Der hastige Schaufenstereinbruch in die Welt des Primitiven

Im Jahr 1936 zieht Graham Greene zu Fuß quer durch Liberia, ohne Karten, ohne Vorstellung, was ihn erwartet, und ohne Distanz zu dem, was ihm geschieht

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufʼs Eis, wenn es dem Engländer zu gut geht, wird er Katholik und reist ins ferne Westafrika. Eine irrsinnigere Reise, als die, die Graham Greene 1936 unternimmt, kann man sich kaum vorstellen. Aus einem schwer nachvollziehbaren Antrieb heraus macht er sich mit einer Kusine auf den Weg, um von der Westküste Afrikas aus Liberia zu durchqueren.

Greene hat keine Ahnung von Afrika und von den Bedingungen, unter denen eine solche Reise zu absolvieren ist, wie er selber einräumt. Er ist denkbar schlecht vorbereitet und tritt seine Reise zudem mit zu geringen finanziellen Mitteln an. Denn es gehört für einen Europäer ein ganzer Apparat dazu, eine solche Reise einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Träger, die das Gepäck – darunter Reisebetten, Hängematten samt Tragebalken, Klappstühle und -tische, Brot, sonstige Lebensmittel und ein nahezu unbegrenzter Whiskey-Vorrat – und zum Teil die Reisenden zu tragen haben, sind selbstverständlich, müssen aber entlohnt werden. Geschenke müssen mitgenommen werden, mit denen die Gastfreundschaft der Häuptlinge zu entgelten ist, deren Dörfer und Städte der Treck berührt. Überaus hilfreich wären auch Führer, die sich zumindest einigermaßen mit der Route auskennen, die Greene schließlich einschlägt. Sprachkenntnisse könnten auch nicht schaden, immerhin leben die Reisenden wochenlang mit ihren Trägern zusammen, und da wäre eine gemeinsame Sprache, in der man sich verständigen könnte, hilfreich. Auch für die Kommunikation mit den Menschen in den Dörfern und Städten, durch die die Route führt, wäre das von Vorteil. Aber die Träger, die Greene anheuert, sind aus Sierra Leone, dem Nachbarland Liberias, und sind noch nie zuvor die Route gegangen, die Greene einschlagen will. Die Verständigung bleibt die ganze Reise über eine waghalsige Sache.

Selbstverständlich soll es auch eine Route sein, die von der vorgeschriebenen abweicht. Greene will, von Sierra Leone, dem nordwestlichen Nachbarland Liberias kommend, die Nordgrenze entlang schließlich nach Süden abbiegend durch die Zentralprovinz zur Küste wandern. Eine Karte, die dem Reisebuch beigelegt ist, zeigt den Kurs, den Greene am Ende mehr zufällig als geplant eingeschlagen hat, anschaulich.

Denn am Anfang steht nur ein vager Plan, der von Station zu Station, von Übernachtung zu Übernachtung neu überdacht werden muss. Der Treck bricht am frühen Morgen auf, da ein Marsch bei der Tageshitze nahezu unmöglich wäre. Vier Wochen dauert die Reise, bei der rund 360 Kilometer zurückgelegt werden, so wenigstens die Zahlen, die Greene selbst mitteilt. Eine Entfernung, die unter europäischen Verhältnissen mit dem Auto in nur wenigen Stunden absolviert würde. Der Marsch durch den liberianischen Dschungel aber braucht vier ganze Wochen. Greene selbst geht zu Fuß, seine Kusine wird die meiste Zeit getragen.

Die Beschwerlichkeiten der täglichen Märsche, die Hitze, die Angst vor den zahlreichen tödlichen Krankheiten, die einem Europäer drohen, die Parasiten, die sich an ihre Körper heften, quirlige Ratten, die nachts durch die Hütten huschen, übergroße Kakerlaken, die an den Lippen der Schlafenden saugen, gastfreundliche und -unfreundliche Häuptlinge, vereinzelte abgehalfterte Europäer, aufsässige Träger, die Greene immer wieder mit Tricks hinzuhalten versucht, und die schwindenden Mittel sind die Themen, die seinen Bericht dominieren. Greene verfällt nach und nach in einen Marschautomatismus, der eigentlich kein Ziel und nur noch ein Maß hat: anzukommen und die nächste Übernachtung und Verpflegung der Träger zu sichern.

Was Greene von Liberia wahrnimmt, ist kaum mehr als ein „hastiger Schaufenstereinbruch in die Welt des Primitiven“, wie er im ersten Drittel seines Reiseberichts bemerkt, der nun erstmals vollständig auf deutsch erschienen ist. Der bezeichnende Titel: „Reise ohne Landkarten“. Erst nach und nach verfällt er in das, was er den Rhythmus Afrikas nennt: die Nachlässigkeit, die Gelassenheit, aber auch die Selbstvergessenheit, die ein Leben am Existenzminimum nach sich zieht. Aber das bedeutet vor allem, dass er sich Gedanken über den eigenen Zustand macht, und darüber, wie lange er noch aushält, was er begonnen hat.

So ist es fast erstaunlich, dass Greene gegen Ende des Berichts über die Faszination Afrikas reflektiert, die des Primitiven, zu dem der zivilisierte Europäer neigt. Er spricht die „ererbten Verkettungen“ an, die noch den Zivilisierten bestimmen, und er beklagt das, was die Zivilisation den Primitiven angetan habe, deren Zustand er direkt auf die Intervention der entwickelten Gesellschaften zurückführt. Das erinnert nicht zuletzt an die Enttäuschung etwa eines Hermann Hesse, dessen Indien-Reise ein Desaster gewesen ist – was ihn freilich eher noch angespornt hat, sein ideales Gegenland des entfremdeten zivilisierten Lebens zu entwerfen.

Greene jedoch ist reflektierter als Hesse und hat das Glück, die Reise nahezu unbeschadet zu überstehen. Angesichts seines Whiskey-Konsums fürchtet man bestenfalls für seine Leberwerte. Für ihn ist die Rückkehr an die Küste eine Heimkehr, hier, wo ein Leben ohne Furcht möglich ist, ist das, was er sein Zuhause nennt. Was ihn an Afrika am meisten erstaunt habe, sei, „dass es nie wirklich fremdartig gewesen“ sei. Er sucht mithin nicht das Andere der afrikanischen Kultur, sondern eine andere Kultur, in der das Subjekt auf sich selbst, mithin auf seine Körperlichkeit zurückgeworfen ist. Nicht Weisheit, sondern Kreatürlichkeit ist das Maß, an dem er misst.

Erst als all das geklärt ist, bekennt sich Greene zu dem, was er dann doch über Liberia, seine Geschichte und seine Zustände weiß. Er legt den Finger auf die Ursachen all des Elends, die er in der künstlichen Verarmung des Landes durch die Kolonialstaaten sieht. Sicher, er spricht von Primitiven, Weißen und Schwarzen, er führt sich als Kolonialherr auf, weil er keine Alternative sieht, wenn er seine Reise abschließen will. Aber er sieht keine koloniale, natürliche Suprematie, dazu setzt er sich selbst zu sehr seinem persönlichen Erfahrungstrip aus. Der mag nun wieder das Privileg eines Mitglieds einer Kolonialmacht sein. Aber ganz lässt sich dem Teufelskreis von Macht und Unterwerfung, Privileg und Erkenntnis nicht entgehen.

Titelbild

Graham Greene: Reise ohne Landkarten.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Kleeberg.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2015.
364 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783954380411

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