Die Rückenschmerzen des Außenministers

Albert Ostermaier begibt sich in „Lenz im Libanon“ auf die Spuren Georg Büchners und huldigt dabei Frank-Walter Steinmeier

Von Philipp JakobRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Jakob

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seiner Erzählung Lenz ließ Georg Büchner einst den gleichnamigen Sturm-und-Drang-Dichter zur literarischen Figur werden. Seitdem erscheint sie immer wieder in den unterschiedlichsten literarischen Kontexten: Etwa bei Peter Schneider im gleichnamigen, heute etwas angestaubt wirkenden Kultbuch der 70er, in dem Lenz als ein linker Intellektueller im Berlin Ende der 1960er Jahre auftritt. Um von den dortigen fruchtlosen und immer gleichen politischen Debatten Abstand zu gewinnen, bleibt diesem nur eine Flucht nach Italien. Oder aber in der eher blassen Erzählung von Gert Hofmann, in welcher der Dichter als verlorener Sohn nach Riga heimkehrt und dort versucht, die Anerkennung seines Vaters wiederzuerlangen.

Albert Ostermaier verfrachtet seinen Lenz nun in den Libanon. Ein Dichter, der unter seinen Angstzuständen und Psychosen, schlechten Kritiken, einem Vaterkonflikt und der Liebe zu einer – ausgerechnet mit einem erfolgreicheren Schriftsteller – verheirateten Frau leidet. Zusätzlich wirkt sich der Einfluss des fremden und stets bedrohlichen Beiruts negativ auf Lenz‘ geistigen Gesundheitszustand aus. Er beginnt zu fantasieren, und die Grenzen zwischen Realität und Fiebertraum verschwimmen langsam. Da mischen sich dann orientalische Märchen, Hölderlin-Zitate, Gotteskrieger-Phantasien und immer wieder Episoden, die direkt aus der Büchnerschen Erzählung entlehnt sind, in die Wahrnehmung des Hauptcharakters.

Den Libanon hat Albert Ostermaier im vergangenen Jahr selbst bereist. Der 47-jährige Schriftsteller begleitete Frank-Walter Steinmeier als Mitglied von dessen Kulturdelegation. Was er auf dieser Reise erlebte, hat deutliche Spuren in seinem Roman hinterlassen. Auch sein Protagonist stößt – allerdings eher zufällig – zum Gefolge eines deutschen Außenministers. Für den Erzähler scheint dieser ein Heiliger mit stressbedingten Rückenschmerzen zu sein. Als er ihn in einem stillen Moment beobachtet, wirkt der Minister im Anbetracht der Zustände „erschöpft, müde trotz seiner Unermüdlichkeit, müde, immer die richtigen Worte wägen und wählen zu müssen, statt nur sein vernünftiges Herz sprechen zu lassen.“

Nie müde, die richtigen Worte wählen zu müssen, scheint dagegen Ostermaier, der rastlos Wortsalve auf Wortsalve auf den Leser niederprasseln lässt. Dass sich das literarische Werk des Schriftstellers nicht nur auf Prosa beschränkt, sondern auch Lyrik-Bände und Theaterstücke enthält, lässt sich deutlich an der gewählten Sprache erkennen. Hier wird keine Chance auf eine Alliteration, Assoziationskette oder andere Wortspielereien ausgelassen. Diese Rastlosigkeit, mit welcher der Erzähler von Wort zu Wort eilt, passt auf der einen Seite zur Unruhe der Hauptfigur und trägt dazu bei, dass im Roman die Grenzen zwischen Realität und Lenz‘ Wahnvorstellungen und Träumen verschwimmen. Auf der anderen Seite wirken viele dieser Wortspiele recht aufgesetzt und gleiten immer wieder in belanglose Floskeln ab. Etwa wenn Lenz in einem Flüchtlingslager beobachtet, wie der Außenminister mit ein paar Kindern herumalbert: „Damit ihnen ein Lachen bleibt, dachte Lenz. Damit nicht jedes Lachen vergeht, damit durch ein Lächeln der Wunsch bleibt, dass der Mensch dem Menschen wieder zum Menschen wird.“

Dieser pathetische Ton findet sich auch in den zahlreichen und endlos langen Monologen, die Lenz‘ Begleiter halten. Der Fotograf Samir und der Fahrer Kassir, die den Schriftsteller auf seiner Reise begleiten, reden gleich, klingen gleich und bleiben daher im ganzen Roman farblos. Zwar schneiden sie aktuelle Themen an, wie die Macht der Bilder, die Live-TV Enthauptungen durch den IS oder die Rolle des Westens in diesem Flüchtlingsdschungel. Doch sind dies im Roman leider nur Versatzstücke, die kein rechtes Bild ergeben wollen. Es fehlt die Auseinandersetzung, vor der sich Lenz in seine Wahnvorstellungen und der Erzähler in Floskeln und oberflächliche Erkenntnisse flüchtet, wie etwa, dass „jeder Einzelne eine Geschichte hat, die erzählt werden muss, die es wert ist, erzählt zu werden.“

Büchner hat es mit seiner Novelle eindrucksvoll geschafft, die Figur des Lenz in ihrer Individualität zu bewahren, ein einfühlsames Bild von den Auswirkungen der Außenwelt auf einen vom Wahn heimgesuchten Menschen darzustellen und gleichzeitig den Dichter zur Stimme seines Fundamentalrealismus werden zu lassen. Dagegen kann Ostermaiers Lenz nicht ankommen. Bei dem Münchener Schriftsteller dient die Darstellung der sprunghaften Wahrnehmung des Dichters eher dazu, sich um Antworten zu drücken, und so kommt die Erzählung nicht über bloße Eindrücke hinaus. Auf keine der großen Fragen, weder zu denen, die die Protagonisten immer wieder anschneiden noch zu denen, die sich durch die Wahl eines solch paradoxen Settings – ein nervlich zerrütteter Schriftsteller in einem vom Krieg zerrütteten Land – direkt ergeben, kann der Erzähler Antworten liefern. Und so vermisst man in diesem Roman bei Lenz zwar nie den Wahn, aber oft die Stimme.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Albert Ostermaier: Lenz im Libanon. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
189 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424742

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