen, hat er sich schweren Herzens entschlossen, der Gesellschaft, diesem „raffinierten System frecher Heuchelei“, für immer zu entsagen. Doch die Liebe, die bekanntlich so einiges vermag, lässt ihn schließlich der Weltflucht Lebewohl sagen.

In den zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden jungen Männern ergreift die Erzählstimme implizit Partei für den „prinzipiellen Widersacher“ Traugotts und nennt ihn nicht etwa bei seinem ungeliebten Taufnamen Alfons sondern bei dem selbstgewählten Friedrich. Aus Wendelins Gefühls- und Gedankenwelt berichtet sie hingegen meist etwas schalkhaft. Sehr komisch ist sein völlig verunglückter Versuch, in einem empfindsamen Moment „etwas Schwungvolles“ zu sagen.

Die drei zentralen männlichen Figuren des Gerichtspräsidenten, Wendelins und Friedrichs gruppieren sich um Merene, einem „weltfremden schönen Kind“ mit „gedankenvollen Augen“. Die „anziehende weibliche Erscheinung“ der jungen Frau wird durch einen „ergreifenden Zug sinnlicher Schwermut“ nur noch veredelt. In ihr darf man die Identifikationsfigur der Erzählung erblicken. Zumindest für die Leserinnen dürfte Mayreder sie als solche konzipiert haben. Die Leser hingegen mögen ihr Ideal vielleicht eher in Friedrich finden, den die Herausgeberin Tatjana Madeleine Popović im Nachwort so treffend als „liebenswerten Chaot“ charakterisiert.

Immer konform zu gehen, lässt sich aus der Novelle lernen, ist zweifellos weder eine Tugend noch macht es glücklich. Nonkonformismus an sich aber ist weder gut noch schlecht. Es kommt vielmehr darauf an, wie ein Mensch nicht konform mit den Umständen geht.

Mag Mayreder selbst ihre in den frühen 1880er-Jahren entstandene Novelle bereits nach vier Jahrzehnten auch als „befremdlich altmodisch“ abgetan haben, „weil sich die Anschauungen in diesem Zeitraum so sehr geändert haben, daß eine Polemik“ gegen das damalige „bürgerliche Lebensideal“ inzwischen „völlig überflüssig“ sei, so ist es der Herausgeberin doch sehr zu danken, sie im 21. Jahrhundert erneut zugänglich gemacht zu haben.

Titelbild

Rosa Mayreder: Traugott Wendelin. Eine Novelle.
Herausgegeben von Tatjana Popovic.
Books on Demand, Norderstedt 2015.
116 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783734797118

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